Transkript
FORTBILDUNG
Androgenentzug bei Prostatakarzinom und kardiovaskuläres Risiko
Eine gemeinsame Stellungnahme von amerikanischen Kardiologen, Onkologen und Urologen
Da Androgenentzugstherapien bei Prostatakrebs immer häufiger eingesetzt werden, sahen sich American Heart Association, American Cancer Society und American Urological Association veranlasst, die möglichen Nebenwirkungen auf Herz und Gefässe unter die Lupe zu nehmen. Zudem interessierte auch die Frage, ob Kandidaten für diese Behandlungsform in jedem Fall einem Stoffwechsel- oder Herzspezialisten vorgestellt werden sollen.
CA CANCER JOURNAL FOR CLINICIANS
tels Brachytherapie oder auch schon beim Ansteigen des prostataspezifischen Antigens (PSA) nach einer definitiven Lokalbehandlung. Für solche Indikationen ist aber ein lebensverlängernder Einfluss weniger sicher.
Mögliche Mechanismen für kardiovaskuläre Erkrankungen als Folge des Androgenentzugs Propspektive klinische Studien haben ergeben, dass der Androgenentzug das kardiovaskuläre Risiko erhöhen kann durch Zunahme des Körpergewichts, verringerte Insulinsensitivität und/oder Dyslipidämie. Unter Androgenentzug kommt es zu einer Abnahme der fettfreien Masse und einer Zunahme des Körperfetts, wovon vor allem das subkutane und nicht das viszerale Fett betroffen ist. Diese Veränderungen in der Zusammensetzung scheinen ein früher Therapieffekt zu sein, der sich schon während der ersten paar Behandlungsmonate einstellt. Die Androgenentzugsbehandlung erhöht aber auch die Serumcholesterin- und Triglyzeridspiegel. In einer prospektiven
Der Androgenentzug ist eine vielfach eingesetzte Therapie bei Prostatakrebs, doch haben in den letzten Jahren gleich mehrere Studien auf eine Assoziation dieses Vorgehens mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, insbesondere mit häufigeren Herzinfarkten und einer höheren Herz-Kreislauf-Mortalität, hingewiesen. Damit sind die Auswirkungen eines Androgenentzugs auf Stoffwechselparameter und kardiovaskuläre Risiken in den Fokus des Interesses von Internisten, Endokrinologen und Kardiologen getreten, da ihnen vermehrt Patienten überwiesen werden, bei denen ein Androgenentzug ins Auge gefasst wird. Eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe hat daher die Datenlage evaluiert und kürzlich eine wissenschaftliche Stellungnahme publiziert, die auch von der Amerikanischen Gesellschaft für Radioonkologie unterstützt wird. Die Androgenentzugsbehandlung wurde zuerst eingeführt für Patienten mit Prostatakrebs und nachgewiesenen Metastasen. Für diese Gruppe bleibt sie der Hauptpfeiler der Therapie. Androgenentzug zusammen mit externer Bestrahlung ist Therapiestandard bei Hochrisiko-Prostatakarzinom, da kontrollierte randomisierte Studien einen Überlebensvorteil dokumentieren. Daneben wird eine Androgenentzugsbehandlung aber auch bei anderen Prostatakarzinomen eingesetzt, zum Beispiel zur Volumenreduktion vor einer definitiven Lokaltherapie mit-
Merksätze
■ Eine beachtliche Zahl von Studien deutet darauf hin, dass eine Androgenentzugsbehandlung bei Prostatakarzinompatienten die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität erhöht.
■ Es gibt aber auch Untersuchungen, die diesen Beobachtungen widersprechen.
■ Aufgrund der heutigen Datenlage ist eine Assoziation jedoch als möglich anzusehen.
■ Erwartete Nutzen und mögliche kardiovaskuläre Risiken sind individuell bei der Indikationsstellung für eine Androgenentzugstherapie zu berücksichtigen.
■ Eine metabolische und/oder kardiologische Abklärung vor Beginn der Androgenentzugsbehandlung ist zwar nicht zwingend, aber dennoch empfehlenswert.
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FORTBILDUNG
KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Hans-Jörg Senn, St. Gallen
«Es kommt auf die reflektierte, sinnvolle Abklärung der Indikationsstellung und eine sorgfältige Therapieüberwachung an.»
Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa — und damit auch in der Schweiz — hält der medikamentöse Androgenentzug in zunehmendem Masse Einzug in die Therapie des Prostatakarzinoms. Dies erfolgt nicht nur im Stadium der (meist ossären) multifokalen Spätmetastasierung, sondern auch als antiandrogene Zusatzbehandlung, sei es adjuvant nach Prostatektomie oder Prostatabestrahlung oder als erste medikamentöse Therapie bei PSA-Wiederanstieg nach scheinbar erfolgreicher chirurgischer und/oder radiotherapeutischer Erstbehandlung.
Wenn man die hier in den amerikanischen Richtlinien zusammengefassten Hauptpunkte auf den «einen wichtigsten Punkt» bringen will, scheint mir folgender Merksatz für die internistisch-onkologische und hausärztliche Praxis der wichtigste zu sein: «Eine metabolische und/oder kardiologische Abklärung vor Beginn der Androgenentzugsbehandlung ist zwar nicht zwingend, aber dennoch empfehlenswert!»
Die metabolischen und kardiovaskulären Zusatzrisiken einer meistens langfristigen, in der Regel jahrelangen, antiandrogenen Behandlung bei dieser Patientengruppe mit manifestem, klinisch relevantem Prostatakarzinom — alles Männer im höheren Lebensalter — sind zur Genüge bekannt, auch die damit verbundenen, immer wieder vorkommenden vor- beziehungsweise unzeitigen, höchstwahrscheinlich therapieinduzierten kardiovaskulären Komplikationen.
Wie bei vielen anderen letztlich ja palliativen Therapieindikationen
in der klinischen Onkologie kommt es auch beim Einsatz einer län-
gerfristigen antiandrogenen Therapie bei Prostatakarzinompa-
tienten auf die reflektierte, sinnvolle Abklärung der Indikations-
stellung und eine sorgfältige Therapieüberwachung an. Sie sind
nur scheinbar «teurer» — es sei denn, man verschliesse die Augen
vor den ins Groteske laufenden Kosten unnötiger Notfallhospita-
lisationen auf Intensivstationen wegen vorzeitiger kardiovasku-
lärer Zwischenfälle oder gar den unbezahlbaren Folgen eines
unzeitigen, therapieinduzierten Herztods.
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Studie bei 40 Männern mit Prostatakrebs wurden bei mehreren Lipidfraktionen Zunahmen registriert (Gesamtcholesterin +9%, LDL-Cholesterin +7%, HDL-Cholesterin +11%, Triglyzeride +27%). Die meisten dieser Veränderungen waren schon innert der ersten drei Monate nachweisbar. Eine Insulinresistenz ist bei Typ-2-Diabetes eine häufige zugrunde liegende Störung, kommt aber auch bei rund einem Viertel der nichtdiabetischen Männer vor. Die Androgenentzugstherapie erhöht die Nüchtern-Plasmainsulinspiegel, ein Hinweis auf eine Insulinresistenz bei diesen Prostatakrebspatienten. Über die längerfristigen Auswirkungen auf die Insulinsensitivität ist wenig bekannt. Mit der Insulinresistenz ist auch das sogenannte «metabolische Syndrom», eine sehr beliebte nosologische Entität der letzten Dekade, in Verbindung gebracht worden. In einer Querschnittsuntersuchung wurde bei 18 mit Androgenentzug behandelten Prostatakrebspatienten eine höhere Prävalenz des metabolischen Syndroms gefunden als bei altersentsprechenden Männern ohne Prostatakarzinom. In Überseinstimmung mit prospektiven Studien hatten die Patienten unter Androgenentzug häufiger einen grösseren Abdominalumfang, erhöhte Triglyzeride und erhöhte Nüchternblutzuckerwerte. Im Gegensatz zum Konzept des metabolischen Syndroms stellt sich unter Androgenentzug aber keine Vermehrung des viszeralen Fetts ein, und die Konzentrationen von HDL-Cholesterin steigen, anstatt abzunehmen. Ein weiterer Unterschied zum metabolischen Syndrom ergibt sich auch aus der Beobachtung, dass unter Androgenentzug die Serum-Adiponectin-Spiegel signifikant steigen und die Entzündungsparameter (z.B. C-reaktives Protein) keine Veränderung zeigen. Die metabolischen Veränderungen unter Androgenentzugsbehandlung dürfen also nicht mit einem metabolischen Syndrom gleichgesetzt werden.
Androgenentzug und die kardiovaskulären Folgen in den grossen klinischen Studien Mehrere Untersuchungen haben den Schluss nahegelegt, dass zwischen Androgenentzug mittels GnRH-Therapie (mit oder ohne Antiandrogen) oder beidseitiger Orchiektomie und neu auftretenden kardiovaskulären Erkrankungen oder Todesfällen ein Zusammenhang besteht. In zwei Studien war eine Androgenentzugsbehandung mit einer signifikant höheren Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen assoziiert, in einem Bericht war der Einsatz eines GnRH-Agonisten bei Männern mit Prostatakarzinom mit einem erhöhten Risiko für neu auftretende Koronarerkrankung, Myokardinfarkt, plötzlichen Herztod und lebensbedrohliche ventrikuläre Arrhythmien assoziiert. Die KHK-Risiko-Erhöhung war sogar schon nach nur kurzfristiger GnRH-Agonisten-Therapie von 1 bis 4 Monaten zu erkennen. In einem anderen Bericht war die hormonelle Behandlung nach einer Beobachtungszeit von mehr als 5 Jahren mit einem um 20 Prozent höheren Risiko für schwerwiegende Herzgefässleiden verbunden. Mehrere weitere Studien haben den Zusammenhang zwischen Androgenentzug und Herz-Kreislauf-Sterblichkeit untersucht. Eine grosse Datenanalyse ergab ein signifikant erhöhtes kar-
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A N D R O G E N E N TZ U G B E I P R OSTATA K A RZ I N O M U N D K A R D I OVAS KU L Ä R ES R I S I KO
diovaskuläres Sterberisiko bei Männern, die wegen lokalisierten Prostatakarzinoms mit radikaler Prostatektomie sowie präoperativem GnRH-Agonist und/oder Antiandrogen behandelt worden waren, im Vergleich zu solchen, bei denen diese hormonelle Therapie unterblieben war (adjustierte Hazard Ratio [HR] 2,6, 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,4–4,7). Unter Patienten, die mit äusserer Bestrahlung, Brachytherapie oder Kryotherapie behandelt worden waren, betrug die adjustierte HR für Androgenentzugsbehandlung 1,2 (95%-KI 0,8–1,2). In einer Post-hoc-Analyse gepoolter Daten aus drei randomisierten Studien mit oder ohne hormonelle Androgenunterdrückung waren 6 Monate Androgenentzug bei Männern über 65 Jahre mit einer um 2 Jahre kürzeren Zeit bis zum Auftreten eines tödlichen Myokardinfarkts assoziiert. In Studien, die ein durch Androgenentzug erhöhtes kardiovaskuläres Risiko fanden, lagen die Unterschiede bei den Ereignisraten in der Grössenordnung von 1 bis 6 Prozent der Studienpopulationen. Neben diesen Daten, die einen Zusammenhang zwischen Androgenentzugsbehandlung und kardiovaskulärem Risiko nahelegen, gibt es aber auch Untersuchungen, die keine derartige Assoziation fanden. Vier Post-hoc-Analysen randomisierter Studien sahen beispielsweise keine Erhöhung der kardiovaskulären Mortalität. In einer Studie bei 206 Männern mit lokal begrenztem Prostatakarzinom mit ungünstigem Risiko, die eine Bestrahlungsbehandung mit oder ohne sechsmonatige Androgenentzugstherapie erhalten hatten, kamen kardiale Todesfälle in beiden Gruppen gleich häufig vor. Es zeigte sich jedoch, dass bei den Patienten der Gruppe mit Androgenentzug fast alle Todesfälle nur bei mässigen bis schweren Begleiterkrankungen (v.a. zurückliegender Myokardinfarkt) auftraten. Auch eine grosse Kohortenstudie fand nach 5 Jahren für die mit Androgententzug unterschiedlicher Dauer Behandelten keinen signfikanten Unterschied bei den tödlichen kardialen Ereignissen. Eine retrospektive Analyse von 5077 mit Brachytherapie an einem einzigen Zentrum behandelten Prostatakarzinompatienten ergab bei der Gesamtmortalität keine Erhöhung durch eine adjuvante Androgenentzugsbehandlung. Für diese widersprüchlichen Ergebnisse können mehrere Erklärungen angeführt werden. Dazu gehören Unterschiede in den untersuchten Patientenpopulationen, Studiendesign, Selektionsbias bei denjenigen Männern, denen eine Androgenentzugsbehandlung angeboten wurde, sowie die begrenzte Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse in einigen Studien. Es könnte auch sein, dass eine Risikoerhöhung bloss bei Patienten gegeben ist, die eine schon bestehende KHK haben. Schliesslich ist denkbar, dass zwischen Androgenentzug und kardiovaskulärer Mortalität kein wirklich kausaler Zusammenhang besteht und die positiven Studien durch unkontrollierbare Störfaktoren oder fehlleitende Post-hoc-Analysen zustande kamen. «Angesichts dieser Überlegungen nicht überraschend bleibt die Assoziation (oder gar ein Ursache-Wirkung-Effekt) zwischen Androgenentzug und kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen kontrovers und wird weiter untersucht», resümieren die Autoren und fahren äusserst vorsichtig fort: «Zum jetzigen Zeitpunkt und auf Basis der angeführten Daten hält es
das Schreibkomitee für vernünftig, festzuhalten, dass eine Beziehung zwischen Androgenentzugstherapie und kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen bestehen kann.»
Müssen Kandidaten für eine Androgenentzugsbe-
handlung vorgängig speziell abgeklärt werden?
«Angesichts der metabolischen Auswirkungen einer Andro-
genentzugsbehandlung ist es ratsam, Patienten, bei denen eine
solche Therapie begonnen wurde, dem Hausarzt zu überwei-
sen zwecks periodischer Nachbeobachtungsuntersuchungen»,
schreiben die Experten. Diese Evaluation sollte BD-Messung,
Lipidprofil und Blutzuckerbestimmung umfassen. Da mit Ver-
änderungen schon früh nach Beginn des Androgenentzugs zu
rechnen ist, sollte eine erste Bestandesaufnahme nach 3 bis
6 Monaten erfolgen. In welchen Intervallen weiter kontrolliert
werden soll, muss offenbleiben, da dazu keine Daten vorlie-
gen. Hier müssen der Arzt, der die Androgenentzugsbehand-
lung eingeleitet hat, und der Hausarzt individuell entscheiden.
Bei einer Langzeit-Androgenunterdrückung ist es sicher sinn-
voll, Kontrollen mindestens jährlich durchzuführen.
«Es ist der Konsens dieses Schreibkomitees, dass Patienten, für
die von einem Androgenentzug ein Nutzen erwartet wird, vor
Behandlungsbeginn nicht an Internisten, Endokrinologen oder
Kardiologen zur Abklärung überwiesen werden müssen», hal-
ten die Autoren fest. Die Entscheidung für oder gegen eine An-
drogenentzugsbehandlung sollte unter Abwägung von Nutzen
und potenziellen Risiken durch denjenigen Arzt erfolgen, der
den Prostatakrebs behandelt. Besonders sorgfältig sollte diese
Indikationsstellung bei Männern mit bekannter Koronarer-
krankung erfolgen.
Nach Auffassung der Expertengruppe ist eine Assoziation zwi-
schen Androgenentzugsbehandlung und Herz-Kreislauf-Ri-
siko möglich. Selbst wenn eine kausale Beziehung einmal de-
finitiv etabliert werden kann, gibt es keine Anhaltspunkte für
irgendeine spezifische Intervention, die das Risiko bei Prosta-
takarzinompatienten unter Androgenentzug senken könnte.
Dies bedeutet zum Beispiel, dass eine spezifische Abklärung
und allfällige Koronarintervention vor Beginn des Androge-
nentzugs nicht zwingend ist. Für vernünftig und guter Praxis
entsprechend halten die Autoren hingegen die allgemein emp-
fohlenen sekundärpräventiven Massnahmen wie Statinthera-
pie zur Lipidsenkung, antihypertensive Therapie, blutzucker-
senkende Behandlung bei erhöhten Glukose- und HbA1c-Wer-
ten, niedrig dosiertes Aspirin sofern keine eindeutigen
Kontraindikationen bestehen, sowie den Rat zum unbedingten
Rauchverzicht.
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Halid Bas
Glenn N. Levine et al. on behalf of the American Heart Association Council on Clinical Cardiology and Council on Epidemiology and Prevention, the American Cancer Society, and the American Urological Association: Androgen-deprivation therapy in prostate cancer and cardiovascular risk. CA Cancer J Clin 2010; 60: 194–201. doi: 10.3322/caac.20061.
Interessenkonflikte: Die Mitglieder des Schreibkomitees deklarieren Beraterbeziehungen zu diversen Pharmafirmen.
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