Transkript
FORTBILDUNG
Betreuung chronischer Schmerzpatienten
Rolle des Hausarztes — diagnostische Entscheidungshilfen
Komplexe, chronische Schmerzprobleme entwickeln sich unterschiedlich schnell. Deshalb ist es für den betreuenden Arzt oftmals sehr schwer, den richtigen Zeitpunkt für den Beginn einer speziellen, auf den Schmerz als eigenständiges Problem ausgerichteten Behandlung zu bestimmen. Die Erkennung und Bewertung chronischer Schmerzen mithilfe des Mainzer Stadienkonzepts zur Schmerzchronifizierung stellt ein effizientes und wichtiges Hilfsmittel für den Hausarzt dar.
ANDRÉ LJUTOW
Wir alle kennen Patienten wie Frau S., deren Krankengeschichte sich langsam entwickelt und am Ende in ein Labyrinth aus Symptomen, Befunden und Bildern mündet, wo kein Puzzlestein zum anderen zu passen scheint. Trotz Polymedikation und anderen Therapien zeigt sich keine nachhaltige Besserung (siehe Kasten). Als Aussenstehender beurteilt jeder von uns die Situation klar: Frau S. ist eine chronische Schmerzpatientin. Ihre Schmerzen haben überwiegend den Warncharakter als Symptom einer akuten Erkrankung verloren und sind zu einer eigenständigen Erkrankung geworden. Dabei spielen biologische (somatische), psychische und soziale Faktoren eine Rolle. Einzelne, monomodale Therapieversuche lindern allenfalls kurzfristig und «helfen» eher die Situation zu perpetuieren. Gerade weil sich die Komplexität der Patienten aber schrittweise aufbaut, ist es für den betreuenden Haus- oder Facharzt schwer zu erkennen, ab wann etwas Grundsätzliches nicht mehr stimmt und die Schmerzchronifizierung ihren Lauf nimmt.
Unter- und Fehlversorgung chronischer Schmerzpatienten In der Praxis gehören Schmerzen immer noch zu den häufigsten Gründen, den Arzt aufzusuchen. Rund 40 Prozent dieser Patienten leiden unter chronischen Schmerzen (1). Die Studie von Breivik (2) weist für die Schweiz eine Quote von 16 Prozent der Bevölkerung aus, die seit Langem unter schweren, chronischen Schmerzen leidet. Nicht zuletzt wegen dieser für ganz Europa aufrüttelnden Ergebnisse hatte die EFIC (European Federation of IASP Chapters [IASP: International Association for the Study of Pain]) schon 2007 in einem Positionspapier die Gründe für die Unter- oder Fehlversorgung der Schmerzpatienten dargelegt (3): ■ falsche Einschätzung der Schmerzproblematik durch den
Primärbehandler ■ fehlendes Problembewusstsein bei den gesundheitspoliti-
schen Entscheidungsträgern und damit fehlende Anreize für adäquate Strukturen zur Diagnostik und Versorgung dieser Patientengruppe ■ zu wenige oder fehlende multidisziplinäre Schmerzbehandlungseinrichtungen ■ zu geringe schmerzmedizinische Ausbildung in Studium, Fort- und Weiterbildung ■ fehlende Spezialisten (weniger als 100 Schmerzspezialisten auf 1 Million Patienten in Europa).
Merksätze
■ Eine frühe Erkennung chronischer Schmerzen hilft komplexe Schmerzprobleme zu verhindern. Ein Hilfsmittel ist das Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen.
■ Die Behandlung eines Patienten durch Schmerzspezialisten sollte in Kooperation mit dem Hausarzt erfolgen.
■ Therapieziele sind vor allem Schmerzbewältigung und Aktivierung des Patienten, nicht Schmerzfreiheit.
■ Bei Persistenz der Schmerzen oder Therapieresistenz ist eine frühzeitige Vermittlung an ein interdisziplinäres, multimodal arbeitendes Schmerzzentrum ratsam.
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BETREUUNG CHRONISCHER SCHMERZPATIENTEN
Kasten: Frau S., eine typische Schmerzpatientin
Frau S. sitzt wie so oft im Sprechzimmer von Dr. Beat H. In den letzten Jahren haben ihre Besuche beim Hausarzt zugenommen. Früher kam sie nur gelegentlich wegen der Pollenallergie oder einer Grippe. Dann kamen die Kopfschmerzen, die aber noch gut auf Analgetika reagierten. Es folgten wenige Jahre später die gastrointestinalen Beschwerden, die schliesslich die Gallenoperation erforderten. Gelegentlich klagt sie aber auch jetzt noch über eher unspezifisches Unwohlsein. Ein empfindlicher Magen-Darm-Trakt ist geblieben. Auf eine Episode heftiger Rückenschmerzen folgte dann dieser Autounfall mit dem Schleudertrauma. Die Kopfschmerzen reagierten nun nicht mehr auf Analgetika, auch nicht auf Migränemittel, der Nackenschmerz blieb, auch der Rückenschmerz meldete sich wieder. Hinzu kamen Probleme am Arbeitsplatz wegen Konzentrationsstörungen. Dr. H. vermutet in letzter Zeit auch Konflikte zu Hause in der Familie, obwohl Frau S. darüber nicht spricht. Aber sie wirkt zunehmend stiller und zurückgezogener. Gelegentlich hat sie auch über Schlafprobleme geklagt. Er hat von seiner Ehefrau gehört, dass Frau S. auch nicht mehr in den Kirchenchor und die Frauenturngruppe kommt. Aber auch die Rehabilitation nach dem Schleudertrauma hat nur wenig gebracht.
Heute nun beklagt sie Schulterschmerzen links, die in den linken Arm ziehen. Gelegentlich kribbelt der Arm, und ihr sind schon Dinge aus der Hand gefallen. Soll er nun zu den Morphinpflastern, die sie zurzeit bekommt, ein weiteres Schmerzmittel geben? Soll er röntgen? Bei anderen Bildgebungen ist meistens kein wesentlicher Befund erhoben worden. Soll er sie wegen der Schulter zum Orthopäden oder wegen der ausstrahlenden Schmerzen zum Neurologen schicken? Dabei plagt ihn das Gefühl, dass ja wahrscheinlich, wie so oft, auch diesmal nichts dabei herauskommen wird.
Schon vor 20 Jahren hat die IASP eine Klassifikation verschiedener Schmerzbehandlungseinrichtungen vorgeschlagen, und aktuelle internationale Vergleiche zeigen die unterschiedlichen Strukturen in verschiedenen Ländern auf (4, 5). Allen gemeinsam ist eine gestufte, der Komplexität der Patienten angepasste Leiter oder Pyramide in Aufbau, Angebot und Umfang der schmerzmedizinischen Einrichtungen. Die Organisation der Behandlung in Ärzteteams mit dem Fokus auf krankheits- und nicht fachgebietsspezifische Angebote, wie sie in der Schmerzmedizin in interdisziplinären Einrichtungen besteht, ist überdies eine zentrale Forderung von Wirtschaftswissenschaftlern wie Elizabeth Olmsted Teisberg. Sie forderte 2007 in einer Studie zum schweizerischen Gesundheitswesen ein Umdenken in der Diskussion um die steigenden Gesundheitskosten. Das Augenmerk der Gesundheitspolitik müsse sich nicht auf die reinen Kosten, sondern auf die Steigerung des Patientennutzens richten und sich an der Qualität der Ergebnisse orientieren. Eine solche Neuausrichtung
auf den Patientennutzen würde sich auch finanziell lohnen, denn eine gesunde Bevölkerung koste weniger als eine kranke, so Teisberg. Die Effektivität solcher interdisziplinären, multimodalen Schmerztherapieeinrichtungen ist mittlerweile international gut dokumentiert (6). Besonders die schmerztherapeutischen Tageskliniken haben sich in Deutschland aufgrund ihrer therapeutischen Effektivität und Kosteneffizienz gut etabliert (7). In der Schweiz sind solche Angebote erst im Aufbau und nur vereinzelt zu finden.
Die Pyramide der Schmerzversorgung Patienten mit akuten Schmerzen sollten in der Regel von ihrem Hausarzt oder dem akut behandelnden Facharzt betreut werden. Der Hausarzt kennt den Patienten oft über einen längeren Zeitraum, er weiss über vergangene Krankheiten oder bestehende chronische Krankheiten Bescheid und kann somit oftmals einen akut auftretenden Schmerz schnell einordnen und effektiv behandeln. Länger anhaltende Schmerzen bergen die Gefahr der Chronifizierung. Aber ab wann ist ein Schmerz chronisch und wann muss der Patient eine weiterführende Behandlung bekommen? Erinnern wir uns an Frau S.: Nach adäquater Behandlung der akuten Schmerzursache sollten die Schmerzen innerhalb von 4 bis 6 Wochen eine eindeutige Besserungstendenz zeigen. Andernfalls ist die Ausweitung der Therapie durch Hinzuziehen eines Schmerzspezialisten zu planen. Die weiterführende Behandlung der chronischen Schmerzen kann durch einen niedergelassenen Schmerzspezialisten in der Klinik, in einem Ambulatorium oder in der Praxis erfolgen. Dieser sollte möglichst in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt eine ausreichende Schmerzlinderung anstreben. Niedergelassene Schmerzspezialisten sind oft Anästhesisten, aber auch Neurologen, Neurochirurgen oder Rheumatologen, die sich aus ihrem Fachgebiet heraus auf die Behandlung von Schmerzen spezialisiert haben. Ein einzelner Schmerztherapeut kann sicherlich nicht alle Arten chronischer Schmerzen umfassend behandeln. Aus diesem Grund haben sich ambulante und stationäre Schmerztherapieeinrichtungen gebildet. Diese bilden die nächste Versorgungsstufe. Solche Schmerzzentren bestehen aus Medizinern verschiedener Fachrichtungen. Hier arbeiten in der Regel Anästhesisten, Neurologen, Rheumatologen und Orthopäden gemeinsam mit Psychologen und Psychiatern. Ergänzt wird das Team durch eigens geschultes Pflegepersonal sowie eigene, auf Schmerzbehandlung spezialisierte Physio- und Ergotherapeuten. Diese übergeordneten Schmerzzentren sollten nicht erst in die Behandlung einbezogen werden, wenn der Schmerz seit Jahren chronisch ist. Dann kann auch die Behandlung in einem solchen Zentrum nur sehr begrenzte Erfolgsaussichten haben. Sobald das Therapieziel nicht erreicht wurde, ist eine Weiterleitung des Patienten an die nächst höhere Versorgungsstufe anzustreben. Der Hausarzt kennt in der Regel das Leistungsspektrum der einzelnen Schmerztherapeuten beziehungsweise der schmerztherapeutischen Einrichtungen und kann deshalb den Patienten gezielt weiterempfehlen.
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FORTBILDUNG
Therapieziel Schmerzfreiheit? Anzustreben ist eine ausreichende Schmerzreduktion, die es dem Patienten erlaubt, sowohl seiner Berufstätigkeit als auch seinen Hobbys und Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Das bedeutet nicht, dass der Patient absolut schmerzfrei ist. Völlige Schmerzfreiheit ist oftmals, speziell bei chronischen Schmerzen, nicht zu erreichen. Massstab für den Erfolg ist die gesteigerte Funktion, nicht die Schmerzreduktion. Wird das Ziel einer ausreichenden Schmerzreduktion und gleichzeitigen Aktivierung nicht in angemessener Behandlungszeit erreicht, kann der Patient einer übergeordneten Schmerztherapieeinrichtung zur umfassenden Abklärung zugeleitet werden. Jeder, der Patienten mit chronischen Schmerzen behandelt, sollte klare Zielsetzungen und Zeitfenster beachten. Wichtig ist bei der Behandlung von Schmerzen die frühzeitige Einbeziehung des Patienten als aktiver Partner in der Schmerzbehandlung. Der Patient, der eine passive Rolle einnimmt, sich «behandeln lässt» und dann eine vollständige Schmerzfreiheit erwartet, wird Enttäuschungen erleben. Die aktive Mitarbeit des Patienten zur Schmerzbewältigung ist unabdingbar.
Entscheidungshilfe für den Hausarzt Um das Ausmass der Schmerzen und ihre Komplexität abzuschätzen, reicht die Frage nach der Schmerzstärke nicht aus. Die klassische medizinische Anamnese erfasst in der Regel bereits viele Variablen des Chronifizierungsprozesses, sodass nur wenige zusätzliche Fragen notwendig sind, um eine Standortbestimmung des Patienten anhand des Mainzer Stadienmodells der Schmerzchronifizierung (MPSS) durchzuführen. Im MPSS werden zeitliche (Häufigkeit, Dauer, Intensität) und räumliche (Lokalisation) Aspekte der Schmerzen sowie die Medikamenteneinnahme in den letzten 4 Wochen und die Patientenkarriere mithilfe von 10 Fragen erfasst. Punktwerte definieren 3 Stadien. Die Unterlagen zum MPSS stehen als Download auf www.schmerz-nottwil.ch zur Verfügung (Linktipp). Die Zuordnung des Patienten zum Stadium I zeigt eine geringe Chronifizierung oder Komplexität an. In der Regel liegen wenige medizinische Begleiterkrankungen, psychische Erkrankungen oder soziale Belastungen vor, und das Ansprechen auf eine adäquate Therapie bietet gute Aussichten auf Erfolg. Ab Stadium II ist eine multidisziplinäre Therapie angezeigt. Die Zuordnung zum Stadium III ist oft verknüpft mit einem multilokulären Schmerzbild (dem gleichzeitigen Vorliegen verschiedener Schmerzen), dem Vorliegen von medizinischen Begleiterkrankungen, dem Auftreten von Stimmungseinbrüchen oder manifesten psychischen Erkrankungen und auch sozialen Problemen. Typischerweise ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität dieser Patienten in allen Dimensionen stark beeinträchtigt. Dementsprechend ist ein einzelner Therapeut hier
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Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen: Download und Testanweisung unter www.schmerz-nottwil.ch Rubrik: Downloads >> Diverse Downloads
Testanweisung: Fragebogen zur Schmerzchronifizierung, Testanweisung ... Auswertungsformular: Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung, Auswertungsformular … Weitere Erläuterungen: Schmerzklassifikation, Buchbeitrag von Prof. Gerbershagen ...
überfordert. Eine Chance besteht in einem fachübergreifenden
Therapieangebot durch ein spezialisiertes Team.
Die Übergänge zwischen den Stadien sind fliessend und all-
mählich. Sie verlaufen zeitlich sehr variabel, oft sehr schnell.
Mit der Stadienzuordnung hat der Haus- oder Facharzt ein
diagnostisches Instrument in der Hand, das eine wichtige
Entscheidungshilfe in der Therapieplanung des Patienten
darstellt.
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Dr. med. André Ljutow, MSc Oberarzt, Orthopäde
Zentrum für Schmerzmedizin Schweizer Paraplegiker-Zentrum
Postfach 6207 Nottwil Tel. 041-939 49 00 Fax 041-939 49 30 E-Mail: andre.ljutow@paranet.ch
Literatur: 1. Friessem CH, Willweber-Strumpf A, Zenz MW: Chronic pain in primary care. German figures from
1991 and 2006. BMC Public Health 2009; 9: 299. 2. Breivik H, Collett B, Ventafridda V, Cohen R, Gallacher D: Survey of chronic pain in Europe: Preva-
lence, impact on daily life, and treatment. Eur J Pain 2006; 10: 287—333. 3. Niv D, Devor M: Position paper on the subject of pain management. Eur J Pain 2007; 11: 487—489. 4. Dobkin PL, Boothroyd LJ: Organizing Health Services for Patients with Chronic Pain: When There
Is a Will There Is a Way. Pain Medicine 2008: 9 (7): 881—889. 5. Peng P et al.: Challenges in accessing multidisciplinary pain treatment facilities in Canada. Can
J Anesth 2007; 54 (12): 977—984. 6. Schatman ME, Campbell A (Eds): Chronic Pain Management. Guidelines for multidisciplinary
program development. Informa Healthcare USA, New York 2007. 7. Pöhlmann K, Tonhauser T, Joraschky P, Arnold B: Die Multimodale Schmerztherapie Dachau. Daten
zur Wirksamkeit eines Diagnose-unabhängigen multimodalen Therapieprogramms bei Rückenschmerzen und anderen Schmerzen. Schmerz 2009; 1: 40—46.
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