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BERICHT
Akuttherapie der Depression
Neue schweizerische Behandlungsempfehlungen
Die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) hat zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) und in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) erstmals Behandlungsempfehlungen zur Akut- und Langzeittherapie der Depression herausgegeben. Hier werden die für die Praxis wichtigen Entscheidungshilfen zur Akuttherapie vorgestellt.
1st Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD)
26. August 2010 in Zürich
vorstellungen des seinerzeit bahnbrechenden US-amerikanischen Psychiaters David J. Kupfer zugrunde, die für depressive Störungen umschriebene Therapieziele zur Modifikation des Verlaufs vorgeben (Abbildung 1).
HALID BAS
«Wir haben bewusst den Namen Behandlungsempfehlungen gewählt und nicht Leitlinien, da dieser Begriff in der Schweiz als zu einengend im Sinne von Richtlinien empfunden wird», stellte Frau Professor Edith Holsboer-Trachsler von den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel einleitend klar. Das in Kürze zu publizierende Dokument «Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen» soll als Entscheidungshilfe verstanden werden und ist Ergebnis langjähriger Diskussionen über Sinn und Zweck einer solchen Wegleitung sowie Frucht einer bemerkenswerten Zusammenarbeit in der Schweiz tätiger Experten. Diese haben sich für die «Schweizer Behandlungsempfehlungen 2010» auf die Internationalen Leitlinien der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) 2008 und die Nationale Versorgungsleitlinie (S3) der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2009 gestützt. Die Arbeitsgruppe nahm jedoch eine eigene Einschätzung der
Evidenzlage (anhand der gängigen Evidenzgrade A bis E) vor, achtete auf ethische Verpflichtung und klinische Relevanz sowie auf die praktische Anwendbarkeit der Empfehlungen, ebenso wie auf Patientenpräferenz und Umsetzbarkeit, wie Frau Professor HolsboerTrachsler betonte. Medikamente, die in der Schweiz gar nicht zugelassen sind, wurden nicht berücksichtigt. Heute liegen den somatisch orientierten Behandlungsempfehlungen die Modell-
Psychosoziale und berufliche Funktion wiederherstellen In der akuten Behandlungsphase einer Depression ist das Erreichen einer Remission das Therapieziel. «Zur Remission gehört ausdrücklich auch die Wiederherstellung der psychosozialen beziehungsweise beruflichen Funktion und nicht nur eine psychopathologische Besserung», betonte die Referentin. Mittelfristige Ziele sind die Elimination von Residualsymptomen, die Rehabilitation auf das frühere Niveau und die Rückfallverhütung.
Gesundheit
Remission
Vollständige stabile Remission
Entwicklung der Krankheit
Symptome Syndrom
Krankheit
Therapeutisches Ansprechen
Rückfall 3—6 Monate
Rezidiv Monate/Jahre
Behandlungsabschnitte
Akuttherapie (6—12 Wochen)
Erhaltungstherapie Prophylaktische
(4—9 Monate)
Therapie (ab 1 Jahr)
Abbildung 1: Modell des typischen Verlaufs einer depressiven Störung und deren Behandlung (modifiziert nach Kupfer 1991)
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AKUTTHERAPIE DER DEPRESSION
Leichte Depression? Ja
Aufklärung/Psychoedukation
Mittelgradige/schwere Depression? Ja
Aufklärung/Psychoedukation
Partizipative Entscheidung Ja
Aktiv abwartende Begleitung (14 Tage)
Partizipative Entscheidung Ja
Anhaltende/verschlechterte Symptomatik?
Ja
Psychotherapie ODER
Pharmakotherapie
Monitoring (1×/W.) klinische Wirkungsprüfung nach 3—4 Wochen
Psychotherapie ODER/UND
Pharmakotherapie
Besserung > 50% Ja
Fortsetzen der Therapie
Monitoring alle 2—4 Wochen Ab dem 3. Monat > 4 Wochen
Besserung < 50% Ja Therapieanpassung/ Ergänzung (Augmentation) Monitoring alle 1—2 Wochen Wirkungsprüfung nach 3—4 Wochen Abbildung 2: Algorithmus zur Therapie depressiver Störungen in den Schweizer Behandlungsempfehlungen 2010 Zur umfassenden Depressionsbehandlung gehört als langfristiges Ziel die Prophylaxe erneuter depressiver Episoden (Abbildung 1). Bei der Wahl der geeigneten Behandlungsalternative soll man sich nach der Schwere der Symptome, dem Erkrankungsverlauf sowie der Patientenpräferenz richten. Die Behandlungsempfehlungen nennen vier primäre Strategien: ■ aktiv-abwartende Begleitung ■ Medikamente ■ Psychotherapie ■ Kombination von Pharmako- und Psychotherapie. In der Akutbehandlung ist zwischen einer leichten sowie einer mittelgradig oder schweren depressiven Episode zu unterscheiden (Abbildung 2). Vorgehen bei leichter depressiver Episode Bei einer leichten depressiven Erkrankung ist die aktiv-abwartende Beglei- tung (watchful waiting) ausdrücklich als Option erwähnt. Bei Verschlechterung sollte aber spätestens nach 14 Tagen eine spezifische Therapie begonnen werden. Diese kann medikamentös oder psychotherapeutisch sein. «Diese Empfehlung trägt der Tatsache Rechnung, dass es bei leichten Depressionen für eine Überlegenheit der Pharmako- über die Psychotherapie keine Evidenz gibt», sagte Frau Professor Holsboer. «Bei leichten Depressionen scheinen Medikamente häufig nicht zu wirken», so die Referentin. «Sehr wichtig ist in jedem Fall die Aufklärung und Psychoedukation, um die Patientin oder den Patienten als Partner auf dem weiteren Weg zu gewinnen.» Zur Erstbehandlung bei leichten Depressionen werden Antidepressiva nicht generell empfohlen, denn es hat eine individuelle Abwägung zwischen Nutzen und Risiken zu erfolgen. Beim Einsatz von Antidepressiva ist dem Wunsch oder der Präferenz des Patienten Rech- nung zu tragen. Für Antidepressiva sprechen positive Erfahrungen des Patienten mit gutem Ansprechen in der Vergangenheit, das Fortbestehen von Symptomen nach anderen Interventionen sowie mittelgradige oder schwere depressive Episode(n) in der Vorgeschichte. «Die Psychotherapie ist bei leichter und mittelschwerer Episode ein angemessenes Angebot», präzisierte die Basler Psychiaterin. Unter den geeigneten Psychotherapien erwähnte sie die kognitive Verhaltenstherapie, die interpersonelle Psychotherapie sowie psychodynamische Kurztherapien. Vorgehen bei mittelgradiger und schwerer depressiver Episode Bei akuter mittelgradiger depressiver Episode soll ein Antidepressivum angeboten werden. Eine Psychotherapie ist aber eine Alternative (Abbildung 2). Demgegenüber ist bei der akuten schweren Depression eine Kombinationsbehandlung aus Psycho- und Pharmakotherapie ARS MEDICI 21 ■ 2010 847 BERICHT Teil- oder kein Ansprechen auf eine 2- bis 4-wöchige Behandlung mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung Optimierung der Behandlung (Dosiserhöhung) Kombination zweier Antidepressiva verschiedener Klassen Augmentationsstrategien 1. Wahl: Lithium Andere: atypische Antipsychotika, Schilddrüsenhormon (T3) Wechsel zu einem neuen Antidepressivum einer anderen oder derselben pharmakologischen Klasse Angemessene zusätzliche Psychotherapie zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung Erwägen einer EKT zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung EKT = Elektrokrampftherapie Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten bei nur Teil- oder fehlendem Ansprechen auf die anfängliche Behandlung mit einem Antidepressivum das empfehlenswerte Vorgehen. Bei psychotischer Depression soll in jedem Fall eine medikamentöse Behandlung erfolgen. Die neuen Behandlungsempfehlungen halten bemerkenswerterweise fest, dass bei leichten und mittelgradigen Episoden bei Beachtung der spezifischen Nebenwirkungen und Interaktionen ein erster Therapieversuch mit einem Johanniskrautpräparat unternommen werden kann. Auch bei der Auswahl von anderen Antidepressiva ist den individuellen Aspekten Rechung zu tragen. So haben trizyklische Antidepressiva (TZA) und neue Antidepressiva (neue AD) unterschiedliche Nebenwirkungsprofile. Bei den TZA ist wegen der geringen Überdosierungssicherheit (Suizid) Vorsicht geboten. Anhaltspunkte ergeben sich aus der früheren Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Präparats. Auch die individuelle Erfahrung des Arztes mit einzelnen Antidepressiva spielt eine Rolle. Schliesslich sind Komorbiditäten sowie höheres Alter, begleitende Zwangsstörung und Komedikationen und Patien- tenpräferenzen (individuelle Gewichtung von Wirkung und Nebenwirkungen) wichtig. Kein adäquates Ansprechen auf Pharmakotherapie: wie weiter? «Beim Hausarzt darf bei 60 bis 80 Prozent der Patienten mit einer Remission oder Response gerechnet werden, beim Psychiater, der die schwereren Fälle sieht, bei 40 bis 60 Prozent», stellte Frau Professor Holsboer-Trachsler fest. Eine ungenügende Therapieantwort ergibt sich insgesamt bei 30 bis 50 Prozent der Patienten, ist also ein häufiges Ereignis. Gründe für ein Nichtansprechen auf die medikamentöse Behandlung sind: ■ falsche oder unvollständige Diagnose ■ übersehene Komorbiditäten ■ nicht adäquate Durchführung der Therapie ■ Complianceprobleme ■ Interaktionen, Pharmakogenetik. Rund 10 Prozent der Kaukasier metabolisieren das Cyp2D6-Enzym «schlecht» oder «exzessiv». In einer Studie mit Fluoxetin zeigte sich beispielsweise, dass nach 6-wöchiger Nonresponse 41 Prozent der Nonresponder nach 12 Wochen dennoch remittierten. Auch für Sertralin ist ein verzögerter Eintritt der erwünschten Wirkung in einer Studie dokumentiert worden. Ein Wechsel des Antidepressivums ist in mehr als der Hälfte der Fälle bei Therapieresistenz hilfreich (Evidenzgrad B). «Demgegenüber gibt es wenig Evidenz bezüglich der Wahl des zweiten Antidepressivums», stellte die Referentin fest. Für die Wirksamkeit einer Kombinationstherapie gibt es keine überzeugende Evidenz (Grad C) und keine klinischen Richtlinien. Für die verschiedenen Augmentationsstrategien (Abbildung 3) fanden die Autoren der Behandlungsempfehlungen sehr gute Evidenz (Lithium, Atypika wie Olanzapin oder Aripiprazol, kognitive Verhaltenstherapie, serieller Schlafentzug, Elektrokrampftherapie [EKT]: Grad A; Schilddrüsenhormone: Grad B). ■ Halid Bas 848 ARS MEDICI 21 ■ 2010