Transkript
OFFIZIELLES ORGAN
Ärztliche Medikamentenabgabe: Mangelhafte Studien für falsche Argumentationen
Berichte von der Fortbildung an der diesjährigen Generalversammlung — Teil 2
In der Schweiz scheinen viele Entscheidungsträger vornehmlich diejenigen Studien zu berücksichtigen, welche die ärztliche Medikamentenabgabe als kostentreibenden Faktor einstufen, obwohl sie oftmals auf falschen Interpretationen beruhen.
SIMON OTTH
Ärztliche Medikamentenabgabe: Studien über Studien! Was gilt? Wie Dr. med. Herbert Widmer, Internist und Chefredaktor des «Luzerner Arztes», hervorhob, gibt es eine ganze Reihe von Studien zur direkten ärztlichen Medikamentenabgabe, deren Schlussfolgerungen bezüglich der Kosten teilweise diametral unterschiedlich sind. Trotz dieser widersprüchlichen Datenlage ziehen jedoch die Entscheidungsträger immer wieder einige wenige Studien mit negativer Beurteilung der ärztlichen Medikamentenabgabe heran, was beispielsweise bei der Revision des Heilmittelgesetzes sehr ungünstige Auswirkungen hatte. Gemäss einer aus dem Jahr 2008 stammenden Studie von Dr. Josef Hunkeler, Mitarbeiter des Preisüberwachers, liegt das durchschnittliche jährliche Nettoeinkommen, das ein Arzt allein aus der direkten Medikamentenabgabe erwirtschaftet, etwas über 130 000 Franken. Dieser Betrag ist jedoch viel zu hoch gegriffen, da bei den Berechnungen das Nettoeinkommen fälschlicherweise mit
der Differenz aus Verkaufsertrag minus Beschaffungspreis gleichgesetzt und somit der gesamte Betriebsaufwand des Arztes einfach ignoriert wurde. Zu diesem Betrag addierte Hunkeler den unkorrigierten Umsatz aus den Arztleistungen, woraus sich ein massiv überschätztes Jahreseinkommen von 403 000 Franken ergab.
Nur direkt abgegebene Medikamente berücksichtigt In einer häufig zitierten Studie aus dem Jahr 1993 kam Andreas Dummermuth zum Schluss, dass die Medikamentenkosten in den Kantonen mit direkter Medikamentenabgabe höher sind als in den Rezepturkantonen. Pikanterweise wurden jedoch nur die Kosten der von den Ärzten direkt abgegebenen Medikamente, nicht aber die Kosten der von den Ärzten rezeptierten Medikamente berücksichtigt, womit ein entscheidender Anteil der Medikamentenkosten im Rezepturkanal unterschlagen wurde. Aus diesem Grund erlaubt auch die Studie Dummermuth keinen aussagekräftigen Vergleich der Medikamentenkosten.
Dr. med. Herbert Widmer, Internist und Chefredakteur des «Luzerner Arztes»
Falls die Medikamentenkosten in allen Kanälen berücksichtigt werden, zeigt sich bei der langjährigen Kostenentwicklung in den Kantonen Luzern und Aargau ein klarer Trend zugunsten der ärztlichen Medikamentenabgabe: Während 1993 die jährlichen Medikamentenkosten pro Einwohner im Kanton Luzern, welcher die direkte Medikamentenabgabe zulässt, noch um rund 7 Franken höher waren als im «Rezepturkanton» Aargau, stiegen diese Kosten in den folgenden Jahren im Aargau deutlich schneller an als in Luzern, sodass bis im Jahr 2008 ein massiver Unterschied von 105 Franken zugunsten des Kantons Luzern resultierte.
Äpfel mit Birnen verglichen Eine Studie von Konstantin Beck, Ute Kunze und Willy Oggier aus dem Jahr 2004 kommt zum Schluss, dass die jähr-
666 ARS MEDICI 17 ■ 2010
OFFIZIELLES ORGAN
lichen Medikamentenkosten pro Einwohner nach Korrektur bezüglich der sozioökonomischen Unterschiede in den Kantonen mit direkter Medikamentenabgabe um 243 Franken höher sind als in den Rezepturkantonen. Allerdings beruht dieses Ergebnis auf gewissen Annahmen, die offensichtlich gar nicht zutreffen. Wird diese Kostenberechnung beispielsweise auf die strukturell sehr ähnlichen Kantone Luzern und Aargau angewendet, müsste die Medikamentenabgabe pro Versicherten und Jahr im Kanton Aargau um 55 Franken günstiger sein als im Kanton Luzern, wobei sie in Wahrheit aber um 105 Franken teurer ist.
Falsche Behauptung zur Konsultationshäufigkeit Tilman Slembeck schrieb 2008 in einem Gutachten für den Apothekerverband des Kantons Zürich, dass der Verkauf von kassenzulässigen Medikamenten durch niedergelassene Ärzte aus gesundheitsökonomischer Sicht strikt abzulehnen sei. Die negativen Auswirkungen aufgrund der Fehlanreize, welche sich durch die Möglichkeit zur anbieterinduzierten Nachfrageausweitung ergäben, seien zweifellos vorhanden. Allerdings baute Slembeck sein Gutachten auf den mit schweren Mängeln behafteten Studien von Dummermuth und Beck auf. Darüber hinaus behauptet Slembeck, der leicht kostensenkende Effekt der ärztlichen Medikamentenabgabe werde in den Kantonen mit direkter Medikamentenabgabe durch eine wesentlich höhere Konsultationshäufigkeit überkompensiert. Diese Behauptung wird jedoch durch Zahlen der Santésuisse widerlegt, welche beispielsweise für das Jahr 2008 sowohl für die Rezepturkantone als auch für die Kantone mit direkter Medikamentenabgabe je 5,4 Konsultationen pro Jahr feststellte. Eine frühere Erhebung der Santésuisse aus
dem Jahr 2005 hatte zwar für die Westschweizer Kantone eine leicht geringere Anzahl von Arztkonsultationen ergeben, wobei aber die Kosten pro Konsultation deutlich höher waren als in den Ostschweizer Kantonen.
Kostensenkende Wirkungen! In einer Analyse zu den Kostenunterschieden im Gesundheitswesen zwischen den Kantonen kamen Christian Rüeffli und Adrian Vatter 2001 zum Ergebnis, dass sich die Regulierung der Medikamentenabgabe auf die Gesamtkosten des Gesundheitswesens auswirkt. Dabei erwies sich die direkte Medikamentenabgabe als der kostengünstigste Abgabekanal, während umgekehrt eine hohe Apothekendichte einen kostentreibenden Effekt zeigte. Luca Crivelli, Massimo Filippini und Ilaria Mosca verwendeten ein ökonometrisches Modell, um nach den Ursachen für die doch sehr unterschiedlichen Gesundheitskosten in den einzelnen Kantonen zu suchen. Anhand der jährlichen kantonalen Gesundheitsausgaben in der Zeitspanne von 1996 bis 2000 ergaben die Modellberechnungen, dass die Kosten mit einem höheren Bevölkerungsanteil an älteren Personen, einer hohen Arbeitslosenquote sowie einer höheren Ärztedichte steigen. Bedeutsamerweise wurde jedoch für die ärztliche Medikamentenabgabe eine signifikant kostensenkende Wirkung gefunden. Leider wurde dieses wichtige Ergebnis erst in einer Richtigstellung des Studienberichts veröffentlicht, nachdem die Autoren zuerst wegen einer falschen Einteilung der Kantone bezüglich ihres Abgabekanals zur umgekehrten Schlussfolgerung gekommen waren.
Bürgerliche Parteien uneins Vor diesem Hintergrund hält die Gesundheitskommission der FDP an der Praxis der ärztlichen Medikamentenab-
gabe fest, da die bisherigen Studien je-
denfalls keinen Nachweis erbracht
haben, dass die direkte Medikamenten-
abgabe die derzeitige Kostenexplosion
im Gesundheitswesen verursacht hat.
Demgegenüber spricht sich die CVP in
ihrer Vernehmlassung gegen die direkte
Medikamentenabgabe aus, da seit der
Umstellung des Kantons Freiburg auf
Rezeptur die Medikamentenkosten deut-
lich gesunken seien.
■
Dr. med. Simon Otth, Horgen Vizepräsident der APA
Der 1. Teil dieses Berichts erschien in den APA-News in AM 16/10.
ARS MEDICI 17 ■ 2010 667