Transkript
FORTBILDUNG
Herrscht ein weiterer «Salzkrieg»?
Clopidogrelgenerika
Plavix® (Clopidogrel, Sanofi-Aventis) ist ein spezifischer Thrombozytenaggregationshemmer, dessen Wirkung durch die Hemmung von Adenonsindiphosphat zustande kommt. Er wird zur Prävention thrombotischer Ereignisse in Kombination mit oder als Alternative zu Acetylsalicylsäure verwendet. Bis zum 1. April 2010 waren auf dem Schweizer Markt nur zwei Generika erhältlich: Clopidogrel-Mepha® und Clopidogrel Sandoz®. Alle drei Spezialitäten enthalten 75 mg Clopidogrelbase in unterschiedlicher Salzform, und diese beiden Generika decken nicht die gesamten Indikationen des Originals ab (1). Seit dem 1. Juni 2010 gibt es als Co-Marketing-Präparat auch ein Generikum des Plavix®-Herstellers mit gegenüber dem Originalpräparat identischer Salzform. Dieser Beitrag erläutert die regulatorischen und pharmazeutischen Aspekte für eine sichere und effiziente Verwendung von Clopidogrelgenerika.
JÉRÔME BERGER, OLIVIER BUGNON
Seit dem 1. April 2010 waren vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) drei clopidogrelhaltige Spezialitäten in der Spezialitätenliste (SL) aufgeführt: Plavix®, Clopidogrel-Mepha® und Clopidogrel Sandoz®. Diese drei Spezialitäten enthalten nicht dieselben Clopidogrelsalze (Tabelle 1), und diese Generika decken nicht die gesamten Indikationen des Originals ab (Tabelle 2). Diese Unterschiede werfen folgende Frage auf: Kann
ein Generikum mit einem anderen Salz und anderen Indikationen als das Original ohne Gefahr für die Patientinnen und Patienten zur Substitution verwendet werden? Diese Frage steht im Zentrum des intensiven kommerziellen Wettbewerbs, der unter den pharmazeutischen Unternehmen zurzeit herrscht. Die Kontroversen wirken sich allerdings störend auf die Arbeit von Ärzten und Apothekern aus, und die Situation gleicht dem «Salzkrieg», der bei der Einführung der Amlodipingenerika (Norvasc®) stattfand.
Zur Auffrischung: Bioäquivalenzstudien und Generika Wenn die Bioäquivalenz eines Generikums mit dem Original belegt wurde, gilt, dass das Generikum ausgetauscht werden kann (2). Für den Nachweis dieser Bioäquivalenz werden Blutspiegelmessungen bei gesunden Freiwilligen (in der Regel 24 bis 48 Personen) zum Vergleich der Blutspiegel-Zeit-Kurven (AUC), der maximalen Plasmakonzentrationen (Cmax) und der Absorptionsgeschwindigkeiten durchgeführt. Die beiden Probandengruppen (Original versus Generikum) werden anschliessend mithilfe statistischer Methoden verglichen. Um Bioäquivalenz nachzuweisen, muss das 90%-Konfidenzintervall vollständig im Bereich von 80 bis 125% liegen (3).
Merksätze
■ Laut vielen Studien sind in klinischer Hinsicht die Originalmedikamente den Generika nicht überlegen.
■ Sie sind somit austauschbar, sofern man zum Zeitpunkt der Substitution einige Vorsichtsmassnahmen sowie die gute Information und die Akzeptanz des Patienten berücksichtigt.
■ Zurzeit sind vom Wirkstoff Clopidogrel Generika mit verschiedenen Salzen zugelassen.
■ Aus pharmakologischer und medizinischer Sicht kann der Praktiker Generikum und Original austauschen, ohne den Salztyp zu berücksichtigen, aber unter Beachtung der Vorsichtsmassnahmen.
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HERRSCHT EIN WEITERER «SALZKRIEG»?
Tabelle 1: Clopidogrelsalze in den Spezialitäten, Tabelle 1: die in der Schweiz erhältlich sind
Tabelle 1: (Stand: 1. Juni 2010)
Spezialität Plavix® Clopidogrel-Mepha® Clopidogrel Sandoz® Clopidogrel Winthrop®
Salz Clopidogrelhydrogensulfat Clopidogrelhydrochlorid Clopidogrelbesilat Clopidogrelhydrogensulfat
Zahlreiche Studien, besonders das kardiovaskuläre System betreffend, haben gezeigt, dass in klinischer Hinsicht die Originalmedikamente den Generika nicht überlegen sind (4). Sie sind somit austauschbar, sofern man zum Zeitpunkt der Substitution einige Vorsichtsmassnahmen beachtet wie grosse Vorsicht bei Medikamenten mit enger therapeutischer Breite (z.B. Antiepileptika oder Immunsuppressiva), gute Information und Akzeptanz des Patienten oder allfällige Allergien auf Hilfsstoffe berücksichtigt (diese unterscheiden sich oft von Spezialität zu Spezialität) (2). Diese Vorsichtsmassnahmen gelten beim Wechsel vom Original zu einem Generikum ebenso wie beim Wechsel von einem Generikum zum Original!
Ein anderes Salz – ist es trotzdem ein Generikum? Swissmedic präzisiert: «Unterschiedliche Salze (...) werden als dieselbe aktive Substanz, das heisst, der gleiche Wirkstoff angesehen, sofern die Gesuchstellerin belegen kann, dass weder Sicherheit noch Wirksamkeit durch den Austausch beeinflusst werden.» Beim Gesuch um Zulassung eines Generikums mit einem Salz, das sich von demjenigen des Originals unterscheidet, sind deshalb zusätzliche präklinische Daten (z.B.
Pharmakodynamik, Pharmakokinetik oder Toxikologie) einzureichen (5). Gleich wie bei jedem Generikum überzeugen sich im vorliegenden Fall die Behörden (in der Schweiz: Swissmedic) von der Bioäquivalenz zwischen Generikum und Original. Dies ist keine schweizerische Besonderheit; auch die EU-Behörden und andere gehen gleichermassen vor (6). Bekanntlich entspricht die Wirkstoffabsorption im Gastrointestinaltrakt einem passiven Transfer, bestimmt durch die Ionisierung und Lipidlöslichkeit des Moleküls (7). Der Salztyp kann also eine Rolle bei der Ionisierung, der Absorptionsgeschwindigkeit und damit der Pharmakokinetik des Moleküls spielen. Besteht auf pharmakokinetischer Ebene Bioäquivalenz, wie dies bei Generika der Fall ist, spielt der Salztyp bei der Wirkung des Medikaments keine Rolle. Aus pharmakologischer und medizinischer Sicht kann der Praktiker somit Generikum und Original austauschen, ohne den Salztyp zu berücksichtigen, aber unter Beachtung der vorstehend erwähnten Vorsichtsmassnahmen. Die Aufnahme eines Generikums in die SL durch das BAG gibt sodann dem Apotheker oder der Apothekerin das Recht zur Substitution gemäss KVG.
Wieso hat ein Generikum nicht immer dieselben Indikationen wie das Original? Nicht selten decken Generika weniger Indikationen als ein Original ab. Nach Erhalt der Marktzulassung kann der Hersteller eines Medikaments nämlich die Zulassung für neue Indikationen erlangen, die auf zusätzlichen klinischen Studien basieren. In Fällen, in denen durch diese Indikationen eine «bedeutende therapeutische Verbesserung» erzielt wird, wird eine Verlängerung der Schutzdauer für diese Indikation auf fünf Jahre gewährt (8). Ein Generikahersteller darf diese Indikation deshalb nicht sofort beanspruchen. Ein langer Prozess, bei dem es auch um Fragen des geistigen Eigentums und regula-
Tabelle 2: Indikationen der clopidogrelhaltigen SL-Spezialitäten (Stand: 1. Juni 2010)
Indikation
Plavix®
Clopidogrel-Mepha® Clopidogrel Sandoz®
Clopidogrel Winthrop®
Prävention atherothrombotischer Ereignisse wie Herzinfarkt, Schlaganfall, vaskulär bedingter Tod bei Patienten mit kürzlich zurückliegendem Schlaganfall (7 Tage bis etwa 6 Monate), kürzlich zurückliegendem Herzinfarkt (wenige Tage bis 5 Wochen) oder manifester peripherer arterieller Verschlusskrankheit.
In Kombination mit ASS bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung (instabile Angina pectoris oder Non-Q-wave-Infarkt)
In Kombination mit ASS nach Fibrinolyse bei akutem Myokardinfarkt mit ST-Streckenhebung
Clopidogrel wird in Kombination mit ASS zur Prävention thrombotischer Ereignisse nach Koronarstentimplantation verwendet.
Hinweis: Der akute Myokardinfarkt mit ST-Streckenhebung ist ein akutes Koronarsymptom, dem man in der ambulanten Praxis nicht begegnet!
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torische Belange geht, kommt in Gang, um zu versuchen, möglichst schnell die gleichen Indikationen wie das Original zu erhalten; dies zeigt sich anhand der derzeitigen Unterschiede zwischen den beiden Generika (Tabelle 2). Streng juristisch gesehen, ist die Substitution eines Originalmedikaments durch ein Generikum, das die Indikation, für die es eingesetzt wird, nicht abdeckt, gleichbedeutend mit einem Off-Label-Gebrauch des Generikums. Dieser Gebrauch ist zulässig, sofern die «anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften beachtet werden» (9). Vom Moment an, da ein unterschiedliches Salz von den Behörden als bioäquivalent anerkannt wurde, darf man davon ausgehen, dass diese Regeln eingehalten wurden, und ein Generikum mit unterschiedlichem Salz verabreichen, wobei man sich auf die klinischen Daten des Originals stützt.
Welcher Schluss lässt sich daraus ziehen? 2008 betrug der weltweite Umsatz von Plavix® 2616 Millionen Euro (10). Es ist deshalb legitim, dass Sanofi-Aventis erklärt, «alle verfügbaren administrativen und rechtlichen Verfahren, um den angemessenen Schutz der Rechte in dieser Angelegenheit zu gewährleisten», in Anspruch nehmen zu wollen. Gemäss ihrem Standpunkt sollte es nicht möglich sein, dass sich Zulassungsgesuche für Generika auf die Daten eines Originals mit einem anderen Salz abstützen (11). Wie erwähnt, ist es aus medizinischer, pharmazeutischer und juristischer Sicht möglich, ein Original durch ein Generikum zu ersetzen, das ein anderes Wirkstoffsalz enthält. Swissmedic und das BAG haben den in der SL aufgeführten Clopidogrelgenerika alle nötigen Bewilligungen erteilt. Der Aufruhr infolge
des laufenden, lebhaften, kommerziellen Wettbewerbs ist kein hinreichendes Argument, um die Behörden anzuzweifeln, dem Gesundheitssystem Massnahmen zur Kostenkontrolle zu entziehen sowie Ärzte und Apotheker in ihrer vom KVG auferlegten Aufgabe der Effizienzverbesserung einzuschränken. ■
Korrespondenzadresse: Dr. Jérôme Berger und Prof. Olivier Bugnon Pharmacie de la Policlinique Médicale Universitaire
Rue du Bugnon 44 1011 Lausanne
Interessenkonflikte: keine
Quellen: 1. www.kompendium.ch: Monografien Plavix®, Clopidogrel-Mepha®, Clopidogrel Sandoz®. 2. pharmaJournal 2006, 20: 5–8. 3. Guideline of the investigation of bioequivalence, CPM/EWP/QWP/1401/98 Rev. 1. 4. The Medical Letter, 2009, 51 (1323): 81–82. 5. Swissmedic: Verwaltungsverordnung — Anleitung — Einreichung und Zulassung von Generika
(www.swissmedic.ch/org/00064/00067/00331/00629/index.html?lng=de&download=NHzLpZeg7t, Inp6IONTU042I2Z6In1acy4Zn4Z2qZpnO2Yuq2Z6gpJCIdYN6fGym162epYbg2c_JjKbNoKSn6A--) 6. Committee for medicinal products for human use; May 2009, plenary meeting monthly report; EMEA/ CHMP/330510/2009. 7. Pharmacology 3rd ed. (1995); H.P. Rang et al., Verlag Churchill Livingstone, S. 74. 8. Arzneimittelverordnung (VAM), Art. 17. 9. Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte (HMG), Art. 26. 10. Pressemitteilung Sanofi-Aventis vom 11. Februar 2009: Résultat 2008 supérieur aux perspectives annoncées. 11. Pressemitteilung Sanofi-Aventis vom 29. Mai 2009: Mis à jour sur les demandes d‘AMM centralisées pour clopidogrel dans l'Union Européenne.
Diese Arbeit erschien zuerst in «pharmaJournal» 09; 4/2010 und wurde auf den Stand 1. Juni 2010 aktualisiert. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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