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BERICHT
Patientenversorgung in den USA: Kein Vorbild für die Schweiz
Integrierte Versorgung ein Ausweg aus der Misere?
Der Hauptteil der US-amerikanischen Patientenversorgung erfolgt nach wie vor über kleine Arztpraxen. Neuere Studien offenbaren jedoch, dass die ärztliche Versorgung im internationalen Vergleich in einem bemerkenswert schlechten Zustand ist. Dabei zeigen bekannte integrierte Gesundheitssysteme wie Kaiser Permanente und Geisinger Health System, dass über gut organisierte Ärztenetze eine qualitativ hochwertige und kosteneffektive Versorgung möglich ist. Professor Thomas Bodenheimer von der University of California machte jedoch deutlich, dass auch in integrierten Systemen die Grundversorger eine zentrale Rolle spielen.
KLAUS DUFFNER
Die Landkarte der US-amerikanischen Gesundheitsversorgung ist sehr bunt. Kleine und mittelgrosse private Praxen decken einerseits die Grundversorgung und andererseits die fachärztlichen Bedürfnisse der Patienten ab. Menschen
Apotheken. Auch Spitäler und Pflegedienste sind häufig daran angeschlossen. Aus einer Statistik von 2006 geht hervor, dass 32 Prozent der Grundversorger in Einzelpraxen, 14 Prozent in Zweierpraxen, 32 Prozent in Praxen mit 3 bis 5 und 15 Prozent mit 6 bis 10 Ärzten arbeiten.
«Nur 7 Prozent der Medizinstudenten in den USA wollen Grundversorger werden.»
mit niedrigem Einkommen werden in der Regel in öffentlichen Gesundheitszentren behandelt – immerhin leben 45 Millionen US-Amerikaner ohne Krankenversicherung. Die «Hospital Outpatient Departments» und die «Integrated Care Systems» sind weitere Stützen der medizinischen Versorgung in den USA. Letztere bestehen aus vielfach spezialisierten Gruppenpraxen mit Laboren, modernen Diagnosetechniken oder
Grundversorger als eine wichtige Stütze … Warum ist «Primary Care» so wichtig? Patienten, die in Primary-Care-orientierten Modellen versorgt werden, nehmen eher die empfohlenen Präventionsmassnahmen in Anspruch, zeigen ein hohes Mass an Compliance und sind zufrieden mit ihrer Versorgung, betonte Dr. med. Thomas Bodenheimer, Professor für Familien- und Allgemeinmedizin von
6. Schweizerischer Kongress für Gesundheitsökonomie
und Gesundheitswissenschaften in Bern (SKGG)
der University of California/San Francisco. Zudem wurde festgestellt, dass in Regionen mit vielen Allgemeinpraktikern und weniger Spezialisten die Gesundheitskosten relativ niedriger sind. Und: Nicht nur die Kosten, auch die Qualität der Behandlung wurde laut einer Studie aus dem Jahr 2004 in Gebieten mit vielen Hausärzten höher bewertet als in Gegenden mit relativ hoher Facharztdichte. Entscheidend für das Funktionieren der Grundversorgung sind die «vier C’s» der Behandlung: First Contact care (Erstbehandlung), Continuity of care (Kontinuität), Comprehensive care (umfassende Behandlung), Coordination of care (Koordination). Dazu kommen noch die Patientenbezogenheit, moderne Kommunikationsmittel, eine hohe Qualität und kontrollierte Kosten. Kurz: Die Grundversorger sind eine wichtige Stütze des US-Gesundheitssystems.
…aber als Beruf unattraktiv Wie sieht jedoch – in Anbetracht solcher wichtiger Funktionen – die Realität heute aus? Dazu einige Fakten: ■ Nur 7 Prozent der Medizinstudenten
in den USA wollen Grundversorger werden. ■ 28 Prozent der älteren Menschen hatten 2008 Schwierigkeiten, einen Grundversorger zu finden (17% mehr als 2006). ■ Im Bundesstaat Massachusetts betrug 2006 die durchschnittliche Wartezeit,
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PATIENTENVERSORGUNG IN DEN USA: KEIN VORBILD FÜR DIE SCHWEIZ
um von einem internistischen Erstversorger behandelt zu werden, 33 Tage und 2008 bereits 50 Tage.
«Diese Zahlen sind wirklich ein Desaster», sagte Professor Bodenheimer. Warum ist das so? Während das durchschnittliche Einkommen eines Spezialisten 2004 bei 297 000 Dollar lag, musste ein amerikanischer Allgemeinarzt mit durchschnittlich 162 000 Dollar auskommen. Zudem ging diese Schere in den vergangenen Jahren immer weiter auseinander. «Diese enorme Lücke ist sicher einer der Gründe, warum die Medizinstudenten keine Lust mehr haben, Hausarzt zu werden, und fast alle eine Karriere als Facharzt anstreben», warnte der kalifornische Experte. Dazu kommt, dass von vielen Studenten unterstellt wird, dass Grundversorger prinzipiell gestresst und unglücklich seien. Entsprechend eindeutig fiel das Urteil des «American College of Physicians» im Jahr 2006 aus: «Primary care, das Rückgrat der amerikanischen Gesundheitsversorgung, ist stark gefährdet, zu kollabieren.» Dieser Meinung schloss sich auch Professor Bodenheimer an: «Wenn wir die Situation der Grundversorger nicht ändern, werden die Patienten in den USA in Zukunft enorme Probleme haben.»
Unterschiedliche integrierte Systeme Können integrierte Versorgungssysteme einen Ausweg zeigen? In den USA existieren eine ganze Reihe von Modellen zur integrierten Versorgung, darunter
Professor Thomas Bodenheimer
bindung stehen. Kennzeichen eines integrierten Systems sind beispielsweise der problemlose Wechsel von einer «Service Unit» in eine andere, dass Ärzte innerhalb von zwei Tagen Nachricht erhalten, wenn ihre Patienten in einer anderen Einheit der Organisation behandelt wurden, dass Behandlungsprotokolle existieren und diese auch für die Ärzte leicht einsehbar sind oder dass die Qualität der Behandlungen messbar ist und quer durch die Abteilungen darüber diskutiert wird. Dabei bestehen zwischen den einzelnen integrierten Systemen durchaus Abstufungen bezüglich ihres «Integrationsgrades». Diese Bandbreite reicht von losen Zusammenschlüssen kleinerer Gruppen, Netz-
«Wenn wir die Situation der Grundversorger nicht ändern, werden die Patienten in den USA in Zukunft enorme Probleme haben.»
die beiden bekanntesten «Kaiser Permanente» und «Geisinger Health System», aber auch die «Cleveland Clinic», das «Henry Ford Health System», die «Marshfield Clinic», «Health Partners» und andere. Daneben existieren «virtuelle integrierte Systeme», deren einzelne Organisationen zwar unabhängig sind, jedoch über Verträge miteinander in Ver-
werke oder Spitäler bis zu voll integrierten Systemen wie Kaiser Permanente oder Geisinger.
Grundsalär und Boni In «Geisinger» sind derzeit 3 Spitäler sowie 740 Ärzte (davon 200 Grundversorger) integriert. Diese Ärzte verteilen sich auf 43 zumeist ländliche Counties (ent-
spricht etwa dem Schweizer Bezirk) in Pennsylvania. Dort haben sie eine im Vergleich zum US-Durchschnitt ältere und kränkere Population zu versorgen. Den beteiligten Medizinern wird ein Grundsalär bezahlt sowie ein 15- bis
«Die Menschen haben in
kleinen, nicht integrierten
Praxen häufig enorme Pro-
bleme, überhaupt Zugang
zu einer Behandlung zu
finden.»
20-prozentiger Bonus zugestanden, der von der Qualität ihrer Arbeit, der Zufriedenheit der Patienten sowie ihrer Kosteneffektivität abhängig ist. Multimorbiden Patienten wird eine Krankenschwester als «Care-Managerin» zur Seite gestellt. Dies soll eine intensive Betreuung gewährleisten und zum Beispiel unnötige Notfallmassnahmen vermeiden helfen. Bei dem wesentlich grösseren «Kaiser Permanente», das seine Wirkungsstätte eher im westlichen Teil der USA hat, sind 8,6 Millionen Patienten (allein 6,5 in Kalifornien) und 14 600 Ärzte involviert. Das Kaiser-Modell ist ein vollkommen integriertes System mit eigener Gesundheitsversicherung, Spitälern und permanenten Ärzteteams. Solche Ärzte stehen, laut Professor Bodenheimer, in einer «monogamen Ehe» mit dem System. Das heisst, dass sie – mit sehr wenigen Ausnahmen – exklusiv zum Beispiel an die eigenen Spitäler gebunden sind. Typisch für Kaiser ist eine Intensivierung von «e-mail-visits» in den vergangenen Jahren. Bei solchen elektronischen Betreuungen werden zum Beispiel auch Medikationen angepasst. «Viele Teilnehmer mögen diese Form der Betreuung, es spart den Ärzten, dem System und den Patienten viel Zeit», so Professor Bodenheimer. Wie bei Geisinger werden zusätzlich zum Gehalt auch bei Kaiser leistungsabhängige Boni ausbezahlt. Im Gegensatz zu Geisinger und Kaiser ist «Hill Physicians» ein weniger integriertes System. Es handelt sich dabei
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um einen Zusammenschluss von 30 Spitälern, 800 Grundversorgern und 1400 Fachärzten, mit einer Betreuung von insgesamt 332 000 Patienten. Bislang werden diese Ärzte nicht von Hill angestellt, allerdings existieren Pläne von Versicherungen, die ambulant tätigen Ärzte in ein reguläres Arbeitsverhältnis zu stellen. Auch bei Hill werden die Ärzte von einer «straffen Führung» geleitet und per Computer elektronisch zusammengeführt. Wichtig ist auch hier die Bewertung der Behandlungsqualität. Bei guter Leistung (hohe Qualität, niedrige Kosten, Verbesserung des Systems) werden zum Teil ausserordentlich hohe Boni ausbezahlt (im Schnitt 80 000 Dollar/Praxis/Jahr!).
zent der Patienten im Geisinger-System und auch die meisten Kranken bei «Health Partners» einen Arzttermin bereits am nächsten Tag. Ähnlich schlecht, so der amerikanische Experte, sehe es bei der termingerechten Zustellung von Testresultaten oder bei doppelt durchgeführten und daher oft überflüssigen medizinischen Tests aus. Was etwas verwundert, ist die sehr geringe Computer-Vernetzung der amerikanischen Hausärzte. Nur 28 Prozent waren mit elektronischen Gesundheitssystemen verbunden. Dagegen hatten die Kollegen aus Holland zu 98 Prozent und aus Grossbritannien zu 89 Prozent eine solche Verbindung (Deutschland 42%). Auch hier hatten die amerika-
«Integrierte Systeme verursachen im Vergleich zu kleinen Praxen nicht nur weniger Kosten, sondern bieten auch einen besseren Zugang zur Versorgung sowie eine bessere Koordination und höhere Qualität der Behandlung.»
Schlechtes Zeugnis für die kleinen Praxen Trotz solcher bekannten Beispiele: Der grösste Teil der Patientenversorgung erfolgt in den USA über kleine und nicht integrierte Praxen. Und das hat Konsequenzen: In einer im Jahr 2008 veröffentlichten vergleichenden Studie gaben nur 46 Prozent der befragten Kranken an, am gleichen oder am nächsten Tag einen Termin beim Arzt bekommen zu haben (Neuseeland 74%, Holland 69%, UK 57%). Gleichzeitig hatten 73 Prozent der befragten Kranken Schwierigkeiten, in der Nacht und an Wochenenden einen Arzt zu finden (Holland 48%, Neuseeland 49%). Oder: 21 Prozent der amerikanischen Patienten in den Notaufnahmen hätten genauso gut vom Hausarzt behandelt werden können (Deutschland 6%, Holland 8%, England 11%). «Die Menschen haben in kleinen Praxen häufig enorme Probleme, überhaupt Zugang zu einer Behandlung zu finden», so das Urteil von Professor Bodenheimer. Dagegen bekamen 84 Pro-
nischen integrierten Systeme mit 87 Prozent Anbindung wesentlich bessere Werte. Sie waren im Übrigen auch deutlich häufiger per E-mail mit ihren Patienten beziehungsweise mit den Fachärzten verbunden.
Besserer Zugang und höhere Qualität Integrierte Systeme würden zudem eine deutlich höhere Behandlungsqualität als kleinere, weniger vernetzte Praxen gewährleisten, betonte Professor Bodenheimer. Dies wurde in einer 2006 veröffentlichten Arbeit bestätigt. Demnach seien in integrierten Systemen die Immunisierungsraten der Patienten, das Screening hinsichtlich frauenspezifischer Erkrankungen sowie das Screening von Herzkrankheiten und Diabetes besser als in nichtintegrierten Praxen. Beispielsweise zeigten Daten aus Kalifornien, dass erhöhte LDL-Spiegel oder Clamydienbefall bei Patienten und Patientinnen im Kaiser-System viel weniger häufig auftraten als in Einzelpraxen.
Und die Kosten? In einer 2007 publizierten Untersuchung wurden die Gesundheitskosten von über 65-jährigen Patienten der vorvergangenen zwei Jahre berechnet. Es zeigte sich, dass integrierte Systeme weniger Hospitalisationstage als US-Durchschnittspatienten aufwiesen. Die totalen Spitalkosten waren um 2 Prozent und die Arztkosten sogar um 24 Prozent niedriger. Bei «HealthPartners» in Minnesota stieg zum Beispiel der Anteil der Diabetes-kontrollierten Patienten – gleichzeitig fielen die Gesamtkosten im Vergleich zum US-Durchschnitt. Insgesamt, so das Fazit von Professor Bodenheimer, würden grosse Einheiten gegenüber kleinen Praxen nicht nur weniger Kosten verursachen, sondern auch einen besseren Zugang zur Versorgung sowie eine bessere Koordination und höhere Qualität der Behandlung bieten. Dabei sei zu beachten, dass auch integrierte Gesundheitssysteme eine starke Basis innerhalb der Grundversorgung besitzen. «Es existiert daher kein Widerspruch zwischen der integrierten Versorgung und der Grundversorgung.»
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Klaus Duffner
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