Metainformationen


Titel
Arsenicum: Träne im Knopfloch
Untertitel
-
Lead
Meine MPA diskutieren, ob Frau/Mann in der Öffentlichkeit weinen darf. Hochbezahlten Menschen wie Topsportlern nehmen sie es sehr übel. Sogar unserem Roger! Und ganz besonders den erfolglosen italienischen Flasche-leer-Nationalspielern. Athleten und Chefs sollen starke Sieger sein. Da gibts nix zu weinen, weder in Freud noch in Leid. Mein Einwand, dass sowohl griechische Helden wie auch Solisten und Chöre bei Johann Sebastian Bach heisse Zähren fliessen lassen, verhallt. «Boys don't cry», fordern sie, genau wie The Cure.
Datum
Autoren
-
Rubrik
Rubriken
Schlagworte
-
Artikel-ID
659
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/659
Download

Transkript


arsenicum
M eine MPA diskutieren, ob Frau/Mann in der Öffentlichkeit weinen darf. Hochbezahlten Menschen wie Topsportlern nehmen sie es sehr übel. Sogar unserem Roger! Und ganz besonders den erfolglosen italienischen Flasche-leer-Nationalspielern. Athleten und Chefs sollen starke Sieger sein. Da gibts nix zu weinen, weder in Freud noch in Leid. Mein Einwand, dass sowohl griechische Helden wie auch Solisten und Chöre bei Johann Sebastian Bach heisse Zähren fliessen lassen, verhallt. «Boys don't cry», fordern sie, genau wie The Cure. Den starken Mann wollen diese jungen Frauen, der zwar äusserst sensibel Frauen verstehen muss, aber selbst nicht das Weichei raushängen darf. Sie sind auch anderer Meinung als Michael Holm, der «Tränen lügen nicht!» schnulzte. «Verlogene Krokodilstränen!», wettern sie. Speziell bei weinenden Politikern oder Wirtschaftsbossen. Und Frauen, so das harte Urteil der Geschlechtsgenossinen, heulten oft aus Kalkül, damit Männer weich würden. Da ist was dran. Am rechten Ort weinen tut manchmal Wunder – das weiss nicht nur Harry Potter. Sondern auch meine Frau, die berechnend und erfolgreich weint. Tränen rühren eben – erzeugen oft Mitgefühl, werden als Emotion aufgefasst. Als tief empfundenes Beileid wertete man es, als ich bei einem Begräbnis in der Pollensaison einmal die Antiallergika vergessen hatte und mir die roten Augen und die Schnudernase abtupfte. Dabei kannte ich den Verstorbenen gar nicht … Wenn Patienten egal welchen Geschlechts weinen, fühle ich mich oft hilflos. Wenn es nach Verlusterlebnissen geschieht, in tiefer Trauer nach einem Todesfall, im Rahmen einer Depression oder aus nachfühlbarer Wut nach einer missbräuchlichen Kündigung, kann der Hausarzt noch Trost und Rat geben. Er weiss, dass die Zeit alle Wunden heilt, genau wie die Tränen des Phoenix. Verlegen biete ich die stets parat stehende Box mit Papiernastüchlein an. Oft fragen die Patienten dann, ob sie nicht die Einzigen sind, die hier weinen. «Nein!», sage ich dann. «Sie sind in bester und grosser Gesellschaft. Und wo sollte man weinen dürfen, wenn nicht beim Hausarzt?» Viele können dann schon wieder unter Tränen lächeln. Das legitimierte Weinen beim bezahlten Helfer mit Schweigepflicht wirkt heilend. Doch wenn todkranke Patienten, die ich seit Jahren begleite und als tapfere, optimistische Menschen kenne, lautlose Tränen weinen, komme ich

mir völlig unnütz vor. Diese Tränen gehen sozusagen unter die Haut. Sie zeugen von seelischen und körperlichen Schmerzen, von Verzweiflung über die Endlichkeit unseres Lebens – all dem, gegen das man als Arzt antritt. «Grenzen Sie sich ab!», rät der Supervisor. Leicht gesagt, schwer getan. Ich hänge dann lieber mal durch und meinen Gedanken nach. Lege «Tears in heaven» von Eric Clapton auf und grummele melancholisch über das Leid dieser Welt und seiner Kreaturen. Irgendwann bin ich das Leid dann leid und ermahne mich selbst, dass es mein Job ist, einen winzigen Teil dieses Leides auf starke Schultern zu nehmen und nicht selbst zu jammern. Franz Grillparzer fordert: «Das sind die Starken, die unter Tränen lachen, eigene Sorgen verbergen und andere glücklich machen.» Der Mensch kann glücklicherweise nur eine begrenzte Zeit traurig sein, deshalb sind Leichenmahle so vergnüglich: Die Stimmung schlägt um. Mehr als 1 g Tränenflüssigkeit bilden wir sowieso meist nicht. Buben und Professionelle, so drillte man meine Generation, weinen nicht. Ob der Leitsatz richtig war, sei mal dahingestellt. Dient die salzige Körperflüssigkeit primär der Reinigung des Bindehautsacks, der Befeuchtung und Ernährung der Hornhaut? Oder unseren Emotionen? Soll sie die optischen Eigenschaften unseres Auges verbessern oder Gram wegspülen? Auf jeden Fall, so die Kollegen aus der Ophthalmologie, ist ein trockenes Auge gefährlich und kann in extremen Fällen bis hin zur Erblindung führen. Daher wurden künstliche Tränen erfunden. Kein Auge bleibt trocken, wenn man genügend zum Lachen hat. Was zur Entwicklung der Humor-Therapie geführt hat. Etwas erschreckend, dass etwas so Spontanes wie das Lachen nun gezielt als Behandlung eingesetzt wird. Darf man(n) denn jetzt nicht mehr weinen? In sanftem Kreolisch sang Bob Marley: «No woman no cry». Das heisst aber keineswegs, dass man(n) ohne Frauen keine Sorgen mehr hätte. Sondern Marley wollte damit seiner Frau sagen, dass sie nicht weinen solle, weil er Affären hatte. Wobei wir wieder bei der Wirkung von Tränen auf sich selbst und andere wären. «Soll ich lachen oder weinen?», murmele ich. «Untersteh dich zu weinen!», rufen meine Frau und die MPA unisono.

Träne im Knopfloch

582 ARS MEDICI 15 ■ 2010