Transkript
Interview
«Sorgfältige Wundreinigung ist entscheidend»
Interview mit Dr. med. Barbara Felix zur Wundversorgung beim diabetischen Fussulkus
Etwa 5 bis 15 Prozent der über 50-jährigen Typ-2-
ARS MEDICI: Welche Rolle spielen ambulante Dienste?
Diabetiker entwickeln ein Fussulkus. Selbst bei optimaler Behandlung dauert es lange, bis diese Wunden abheilen - wenn überhaupt: Fast ein Drittel aller
Felix: Eine sehr grosse, denn wir haben natürlich mittlerweile sehr gut ausgebildete Spitexfachleute. Allerdings gibt es hier häufig noch ein grosses, ungelöstes Problem: Darf die Spitexschwester schneiden oder nicht? Juristisch ist das meines Wis-
Fussulzera heilen nie richtig ab, ein weiteres Drittel sens noch unklar. Ausserdem wäre es wünschenswert, dass
nur nach chirurgischer Intervention. Wir sprachen mit Dr. med. Barbara Felix, Kantonsspital Bruderholz, wie die Wundversorgung bei dia-
die Spitexschwester damit nicht allein gelassen wird. Es wäre gut, wenn sie sich Rat bei einem Wundspezialisten holen könnte. Leider ist das im Moment noch nicht die Regel. Schön wäre es, wenn man sozusagen ein mobiles Wundam-
betischen Fussulzera aussehen sollte.
bulatorium hätte, das einmal vorbeischaut und mit der Spi-
texschwester bespricht, was in den nächsten Wochen zu tun
ist. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Möglicherweise wer-
ARS MEDICI: Im Lauf der Jahre kamen immer neue Wundaufla- den solche mobilen Dienste aber einmal kommen, wenn
gen auf dem Markt. Welche sollte man nun bei diabetischen durch die neu eingeführten DRG die Liegezeiten im Spital
Fussulzera verwenden?
verkürzt werden und Patienten zu Hause intensiver betreut
Dr. med. Barbara Felix: Die Frage nach der Art der Wundauflage werden müssen.
ist zwar wichtig, aber nicht unbedingt die entscheidende. Bei
den Wundauflagen wird zwar viel Geld und Energie inves- ARS MEDICI: Abgesehen von der Wundversorgung, wo liegen
tiert, aber meiner Meinung nach liegen die wirklichen Pro- Ihrer Ansicht nach die grössten Probleme bei der Behandlung
bleme beim diabetischen Fuss anderswo. Man sollte nicht von Patienten mit einem diabetischen Fussulkus?
denken, dass man nur die teuerste Wundauflage zu nehmen Felix: Man muss den Patienten individuell beurteilen und es
braucht, und dann ist alles wunderbar. Eigentlich ist es viel braucht ein gewisses Verständnis der Grunderkrankung. Die
wichtiger, dass man die Wunde sehr, sehr sorgfältig reinigt. Wunde beim diabetischen Fuss ist nicht vergleichbar mit
Wenn man eine belegte Wunde mit der teuersten Wundauf- einer Wunde beim Ulcus cruris oder einer per secundam hei-
lage abdeckt, kann diese ihre Wirkung nicht entfalten. Man lenden Operationswunde. Wir müssen vielmehr diese Wunde
muss wirklich Kürette oder Skalpell in die Hand nehmen.
in ihrer Entstehungsgeschichte verstehen. Nur so können wir
versuchen, die Ursachen, die zur Wunde geführt haben, wie-
ARS MEDICI: Wäre das demnach eher etwas für die Fussambu- der zu beheben. In den meisten Fällen ist das eine Druckbe-
lanzen als für die Hausarztpraxis?
lastung, aber es muss uns auch klar sein, dass in der Hälfte
Felix: Das kommt auf die Interessen des jeweiligen Hausarztes der Fälle eine gestörte Durchblutung vorliegt. Diese dürfen
an. Um ein diabetisches Fussulkus zu behandeln, braucht wir auf keinen Fall ausser Acht lassen. Auch mit der besten
man vor allem Zeit und einen langen Atem. Das Geheimnis Wundauflage und Druckentlastung bekommt man das Pro-
einer erfolgreichen Wundheilung ist das sorgfältige Débride- blem nicht in den Griff, wenn die periphere Durchblutung
ment. Auch wenn die Hausärzte zum Teil sehr geschickt nicht in Ordnung ist.
dabei sind oder sogar eine chirurgische Ausbildung haben,
ARS MEDICI: Und das ist den Hausärzten zu
«Das Geheimnis einer erfolgreichen Wundheilung ist das sorgfältige
wenig bewusst? Felix: Das will ich damit nicht sagen. Ich
Débridement.»
habe schon das Gefühl, dass man sich der
Bedeutung der genannten Punkte grössten-
teils bewusst ist. Sicher ein riesiges Problem
nimmt das sehr viel Zeit in Anspruch. Die meisten erkennen ist aber nach wie vor die Compliance des Patienten. Er ver-
relativ bald, dass es doch ein interdisziplinäres Vorgehen spürt ja keine Schmerzen am Fuss, und wenn der Patient nicht
braucht. Insofern ist es meist sinnvoller, die Wundversorgung versteht, warum er das alles machen muss – Fusspflege,
bei einem diabetischen Fussulkus in einer Fussambulanz Druckentlastung und so weiter –, wird die Compliance nicht
durchzuführen.
lange anhalten.
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«Sorgfältige Wundreinigung ist entscheidend»
Zur Person
ARS MEDICI: Also nimmt man die Wundauflage, mit der man
Dr. med. Barbara Felix ist Leitende Ärztin persönlich die besten Erfahrungen gemacht hat?
Diabetologie an der Medizinischen Universitätsklinik Kantonsspital Bruderholz.
Felix: Ja, das ist so und grundsätzlich auch völlig in Ordnung angesichts der fehlenden Studien. Wir haben allerdings in vie-
len Zentren jetzt gewisse Algorithmen und Standards einge-
führt. Zuvor lagerten in den Schränken zuweilen verschie-
denste Wundauflagen, oft schon jenseits des Verfalldatums,
im Wert von mehreren Tausend Franken. Mit jedem neuen
Wundspezialisten und jeder neuen Pharmareferentin war
wieder ein Schwung irgendwelcher Wunderprodukte ins
Haus gekommen, die andere Kollegen dann nachher doch
nicht nutzen wollten, weil sie sie nicht kannten. Jetzt haben
wir einen roten Faden, welche Wundauflagen benutzt wer-
den. Neue Produkte müssen erst durch ein gewisses Nadel-
öhr, also ein Expertengremium, das darüber befindet, ob man
diese jetzt verwenden will oder nicht.
ARS MEDICI: Was ist nach Ihrer Erfahrung das grösste Com-
plianceproblem?
ARS MEDICI: Sie schrieben vor zehn Jahren, dass bei 42 Prozent
Felix: Ich denke, das Hauptproblem dürfte das Tragen der der Diabetiker noch nie der Fuss untersucht wurde. Läuft das
druckentlastenden Schuhe sein. Das hat aber nicht nur mit heute besser?
Compliance, sondern auch mit Information zu tun. Viele Pa- Felix: Ja, das Bewusstsein für das Problem des diabetischen
tienten denken, dass sie die Schuhe zu Hause nicht tragen Fusses ist erfreulicherweise wirklich gewachsen. Auch wenn
müssen, und sie glauben, Barfusslaufen sei sowieso das Beste. die Patientenzahlen nicht abgenommen haben, so wie wir uns
Man hat einmal in einer Studie gezeigt, dass gut die Hälfte das erhofft hatten, sieht man doch, dass die meisten Patien-
aller Schritte ohne druckentlastendes Schuhwerk gemacht ten nicht mehr erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium
werden. Ein weiteres Problem ist natürlich die Blutzucker- zu uns kommen. Es ist zwar schon so, dass die Wundspezia-
listen eher noch zu spät involviert werden, aber
«Die Wunde beim diabetischen Fuss ist nicht vergleichbar
früher wurde praktisch jeden Monat mindestens ein Patient mit einem gangränösen, nekrotischen
mit einer Wunde beim Ulcus cruris oder einer per secundam
Fuss eingeliefert. Diese Zeiten sind glücklicher-
heilenden Operationswunde.»
weise vorbei. Das ist auch einem verbesserten Screening in der Hausarztpraxis zu verdanken.
Sehr bewährt hat sich die Weiterbildung der Fuss-
einstellung. Hier liesse sich sicher noch etwas verbessern, pflegerinnen und der Spitexangestellten. Wir bekommen fast
damit die Patienten den Zusammenhang zwischen einer die Hälfte unserer Patienten über ihre Hinweise. Wir haben
guten Blutzuckereinstellung und einem Ulkus nicht vergessen. sozusagen viele Spione draussen, die einen Patienten aufspü-
ren – sofern er seine Socken erst einmal ausgezogen hat. Die
ARS MEDICI: Geht denn das Ulkus tatsächlich zurück, wenn der Füsse sind in unserer Kultur ein intimer Körperteil. Man zeigt
Blutzucker näher am Idealwert ist?
Füsse nicht gern her. Wenn Sie Patienten sagen, sie sollen sich
Felix: Es ist wahrscheinlich eher eine flankierende Mass- frei machen, werden alle wenigstens die Socken anbehalten.
nahme. Es ist sicher nicht so, dass das Ulkus plötzlich rasant Ich erlebe es immer wieder, dass Patienten herunter bis zum
abheilt, wenn ein guter Blutzuckerwert erreicht wird. Aber Knie sehr gepflegt sind, die Füsse aber vernachlässigen. Hier
eine erhöhte Blutzuckerkonzentration erhöht zum Beispiel ist sicher auch noch einiges zu tun, um das Bewusstsein für
das Risiko für Infektionen deutlich, und sie erschwert die eine gute Fusspflege zu fördern. Leider wird die Fusspflege
Infektbekämpfung.
für Diabetiker von den Kassen nach wie vor nicht bezahlt.
Das ist bedauerlich, auch wenn man bedenkt, dass teure
ARS MEDICI: Kommen wir noch einmal auf die Wundauflagen Wundauflagen ohne Weiteres übernommen werden. Dabei
zu sprechen. Nach welchen Kriterien wählen Sie die richtige wäre es im Sinne der Prävention diabetischer Fussulzera
für den jeweiligen Patienten aus? Gute Studien dazu gibt es ja sicher sinnvoll, podologische Behandlungen auch für Bevöl-
kaum.
kerungsschichten zugänglich zu machen, für die 80 Franken
Felix: Es ist in der Tat bedauerlich, dass es kaum Studien gibt, pro Monat eben doch viel Geld sind.
die hier wirklich weiterhelfen. Das liegt auch daran, dass das
Problem extrem komplex ist und die Patienten ganz indivi- ARS MEDICI: Sie sagten, die Patientenzahlen hätten nicht abge-
duelle Cluster von Problemen aufweisen. Wenn man Patient nommen. Wie ist das gemeint, und sieht man einen Rückgang
A mit Patient B vergleicht, ist das fast immer wie ein Vergleich der Amputationen?
von Äpfeln mit Birnen. Ein Erfolgsrezept für die Behandlung Felix: Grundsätzlich ist das von Zentrum zu Zentrum und von
bei diabetischem Fussulkus – wenn es das überhaupt gibt – ist Land zu Land sehr unterschiedlich. In Ländern wie England,
und bleibt das individuelle Assessment jedes einzelnen Pa- die Vorreiter in Bezug auf Prävention und Behandlung diabe-
tienten. Weil aber keine Evidenz da ist, herrscht eine babylo- tischer Fussulzera gewesen sind, ist die Amputationsrate
nische Verwirrung, was all diese Wundauflagen anbelangt. nicht zurückgegangen. Aber die Amputationshöhe hat sich
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Interview
verändert. Es gibt jetzt mehr Amputationen am Unterschen- das Risiko mit einer langjährigen Diabetesdauer, das heisst ab
kel und Fuss und weniger weiter oben. Das ist immer noch zirka zehn Jahren. Weiter ist eine schlechte Blutzuckerein-
schlimm genug, zeigt aber, dass die Patienten früher erkannt stellung ein Risikofaktor. Auch bei älteren, unbeweglichen
und behandelt werden. In Regionen rund um sehr kompe- Patienten, die ihre Fusssohlen nicht mehr selbst inspizieren
tente Zentren, wie zum Beispiel in Deutschland im Gebiet um können, sollte man die Füsse regelmässig anschauen. Was oft
Essen oder auch in Magdeburg, sieht man ebenfalls einen vergessen wird, ist die abnehmende Sehkraft im Alter, sodass
Rückgang. Aber weil es immer mehr Diabetiker gibt und die diese Patienten ihre Füsse zwar anschauen, aber buchstäblich
nicht richtig sehen können. Hochrisikopatienten
sind diejenigen mit einer peripheren Neuro-
«Bei Risikopatienten sollten die Füsse mindestens alle drei Monate pathie. Wenn man bei einer Fussuntersuchung ein
kontrolliert werden.»
deutlich verringertes Vibrationsempfinden feststellt, sollte man die Füsse alle drei Monate kon-
trollieren. Das Gleiche gilt für Patienten, die schon
Menschen älter werden, hat die Gesamtzahl der Amputa- einmal ein Ulkus hatten, denn die Rezidivrate liegt in den
tionen nicht abgenommen. Anders gesagt: Das individuelle ersten zwei Jahren bei 50 Prozent. Für die Praxis heisst das,
Risiko für den Diabetiker ist kleiner geworden, aber die bei Hoch-risikopatienten in jeder Konsultation die Füsse zu
Gesamtprävalenz nicht.
untersuchen, mindestens aber alle drei Monate. Dabei sollte
man nicht nur auf Wunden, sondern auch auf Dinge wie ein-
ARS MEDICI: Wie sieht das Risikoprofil eines typischen Patien- gewachsene Fussnägel, Hyperkeratosen, Clavi und so weiter
ten mit diabetischem Fussulkus aus?
achten. Das scheint vielen noch harmlos, aber es wäre gut,
Felix: Obwohl der ältere Typ-2-Diabetiker das Bild vom wenn man die Patienten dann gleich in eine Fussambulanz
diabetischen Ulkus prägt, ist zunächst einmal der Typ-1- schickt, damit es erst gar nicht zu einem Ulkus kommt. ❖
Diabetiker, dessen Diabetes bereits im Kindes- und Jugend-
alter beginnt, für diese mikrovaskulären Komplikationen ARS MEDICI: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
sehr stark gefährdet. Wenn wir uns nun den Typ-2-Diabe-
tiker näher anschauen, dann wächst natürlich auch bei ihm Die Fragen stellte Renate Bonifer.
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