Transkript
Editorial
Man kann über den Sinn und Nutzen mancher Krebs-«Vorsorgeuntersuchung» gewiss trefflich streiten. Nicht jede hält aufs Ganze gesehen, was sie verspricht. Einigkeit dürfte aber darüber bestehen, dass Krebsfrüherkennung vollends unsinnig ist bei Menschen, deren Leben durch eine bestehende schwere Krankheit ihrem baldigen Ende entgegengeht. Umso verstörender ist, was US-amerikanische Onkologen nun in einer grossen Studie ans Licht gebracht haben: Selbst bei Menschen mit einem fortgeschrittenen Krebsleiden und einer Lebenserwartung von nicht mehr als zwei Jahren, werden häufig noch Krebs-Früherkennungsuntersuchun-
Wenig schmeichelhaft erscheinen die Ergebnisse für die betreuenden Ärzte: Könnte es sein, dass Hausärzte und Onkologen das offene Gespräch mit ihren Patienten scheuen? Versäumen sie es, den Krebskranken mitzuteilen, dass angesichts der eingeschränkten Lebenserwartung eine Krebs-
Vorsorge — bis zum letzten Atemzug
gen durchgeführt. Im Rahmen der Studie hatten Camelia Sima und ihre Mitarbeiterinnen vom Memorial-Sloan-Kettering-Krebs-Zentrum in New York Krankenkassendaten von 87 000 Patienten im Alter über 65 Jahre ausgewertet (JAMA 2010; 304: 1584–1591). Sie litten an fortgeschrittenem Lungenkrebs, Dickdarmkrebs, Brustkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs oder an gastroösophagealen Tumoren. 9 Prozent der schwer krebskranken Frauen unterzogen sich einem MammografieScreening. Ein Pap-Abstrich wurde bei 5,8 Prozent entnommen. Bei 15 Prozent der Männer fand ein PSA-Screening auf Prostatakrebs statt, 1,7 Prozent liessen noch eine Darmspiegelung vornehmen. Damit beträgt die Teilnahmerate bei diesen Schwerkranken 30 bis 50 Prozent, verglichen mit gleichaltrigen Gesunden. Patienten, die zuvor schon regelmässig «zur Vorsorge» gingen, folgten in noch weit höherem Masse ihrer «tief eingegrabenen Gewohnheit» – gewissermassen wie «auf Autopilot» gestellt, schreiben die Autoren.
früherkennung nutzlos ist, ja unter Umständen zusätzlich belastend? Ein solch offenes Gespräch gehört gewiss zum Schwierigsten, es darf aber nicht grundsätzlich unterbleiben, auch wenn der Gedanke an die Zukunft eines Schwerstkranken ein Minimum an therapeutischem Optimismus einschliesst. Vielleicht sind Ärzte manchmal ja auch schlicht Opfer eingeschliffener Praxisroutine. Ein nachgerade absurdes Beispiel dafür liess (ebenfalls in den USA) vor wenigen Jahren aufhorchen (JAMA 2004; 291: 2990–2993): Von 22 Millionen Frauen, denen operativ die Gebärmutter entfernt worden war, wurde später noch bei 10 Millionen ein PapAbstrich entnommen. Es gibt also auch die Vorsorge am nicht vorhandenen Organ.
Uwe Beise
ARS MEDICI 21 ■ 2010 833