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Titel
Harninkontinenz – auch von Ärzten noch bagatellisiert
Untertitel
Ein Gespräch mit dem Gynäkologen Johannes Bitzer
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Harninkontinenz ist häufig und kann in jedem Lebens- alter auftreten. Die betroffenen Frauen fühlen sich in ihrer Lebensqualität oft deutlich beeinträchtigt. Im folgenden Gespräch erklärt Professor Johannes Bitzer, worauf bei der Diagnostik und Therapie zu achten ist.
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MEDIZIN — INTERVIEW
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626
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INTERVIEW
Harninkontinenz — auch von Ärzten noch bagatellisiert
Ein Gespräch mit dem Gynäkologen Johannes Bitzer

Harninkontinenz ist häufig und kann in jedem Lebens-
alter auftreten. Die betroffenen Frauen fühlen sich in
ihrer Lebensqualität oft deutlich beeinträchtigt. Im
folgenden Gespräch erklärt Professor Johannes Bitzer,
worauf bei der Diagnostik und Therapie zu achten ist.
ARS MEDICI: Professor Bitzer, ist Harninkontinenz heute immer noch ein Tabu? Prof. Dr. med. Johannes Bitzer: Ja, das muss man so sagen. Viele Frauen schämen sich dafür und eine spontane Klage ist selten. Deshalb sollte der Arzt aktiv danach fragen und den Patientinnen erklären, dass viele Frauen davon betroffen sind, sie also mit diesem Problem nicht allein sind.
ARS MEDICI: Empfinden nicht auch Ärzte eine Scham, ihre Patientinnen direkt darauf anzusprechen? Bitzer: Leider scheint dies der Fall zu sein. Ausserdem wird wohl das Leiden von ärztlicher Seite her bagatellisiert.
ARS MEDICI: Welche Inkontinenzformen gibt es? Bitzer: Wir unterscheiden die Belastungsinkontinenz, bei der es bei körperlichen Anstrengungen, etwa beim Husten, Niesen oder beim Sport zum unwillkürlichen Urinabgang kommt. Ursache hierfür ist eine Beckenbodeninsuffizienz mit und ohne sichtbare Senkung der Beckenorgane. Im Lauf der Jahre kommt es zu einer graduellen Zunahme der Episoden. Durch abdominelle Druckerhöhung kann es irgendwann auch beim Treppensteigen oder bei noch geringeren Belastungen zu Urinverlust kommen. Die andere Form ist die Dranginkontinenz, bei der durch unwillkürliche Kontraktionen der Blasenmuskulatur der Blasendruck soweit steigt, dass ungewollt Urin abgeht. Man spricht auch von überaktiver Blase (overactive bladder, OAB). Nicht selten liegen aber Mischformen vor.
ARS MEDICI: Die Definition der überaktiven Blase ist vor wenigen Jahren geändert worden. Für die Diagnose ist es nun nicht mehr zwingend erforderlich, dass die Drangsymptomatik auch mit Inkontinenz einhergeht. Steckte dahinter das Ziel,

den Absatz von Anticholinergika

zu fördern?

Bitzer: Nein, das kann man nicht so

sehen. Das Leiden resultiert ja vor

allem aus dem imperativen Harn-

drang, der die Frauen zwingt, sehr

rasch eine Toilette aufzusuchen.

Und wenn das häufig passiert, kann

die Lebensqualität schon erheblich

Professor Dr. med. Johannes Bitzer ist Chefarzt der Frauen-

beeinträchtigt sein, selbst wenn es dabei nicht zum Urinverlust kommt.

klinik am Universitätsspital Basel. Er gehört dem Beirat von ARS MEDICI an.

ARS MEDICI: Welche Abklärungen sind bei Inkontinenz notwendig?

Bitzer: Entscheidend ist es zu-

nächst, durch eine gründliche Anamnese, die beiden Hauptfor-

men der Inkontinenz zu differenzieren. Liegen sie in reiner Form

vor, gelingt die Abgrenzung in der Regel allein anhand des

Beschwerdebilds. Zur Basisabklärung gehört auch ein U-Status

mit Urethralabstrich und eine Restharnbestimmung. Bei Hin-

weisen auf eine überaktive Blase ist das Führen eines Miktions-

kalenders sinnvoll. Allerdings gibt es mit zunehmender Dauer

komplexere, gemischte Formen, also Urinabgang im Zusam-

menhang mit Harndrang oder mit körperlicher Belastung. In

diesen Fällen sollten die Frauen sich einer gynäkologischen

Untersuchung unterziehen. Während eine rein überaktive Blase

typischerweise kein anatomisches Korrelat hat, liegt bei Belas-

tungsinkontinenz oft eine mehr oder weniger ausgeprägte

Schwäche des Beckenbodens vor, die man tasten kann. Im An-

schluss an die körperliche Untersuchung lohnt es sich in diesen

Fällen, auch eine urodynamische Untersuchung durchzuführen.

ARS MEDICI: Wie funktioniert die urodynamische Untersuchung und welche Erkenntnisse lassen sich aus ihr gewinnen? Bitzer: Bei der urodynamischen Abklärung wird der Druck in der Blase und in der Harnröhre gemessen, sowie der Druckfluss bestimmt. Die Blase wird dann gefüllt, und die Frau gibt an, wann sie Drang verspürt. Zudem wird die Druckentwicklung in Blase, Blasenhals und Harnröhrenbereich nach dem Aufstehen sowie nach Husten oder Niesen gemessen und aufgezeichnet. Die Abklärung erfolgt an bestimmten Zentren oder bei spezialisierten Urologen. Es gibt noch weitergehende bildgebende Verfahren, mit denen man die Dynamik der Druck-

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INTERVIEW

steigerung und die damit verbundenen Bewegungen von Blase und Harnröhre studieren kann.
ARS MEDICI: Wie häufig ist diese Abklärung nötig? Bitzer: Die urodynamische Abklärung kommt in erster Linie zum Einsatz, wenn ein operativer Eingriff geplant ist. Ziel ist es, präoperativ die verschiedenen Komponenten der Inkontinenz und das Ausmass der Verschlussschwäche zu bestimmen. Zudem wird sie bei unklaren, komplexen oder therapierefraktären Blasenfunktionsstörungen, also sowohl Störungen der Speicher- als auch der Entleerungsfunktion der Blase. durchgeführt.

ARS MEDICI: Welche Bedeutung haben Miktionsprotokolle? Bitzer: Bei Frauen, die unter imperativem Harndrang leiden, ist ein Miktionsprotokoll unbedingt zu empfehlen. Anhand des Protokolls bekommen wir Aufschluss darüber, wie oft die Blase entleert wird und wie viel Urin abgeht, wie häufig eine Drangsymptomatik und gegebenenfalls ein Urinverlust auftritt. In einem erweiterten Protokoll können ausserdem die Einnahme von Medikamenten, aber auch bestimmte Tagesereignisse dokumentiert werden. Aus letzterem ergeben sich manchmal Hinweise, ob Stress und Nervosität für die Inkontinenz eine auslösende oder begünstigende Rolle spielen.

INTERVIEW

ARS MEDICI: Welche Behandlung ist bei überaktiver Blase angezeigt? Bitzer: Die Behandlung von Frauen mit überaktiver Blase stützt sich zunächst auf die Verhaltenstherapie. Es geht für die Betroffenen darum, zu lernen, dem Drang nicht sofort nachzugeben, und eine Art Ablenkungsstrategie zu erlernen. Oftmals ist allein die Angst vor einem drohenden Urinverlust sehr belastend. Im Zentrum der Verhaltenstherapie steht dabei die Atemtechnik, das heisst, die Frauen sollen sich auf die Bauchatmung konzentrieren und lernen, den abdominellen Druck zu mindern. Zentral ist auch das Miktions- und Trinktraining, das heisst die richtige Menge des richtigen Getränks zur richtigen Zeit einzunehmen. Eine lokale Östrogenisierung ist bei postmenopausalen Frauen indiziert. Auch eine Beckenbodengymnastik kann die Fähigkeit zur Reizunterdrückung verbessern. Ein solches Selbstmanagement muss allerdings zumeist medikamentös von der Einnahme von Anticholinergika begleitet werden, die bei Drangsymptomatik gut wirksam sind. Diese Medikamente blockieren die Muskarinrezeptoren und vermindern dadurch die Kontraktionen der Blase.
ARS MEDICI: Es gibt eine Reihe von Anticholinergika in einem umkämpften Markt. Gibt es Präparate der ersten Wahl? Bitzer: Man kann nicht sagen, dieses oder jenes Präparat sei grundsätzlich erste Wahl. In der Praxis geht es für den Arzt darum, in jedem Einzelfall herauszufinden, welches Präparat am besten wirkt und die geringsten Nebenwirkungen aufweist. Es ist also manchmal ein Ausprobieren nötig.
ARS MEDICI: Aber irgendeine erste Wahl muss der Arzt ja treffen. Wovon lässt er sich dabei leiten? Bitzer: Man fängt am besten mit einem Präparat an, das man gut kennt und mit dem man die besten Erfahrungen hat. Wenn das Medikament nicht hilft oder schlecht vertragen wird, kommen dann meist die neueren Präparate zum Zug. Zudem kann ein Wechsel bei den Präparaten auch zu einem Wechsel der Galenik respektive Applikationsform führen, was durchaus zum Erfolg führen kann.
ARS MEDICI: Wie oft ist ein Präparatewechsel erfolgreich? Bitzer: Nach meiner Erfahrung funktioniert das gelegentlich. In einer Übersichtsarbeit wurde allerdings kein besserer Outcome nach Wechsel des Präparats verglichen mit der Erstbehandlung gefunden.
ARS MEDICI: Wenn mehrere Anticholinergika keinen ausreichenden Effekt haben, kann neuerdings auch die Injektion von Botulinumtoxin A in den M. detrusor vesicae versucht werden. Wie wirksam und wie sicher ist diese Behandlung und wie lang hält die Wirkung an? Bitzer: Dies scheint in der Tat eine Erfolg versprechende Methode zu sein, über die aber noch wenig Langzeitergebnisse vorliegen. Unklar sind insbesondere Dosis und Wiederholungsintervall.

ARS MEDICI: Welche therapeutischen Massnahmen gibt es bei Belastungsinkontinenz? Bitzer: Bei Belastungsinkontinenz kommt es darauf an, den Beckenboden gezielt zu stärken, damit ein Gegendruck zum intraabdominellen Druck aufgebaut werden kann. Das Beckenbodentraining hat sich als gut wirksam erwiesen. Es kann übrigens auch begleitend bei Dranginkontinenz eingesetzt werden.
ARS MEDICI: Gibt es bei Belastungsinkontinenz auch medikamentöse Therapieoptionen? Bitzer: Bei Belastungsinkontinenz sind unsere pharmakologischen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Duloxetin, ein SSRI, ist das einzige Medikament, das eventuell erwogen werden kann. Duloxetin hat sich wegen seiner oft unbefriedigenden Verträglichkeit aber insgesamt nicht durchgesetzt.
ARS MEDICI: Kann eine Gewichtsabnahme hilfreich sein? Bitzer: Ja. Eine Gewichtsabnahme wirkt sich bei übergewichtigen Frauen auch günstig auf die Inkontinenzproblematik aus und ist deshalb ein nützlicher Bestandteil des Therapieprogramms.
ARS MEDICI: Welche Möglichkeiten bieten operative Verfahren? Bitzer: Heute kann man mithilfe eines Bandes (TVT tension free vaginal tape), das unter die Harnröhre eingelegt wird und das wie eine Art Widerlager den Blasenhals unterstützt, gute Langzeiterfolge erzielen. Das Band wird nur so fest angezogen, dass bei gefüllter Blase und nach dem Husten kein Urin mehr abgeht. Der operative Eingriff wird in der Regel in Lokalanästhesie (Analgosedation) durchgeführt, um durch einen Hustentest eine optimale Bandwirkung zu erreichen.
ARS MEDICI: Zur Beurteilung der Lebensqualität gibt es verschiedene evaluierte Fragebögen. Werden diese in der Praxis angesetzt? Bitzer: Natürlich möchte man, auch aus wissenschaftlicher Sicht, gerne nachweisen, inwieweit sich ein operativer Eingriff oder eine konservative Therapie in der Lebensqualität niederschlägt. Fragebögen werden aber vermutlich in der Praxis selten eingesetzt. Dennoch ist die Nachsorge natürlich wichtig. So muss nach einer Operation mit der Frau besprochen werden, ob der unwillkürliche Urinverlust behoben ist oder ob Nebenwirkungen aufgetreten sind. Wenn das Band zu straff ist, kann zum Beispiel eine Drangkomponente auftreten, die die Frau bis dahin nicht kannte. Vielleicht bemerkt die Patientin ein unangenehmes Gefühl beim Geschlechtsverkehr. Das Band wird ja an der vorderen Vaginalwand eingelegt, also in einem durchaus sensiblen Bereich. In Studien konnte eine postoperative Beeinträchtigung der sexuellen Empfindsamkeit aber nicht beobachtet werden. Bei Einsatz von Anticholinergika geht es darum, die Effizienz und die Verträglichkeit abzufragen, also etwa Kopfschmerzen, Obstipation oder Mundtrockenheit, die bei vielen Patientinnen mehr oder weniger stark auftreten.
Das Interview führte Uwe Beise.

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