Transkript
STUDIE REFERIERT
Risikoprofil sagt mehr als Lipidwert
Statine zur Primärprävention gemäss KHK-Risiko einsetzen
auf die Modellpatienten zu erfassen, wurden die Daten aus zwei echten klinischen Studien eingespeist, die 2005 publiziert worden waren (IDEAL [Incremental Decrease in End Points Through Aggressive Lipid Lowering] und TNT [Treating to New Targets]). Dann verstrichen fünf Jahre Statintherapie im Zeitraffer der Computersimulation.
Ein bestimmter Lipidzielwert galt
lange Zeit als zentrales Kriterium
für die Indikation und Dosierung
von Lipidsenkern zur KHK-Primär-
prävention. Dass ein möglichst
niedriges LDL trotzdem nicht für
jeden Patienten der Weisheit letz-
ter Schluss ist, wurde kürzlich
durch statistische Berechnungen
untermauert. Demnach verhindert
eine Statintherapie gemäss kar-
diovaskulärem Risiko mehr KHK-
Ereignisse als eine Therapie, die
sich am Lipidwert orientiert.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
Wenn es um die Indikation und Dosierung von Statinen zur KHK-Primärprävention geht, richten sich viele nach dem sogenannten Zielwertprinzip (treat to target), was bedeutet, je nach Risikoprofil des Patienten durch Statintitration einen ganz bestimmten LDL-Zielwert anzustreben. Diese Strategie findet sich besonders ausgeprägt in den US-amerikanischen Richtlinien (NCEP: National Cholesterol Education Program). In Europa setzt man eher auf ein Risikofaktorenkonzept, das «auf die Behandlung
von Patienten und nicht nur von Lipidwerten» abzielt, wie es beispielsweise in den Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft Lipide und Atherosklerose der Schweizer Kardiologen (AGLA) heisst. Welches der beiden Konzepte am Ende den grösseren Erfolg verspricht, versuchte das Team von Professor Rodney A. Hayward an der University of Michigan in Ann Arbor ganz ohne neue Studienpatienten, sondern nur mithilfe statistischer Hochrechnungen zu ermitteln.
Therapie als Computersimulation Zunächst suchten die Kardiologen und Statistiker in der Datenbank des National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) nach einem für die USBevölkerung möglichst repräsentativen statinnaiven und herzinfarktfreien Patientenkollektiv im Alter zwischen 30 und 75 Jahren. Sie entschieden sich für 4503 Personen, deren Gesundheitsdaten im Rahmen von NHANES zwischen 1988 und 1994 erfasst worden waren. Anschliessend rechneten sie dieses Kollektiv auf eine Million «Patienten» hoch, deren individuelles KHK-Risiko mithilfe gängiger Modelle bestimmt wurde. Sodann «behandelte» man die virtuellen Patienten entweder gemäss Fünf-JahresKHK-Risiko (bei 5–15%: 40 mg Simvastatin; bei >15% 40 mg Atorvastatin; beides ohne Dosisanpassungen) oder gemäss LDL-Zielwert nach NCEP III (von 20–40 mg Simvastatin bis 40–80 mg Atorvastatin), wobei hier noch nach NCEP-Standard (keine Statindosiserhöhung, falls nur optional) und NCEPIntensivtherapie (Statindosiserhöhung wann immer möglich) unterschieden wurde. Um die Wirkung der Statinsenker
Risikofaktoren-Prinzip überlegen Obwohl die Studiendesigner ihr statistisches Experiment unter Bedingungen durchführten, die die Zielwertstrategie eindeutig begünstigten, schnitt diese deutlich schlechter ab als die vergleichsweise einfach gestrickte Therapie nach dem Risikofaktorenprinzip. Letztere ergab mehr Lebensjahre mit guter Lebensqualität (QUALY: quality-adjusted lifeyears), obwohl gleichzeitig weniger Personen eine hohe Statindosis erhalten hatten. Um die Sache anschaulicher zu machen, rechneten Hayward und sein Team aus, um welche Grössenordnungen es in der Bevölkerung der USA geht: Gemäss NCEP-Standard müssten rund 13 Prozent der US-Amerikaner ein Statin erhalten. Im Vergleich mit keiner Therapie würde diese Strategie in fünf Jahren pro 1000 Personen 48 QUALY bringen. Richtet man sich nach der NCEP-Intensivstrategie, wären es gar 17 Prozent der Bevölkerung, die eine Statintherapie benötigten, was zwar in der Summe mehr QUALY bringt, aber nicht effizienter ist (45 QUALY pro 1000 Personen). Sie könnte sogar eher schaden, weil intensiv behandelte, gemäss NCEP ausgewählte
Merksätze
■ Für die Statindosis zur KHK-Primärprävention ist das kardiovaskuläre Gesamtrisiko wichtiger als bestimmte Lipidwerte.
■ Bei der KHK-Primärprävention scheint die Titration der Statindosis anhand der LDLWerte überflüssig zu sein.
694 ARS MEDICI 17 ■ 2010
STUDIE REFERIERT
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Ein Pocketguide «Kardiovaskuläre Risikofaktoren» kann bei der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie angefordert werden: www.agla.ch
Patienten, die gemäss Risikofaktorstrategie gar kein Statin hätten haben sollen, QUALY verloren.
Die Risikofaktorstrategie identifizierte in Haywards Rechenmodell zwar ebenfalls rund 17 Prozent der US-Bürger als statinbedürftig, war aber offenbar treffsicherer und mit 55 QUALY pro 1000 Patienten am erfolgreichsten. Hayward und seine Koautoren gestehen freimütig die limitierte Aussagekraft ihrer Hochrechung ein. Auch wagen sie keine Aussage für über 75-Jährige, da für diese keine ausreichende Datenbasis verfügbar sei. Darüber hinaus fehlen in ihrer Analyse Faktoren wie Gesamtmortalität oder die tatsächliche Compliance in der Praxis, welche die Wirksamkeit der Primärprävention mit Statinen be-
einflussen. Ihre Arbeit belegt jedoch einmal mehr, dass ein einzelner Biomarker zwar wichtig für einen Therapieentscheid sein kann, das übergeordnete Risiko-Nutzen-Verhältnis aber nicht aus den Augen verloren werden darf. ■
Renate Bonifer
Hayward RA et al.: Optimizing Statin Treatment for Primary Prevention of Coronary Artery Disease. Ann Int Med 2010; 152: 69—77.
Interessenlage: Die Studie wurde von staatlichen Institutionen in den USA finanziert.
ARS MEDICI 17 ■ 2010 695