Transkript
Ungewöhnliche Blutungsneigung
Liegts an der Gerinnung?
FORTBILDUNG
Der Allgemeinarzt wird häufig mit dem Problem kon-
frontiert, dass Patienten über eine neu aufgetretene
oder schon länger bestehende Neigung zu Blutungen
berichten. Diese kann sich in Form von Hämatomen,
Hypermenorrhö, Epistaxis oder verstärkten Blutungen
bei Verletzungen äussern. Bei der Abklärung geht es
nicht nur um die Ursachenforschung, sondern auch
um die Prävention zukünftiger Blutungen. Spätestens
vor einer geplanten Operation sollte eine differen-
zierte Diagnostik erfolgen.
CARL-ERIK DEMPFLE
Sehr unterschiedlich ist das subjektive Empfinden einer Blutungsneigung. Häufig zeigt sich bei Patienten, die über «ständige» Hämatome klagen, bei der körperlichen Untersuchung kein einziges Hämatom. Geringe Blutspuren beim Naseputzen werden als häufiges Nasenbluten interpretiert. Andererseits finden sich auch immer wieder Patienten mit schwerer Blutungsneigung, die ihre zahlreichen Hämatome oder mehrfach pro Woche auftretendes und lang anhaltendes Nasenbluten als völlig normal empfinden.
Zuerst nach der Blutungsquelle suchen Bei Hämaturie, gastrointestinalen Blutungen oder Hämoptysen sollte primär nach der Blutungsquelle gesucht werden, unter Einschluss geeigneter endoskopischer und bildgebender Diagnostik. Eine Blutungsneigung oder eine gerinnungshemmende Therapie wird das Auftreten solcher Blutungen zwar fördern, ist aber in den meisten Fällen nicht die eigentliche Ursache. Abnorm starke Blutungen oder rezidivierende Blutungen können jedoch ein guter Grund für eine weitergehende hämostaseologische Diagnostik sein. Treten Hämatome streng lokalisiert auf (beispielsweise nur an den Unterschenkeln, nur an den Unterarmen oder, noch ein-
deutiger, nur an einer Extremität), ist eine Blutungsneigung als Ursache sehr unwahrscheinlich. Auch streng einseitig auftretendes Nasenbluten ist meist nicht durch eine Blutungsneigung bedingt. Eine Blutungsneigung ist hingegen bei den in Tabelle 1 genannten Symptomen wahrscheinlich. In vielen Fällen findet sich bei der Diagnostik dann ein VonWillebrand-Syndrom oder ein Mangel an Gerinnungsfaktor VII, VIII, IX oder XI, eine angeborene oder erworbene Thrombozytopenie oder eine Thrombozytenfunktionsstörung. Das Von-Willebrand-Syndrom ist die häufigste angeborene Gerinnungsstörung und wird häufig nicht erkannt, da der Von-Willebrand-Faktor die routinemässig durchgeführten Gerinnungstests nicht beeinflusst.
Medikamente als Auslöser Die häufigste Ursache für eine vom Patienten beklagte Blutungsneigung insgesamt ist allerdings eine gerinnungshemmende Therapie. Dabei können Auslöser entweder Hemmstoffe der plasmatischen Gerinnung oder der Thrombozytenfunktion sein oder Medikamente mit gerinnungs- oder thrombozytenhemmender Wirkung als (nicht beabsichtigter) Nebenwirkung. Dazu gehören zum Beispiel Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Diclofenac. Penizilline und Cephalosporine verursachen nicht selten Thrombozytenfunktionsstörungen und Thrombozytopenien. Valproinsäure und Ciprofloxacin können Thrombozytopenien, Faktor-XIII-Mangel oder ein erworbenes Von-Willebrand-Syndrom auslösen. Häufig treten auch bei sonst gut eingestellter gerinnungshemmender Therapie Blutungskomplikationen auf, wenn neue Medikamente hinzukommen, die entweder die Wirkung der gerinnungshemmenden Medikamente verstärken (beispielsweise durch Verdrängung aus der Plasmaproteinbindung
Merksätze
■ Bei gestörter Fettresorption, Rechtsherzinsuffizienz, Cholestase und Diarrhö ist oral gegebenes Vitamin K unwirksam.
■ Normale Ergebnisse bei Prothrombinzeit und aPTT sowie normale Thrombozytenzahlen schliessen eine Gerinnungsstörung nicht aus.
ARS MEDICI 17 ■ 2010 689
FORTBILDUNG
Tabelle 1: Eine Blutungsneigung Tabelle 1: ist wahrscheinlich bei
■ generalisierten Hämatomen ■ mehrfach pro Monat auftretendem Nasenbluten wechselnder
Seitenlokalisation und von jeweils mehr als fünf Minuten Dauer ■ generalisierten petechialen Blutungen ■ Gelenkblutungen ■ mehrfach aufgetretenen starken Blutungen bei kleinen Verlet-
zungen, kleinen Operationen oder zahnärztlichen Behandlungen ■ Hypermenorrhö mit Eisenmangelanämie ■ gleichzeitig auftretenden Blutungen unterschiedlicher Loka-
lisation, beispielsweise multiple Hämatome plus Nasenbluten ■ Blutungsanamnese plus Familienanamnese für eine Blutungs-
neigung
bei Therapie mit Metronidazol, Allopurinol oder Amiodaron) oder selbst eine gerinnungs- oder thrombozytenhemmende Wirkung haben. Häufig sind Schmerzmittel oder Antibiotika die Auslöser dieser Blutungen. Aber auch Gingkopräparate, Johanniskraut oder diverse Enzympräparate führen nicht selten zu einer Verstärkung der Gerinnungshemmung.
Nieren- und Leberfunktion beachten! Hinter Blutungen bei laufender gerinnungshemmender Therapie stecken nicht selten auch Störungen der Nieren- oder Leberfunktion. Zahlreiche gerinnungshemmende Medikamente, wie beispielsweise die niedermolekularen Heparine, Fondaparinux oder Dabigatran, werden vorwiegend renal eliminiert. Bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen sind daher eine Dosisanpassung und eine Dosiskontrolle durch geeignete Labortests erforderlich. Bei abnorm starken Blutungen unter Therapie mit niedermolekularen Heparinen oder Fondaparinux sollten immer die Nierenfunktionsparameter und der Anti-Faktor-Xa-Spiegel kontrolliert werden. Bei Störungen der Leberfunktion werden hepatogene Gerinnungsfaktoren vermindert gebildet, sodass ebenfalls die Wirkung gerinnungshemmender Medikamente verstärkt wird. Ausserdem kann die Elimination einiger Medikamente beeinträchtigt sein, die die Gerinnungsfunktionen beeinflussen. Akute Störungen der Leberfunktion, beispielsweise bei Alkoholexzessen, medikamententoxischen Reaktionen oder akuter Hepatitis, können zu schweren Blutungskomplikationen führen.
Ursachen von Vitamin-K-Mangel Ein Vitamin-K-Mangel kann alimentär bedingt sein, findet sich aber auch bei Störungen der Fettresorption, bei Cholestase, bei Diarrhö oder bei Leberstauung auf dem Boden einer Rechtsherzinsuffizienz. Durch den Vitamin-K-Mangel werden die VitaminK-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X vermindert synthetisiert. Hierdurch wird die Wirkung von Vitamin-K-Ant-
agonisten wie Phenprocoumon oder Warfarin verstärkt, sodass Blutungskomplikationen auftreten können. Wichtig ist, dass bei Fettresorptionsstörungen, Rechtsherzinsuffizienz, Cholestase und Diarrhö oral gegebenes Vitamin K nahezu unwirksam ist, sodass Vitamin K in diesen Fällen grundsätzlich intravenös verabreicht werden sollte. Bei schweren Blutungen können die Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X auch als Konzentrat (PPSB) gegeben werden, um die Zeit bis zum Ansprechen der hepatischen Synthese nach Vitamin-K-Gabe zu überbrücken.
Seltene Ursachen Seltener sind Immunkoagulopathien wie Immunthrombozytopenien oder Hemmkörperhämophilie oder der Faktor-X-Mangel bei Amyloidose. Typisch ist hier eine neu auftretende Blutungsneigung bei Patienten ohne Familienanamnese für Blutungen und ohne sonstige äussere Auslöser der Blutungsneigung.
Anamnese Entscheidend für eine effektive Diagnostik einer Blutungsneigung ist die Anamnese. Die in Tabelle 2 aufgeführten Fragen sollen bei der Erhebung der Anamnese als Hilfe dienen. Eine Blutungsneigung kann sich auch in Form von Hämatomen äussern – die häufigste Ursache ist eine gerinnungshemmende Therapie. Ergänzt wird die Anamnese durch die Sammlung von vorhandenen klinischen Befundberichten und Laborergebnissen: ■ Sind bei dem Patienten bereits operative Eingriffe durch-
geführt worden, und kam es bei diesen operativen Eingriffen zu Blutungskomplikationen? ■ Bei Frauen: Frage nach Intensität und Dauer der Menstruationsblutungen, Schwangerschaften, Blutungskomplikationen bei Schwangerschaft und Entbindung, Aborten.
Tabelle 2: Fragen bei der Anamnese
■ Seit wann besteht eine Blutungsneigung? ■ Welche Blutungen sind aufgetreten (Lokalisation)? ■ Hatten die Blutungen einen Auslöser (Verletzung, stumpfes
Trauma, Operation …)? ■ Wie häufig sind die Blutungen aufgetreten, wann war das letzte
Blutungsereignis? ■ Welche Intensität hatten die Blutungen (Dauer der Blutungen, Ab-
fall des Hämoglobinspiegels durch die Blutungen, Eisenmangel)? ■ Ist eine Blutungsneigung bereits bekannt? ■ Gibt es eine Familienanamnese für eine Blutungsneigung? ■ Gerinnungshemmende Therapie? Wenn ja: mit welcher Indikation
und welcher Dosierung? ■ Andere Medikamente mit möglicher gerinnungshemmender
Wirkung? ■ Ist eine Nierenfunktionsstörung bekannt? ■ Ist eine Lebererkrankung bekannt?
690 ARS MEDICI 17 ■ 2010
UNGEWÖHNLICHE BLUTUNGSNEIGUNG
Tabelle 3: Basisdiagnostik
■ Prothrombinzeit (Quick, INR) ■ Aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) ■ Fibrinogen ■ Thrombozytenzahl
■ Finden sich in früher erhobenen klinischen Befunden Hinweise für eine Blutungsneigung?
■ Finden sich in Laborbefunden Hinweise für eine Blutungsneigung, oder sind in der aktuellen Analyse pathologische Ergebnisse bestimmter Parameter bei früheren Analysen normal?
Ausserdem sollte eine genaue Medikamentenanamnese erhoben werden, unter Einschluss phytotherapeutischer, homöopathischer oder sonstiger alternativer Therapien.
Labordiagnostik Die umfassende Labordiagnostik einer Gerinnungsstörung lässt sich am effektivsten in einer spezialisierten Gerinnungsambulanz durchführen, da insbesondere bei der Gerinnungsdiagnostik die Qualität der Präanalytik entscheidende Bedeutung für die Qualität und Aussagekraft der Analysen hat. Ausserdem bietet eine Gerinnungsambulanz neben der Labordiagnostik auch eine umfassende Interpretation der Ergebnisse mit Erstellung individueller Therapiekonzepte sowie eine Beratung der Patienten und ihrer Angehörigen. Für Patienten mit geplanten Operationen sollte gezielt ein Therapieplan für das perioperative Management der Gerinnungsstörung angefordert werden, beispielsweise durch einen entsprechenden Vermerk auf dem Überweisungsschein.
Basisdiagnostik beim Hausarzt Andererseits ist eine hämostaseologische Basisdiagnostik beim Allgemeinarzt für eine gezielte Anforderung von Spezialdiagnostik sehr wichtig. Diese Basisdiagnostik umfasst bei der Abklärung einer Blutungsneigung die in Tabelle 3 aufgeführten Punkte. Bei abnormer Thrombozytenzahl sollte zuerst eine Pseudothrombozytopenie ausgeschlossen werden durch Bestimmung der Thrombozytenzahl im frischen Citratblut.
Eine Verlängerung der Prothrombinzeit (entsprechend ein niedriger INR-Wert) findet sich bei Verminderungen von Fibrinogen, Faktor II (Prothrombin), Faktor V, Faktor VII oder Faktor X. Eine aPTT-Verlängerung weist auf eine Verminderung der Faktoren V, VIII, IX, XI oder XII hin. Unerwartete pathologische Ergebnisse bei Prothrombinzeit oder aPTT sollten immer zunächst kontrolliert werden. Bestätigt sich der pathologische Wert, ist eine weitere Spezialdiagnostik sinnvoll. Normale Ergebnisse bei Prothrombinzeit und aPTT schliessen eine Gerinnungsstörung, wie beispielsweise das VonWillebrand-Syndrom, nicht aus, und auch bei normaler Thrombozytenzahl kann die Thrombozytenfunktion massiv beeinträchtigt sein. Bei begründetem Verdacht auf ein VonWillebrand-Syndrom können auch aus Einsendeproben Von-Willebrand-Faktor-Antigen bestimmt und ein Ristocetin-Cofaktor-Test als Funktionsparameter durchgeführt werden. Eine Thrombozytenfunktionsdiagnostik liefert bei Verwendung von Einsendeproben hingegen häufig keine brauchbaren Ergebnisse. Andererseits finden sich auch Patienten mit abnormen Ergebnissen in Prothrombinzeit und aPTT oder mit verminderter Thrombozytenzahl, jedoch völlig normaler Hämostasefunktion. Der Faktor-XII-Mangel beispielsweise verursacht eine starke Verlängerung der aPTT, ist aber nicht mit einer Blutungsneigung assoziiert. Patienten mit Pseudothrombozytopenie sowie Patienten mit bestimmten angeborenen Thrombozytopenien haben eine insgesamt völlig normale Thrombozytenfunktion. Ist zu einem Zeitpunkt bei einem Patienten mit dokumentierten Blutungen keine Hämostasestörung nachweisbar, so sollte mit dem Patienten vereinbart werden, dass er sich bei Auftreten neuer Blutungssymptome direkt in einer spezialisierten Gerinnungsambulanz vorstellt, sodass die Labordiagnostik unter optimalen Bedingungen wiederholt werden kann. ■
Prof. Dr. med. Carl-Erik Dempfle Universitätsmedizin Mannheim I. Medizinische Klinik, D-68167 Mannheim
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2010. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.