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Titel
Ausschöpfung der Therapiemöglichkeiten bei Morbus Parkinson
Untertitel
Stadiengerechte Beeinflussung der motorischen und nicht motorischen Symptome entscheidend
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Zwar ist der Morbus Parkinson noch immer eine unheilbare, progressive Erkrankung, aber die Therapie kann funktionelle Fähigkeiten und die Lebensqualität substanziell verbessern.
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-
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MEDIZIN — Fortbildung
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681
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FORTBILDUNG
Ausschöpfung der Therapiemöglichkeiten bei Morbus Parkinson
Stadiengerechte Beeinflussung der motorischen und nicht motorischen Symptome entscheidend

Zwar ist der Morbus Parkinson noch immer eine un-
heilbare, progressive Erkrankung, aber die Therapie
kann funktionelle Fähigkeiten und die Lebensqualität
substanziell verbessern.
THE LANCET
Initialbehandlung «L-Dopa in Kombination mit einem Decarboxylasehemmer ist die effektivste Therapie und sollte – unabhängig vom Patientenalter – immer die initiale Behandlungsoption sein», schreiben Andrew L. Lees und Mitautoren in ihrer Fortbildungsübersicht im «Lancet». Die meisten Betroffenen können über die ersten 5 Erkrankungsjahre auf einer Tagesdosis von 300 bis 600 mg L-Dopa gehalten werden. Das individuelle Ansprechen auf die Behandlung ist grundsätzlich nicht vorhersehbar. Die motorischen Symptome bessern sich initial erfahrungsgemäss jedoch um 20 bis 70 Prozent. Müdigkeit, Bradykinesie, Muskelrigidität und Gang verbessern sich etwa 1 bis 2 Wochen nach Therapiebeginn, und dieser Behandlungseffekt wird über die folgenden 3 Monate noch ausgeprägter. Der Tremor ist therapeutisch oft schwieriger zu beeinflussen und verschwindet bei manchen Patienten erst nach einigen Behandlungsjahren. Sprache, Schlucken und Fallneigung können sich anfänglich ebenfalls bessern, aber diese Symptome sprechen generell schlechter an und scheinen im Langzeitverlauf einer therapeutischen Kontrolle eher zu entfliehen. Wenn die Dosierung sorgfältig langsam eingeschlichen wird, ist L-Dopa (Levodopa, Carbidopa/Levodopa Sandoz® CR, Madopar®, Sinemet®/CR) allgemein gut verträglich. Zu den frühen Nebenwirkungen gehören Nausea, Appetitlosigkeit oder Ohnmachtsanfälle. Daneben können früh auch schon neuropsychiatrische Probleme wie Hypomanie, Depression und Delir vorkommen. Wenige Patienten mit ausgeprägtem Tremor vertragen selbst kleine Dosen nicht. Die nicht ergolinen Dopaminagonisten (Pramipexol [Sifrol®], Ropinirol [Requip®], Rotigotin [Neupro®]) sind wirksame AntiParkinson-Medikamente, die im Gegensatz zu Levodopa in der Monotherapie keine Dyskinesien verursachen. Sie sind bei Patienten unter 55 Jahren sehr beliebt. Oft genug ist jedoch schon

innert 3 Jahren nach Diagnose Levodopa nötig, schreiben die britischen Fachleute. Auch Dopaminagonisten können initial schon gastrointestinale und psychiatrische Nebenwirkungen erzeugen. Daneben sind Knöchelödeme, Schlafattacken und Impulskontrollstörungen (pathologische Spielsucht, Hypersexualität, Essanfälle, zwanghaftes Einkaufsverhalten) als gelegentliche Nebenwirkungen beschrieben, die einen Therapieabbruch nötig machen können. Die selektiven Monoaminooxidase-(MAO-)B-Hemmer Selegilin (Jumexal® oder Generika) und Rasagilin (Azilect®) sind gut verträglich und können als tägliche Einmaldosis eingenommen werden. Sie sind aber weniger wirksam als Levodopa oder Dopaminagonisten. Ihr grosses Plus scheint jedoch der verlangsamende Einfluss auf den frühen Krankheitsverlauf zu sein, weshalb sie als krankheitsmodifizierend gelten. Zwei neuere Studien fanden eine günstigere Beeinflussung gewisser Verlaufsparameter nach 72 Wochen, wenn die Behandlung sofort anstatt erst mit 6 Monaten Latenz einsetzte. Die klinische und biologische Relevanz dieser vielversprechenden Beobachtungen sollten jedoch mit einem längeren Follow-up noch sorgfältiger evaluiert werden, schreiben die Autoren. Auch Amantadin (PK-Merz®, Symmetrel®) ist eine gut verträgliche Substanz mit schwachem Anti-Parkinson-Effekt und kann initial eingesetzt werden.
Merksätze
■ Der Ausgleich des dopaminergen Defizits durch Levodopa und/oder Dopaminagonisten bleibt Grundpfeiler der Parkinson-Therapie.
■ Von MAO-B-Hemmern verspricht man sich einen neuroprotektiven Effekt; das zugrunde liegende Geschehen können sie jedoch nicht beeinflussen.
■ In späteren Stadien dominieren motorische Komplikationen sowie autonome und psychologische Störungen das Krankheitsbild, die teilweise durch Therapieanpassungen und gezielte Massnahmen günstig beeinflusst werden können.
■ Gegen die gefürchtete Neigung zu Stürzen können Physiotherapie und ein Übungsprogramm helfen.

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FORTBILDUNG

Tabelle: Behandlung autonomer und psychologischer Symptome

Symptome

Massnahmen

Insomnie

Parkinson-Medikamente anpassen, Schlafhygiene-Techniken oder Clonazepam (Rivotril®)

Depression

selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer oder Amitryptilin (Saroten® retard, Triptyzol®)

REM-Verhaltensstörungen Parkinson-Medikamente anpassen oder Clonazepam

Müdigkeit

Amantadin (PK-Merz®, Symmetrel®) oder Selegilin (Jumexal® oder Generika)

Tagesschläfrigkeit

Modafinil (Modasomil®)

Psychosen und Halluzinationen

Parkinson-Medikamente anpassen oder Antipsychotika (Clozapin [Leponex®, Quetiapin [Seroquel®] und Aripiprazol [Abilify®])

Obstipation

Osmotische Laxativa (Macrogol [Transipeg®])

Harndrang

Medikation überprüfen, anticholinergische Blasenstabilisatoren und Desmopressin (Minirin®, Nocutil®) bei Nykturie

Impotenz

Sildenafil (Viagra®), Tadalafil (Cialis®), Vardenafil (Levitra®)

Schmerzen

Parkinson-Medikamente anpassen, Muskelrelaxanzien

Restless Legs

Dopaminagonisten (z.B. Pramipexol [Sifrol®], Ropinirol [Adartrel®])

Orthostatische Hypotonie Parkinson-Medikamente anpassen; Wasser- und Salzaufnahme steigern; Fludrocortison (Florinef®), Ephedrin, Midodrin (Gutron®)

Speichelfluss

0,5% Atropin-Augentropfen sublingual, Scopolamin oder Botulinumtoxin-Injektionen in die Speicheldrüsen

Exzessives Schwitzen

Parkinson-Medikamente anpassen, Propanthelin, Propranolol (Inderal® oder Generika), topische aluminiumhaltige Cremen

Die Wirksamkeit und das Nebenwirkungsprofil müssen bei jedem dieser Wirkstoffe mit dem Patienten eingehend besprochen werden, wenn aus den Therapieoptionen ausgewählt wird. In diesem Zusammenhang erinnern Lees und Mitautoren an die bei Parkinson besonders eindrücklichen Plazeboreaktionen, die bei den Scores für motorische Beeinträchtigung initial ohne Weiteres 20 Prozent ausmachen können. Man vermutet eine Vermittlung durch mesolimbische dopaminerge Bahnen.
Behandlungsanpassungen im Verlauf Trotz Anpassungen bei den Verabreichungszeiten und der Dosisfrequenz von Levodopa können motorische Fluktuationen und neu auftretende unwillkürliche Bewegungen (Chorea, Athetose, Dystonien) den Langzeitbehandlungsnutzen beeinträchtigen. Hier kann die Kombination von Levodopa mit einem Catechol-O-Methyltransferase-(COMT-)Hemmer (Entacapon [Comtan®] oder als Kombinationspräparat Stalevo®) oder mit einem MAO-B-Hemmer frühe «wearing-off»-Phänomene (dosisabhängiges Nachlassen der Wirkung vor der nächsten Levodopadosis) günstig beeinflussen. Auch ein Teilersatz von Levodopa durch einen Dopaminagonisten kann helfen, levodopainduzierte Dyskinesien zu vermindern. In manchen Fällen bietet die subkutane Apomorphininjektion bei

unvorhersehbaren Off-Phasen eine rasche Hilfe, welche es den verunsicherten Patienten wieder erlaubt, das Haus zu verlassen. Amantadin, das auch ein Glutamatantagonist ist, kann bei manchen Patienten gegen Dyskinesien wirksam sein. Anticholinergika waren bei Fällen mit frühem Beginn und schmerzhaften Dystonien hilfreich. Führen diese Vorgehensweisen nicht zum Erfolg, steht als Zweitlinienmedikament noch der COMT-Hemmer Tolcapon (Tasmar®) zur Verfügung, bei dem die Indikation wegen der Möglichkeit eines akuten, auch tödlichen Leberversagens als Nebenwirkung nur unter Einschränkungen (Versagen von Alternativen) vom Spezialisten gestellt werden muss. Eine weitere Möglichkeit in Spezialistenhänden sind bei ansonst refraktären motorischen Fluktuationen die subkutanen Apomorphingaben aus einer Infusionspumpe. Kommt dies nicht infrage, besteht die Möglichkeit der enteralen Levodopa/Carbidopa-(Duodopa®-)Verabreichung über eine Nasoduodenalsonde. Sowohl parenterales Apomorphin als auch enterales Levodopa führen zu einer gleichmässigen dopaminergen Anflutung an das Hirn und sind in der Lage, Perioden von Immobilität und Dyskinesien um mehr als 50 Prozent zu reduzieren. Die tiefe Hirnstimulation ist ein neurochirurgischer Weg zur erfolgreichen Reduktion medikamentös induzierter unwillkürlicher Bewegungen. Nach solchen Eingriffen sind jedoch

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AUSSCHÖPFUNG DER THERAPIEMÖGLICHKEITEN BEI M. PARKINSON

ebenfalls teilweise gravierende Nebenwirkungen (Verhaltensprobleme, Schwierigkeiten bei der sozialen Anpassung) sowie Morbidität durch Infektionen beschrieben worden. Kurzzeitgedächtnis und Wachheit können durch Einsatz zentral wirksamer Cholinomimetika (z.B. Cholinesterasehemmer) verbessert werden, die auch einen Einfluss auf visuelle Halluzinationen aufweisen. Autonome und psychologische Symptome haben einen grossen Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Pflegenden. Die Tabelle gibt Hinweise zu den therapeutischen Optionen bei diesen Problemen. In vielen Fällen ist zunächst die bisherige Anti-Parkinson-Medikation zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Daneben können bei spezifischen Problemen gezielt zusätzliche Medikamente eingesetzt werden, was sorgfältige individuelle Nutzen-Risiko-Überlegungen erfordert. Neben dem kognitiven Niedergang bei älteren Patienten gehört die Fallneigung zu den eingreifendsten späten Komplikationen bei Parkinson. Die Furcht vor Stürzen kann zu zunehmender Immobilität und Abhängigkeit führen, was das Risiko für Depressionen, Osteoporose und schwere Obstipation erhöht. Die meisten Stürze bei Parkinson-Patienten gehen nach vorn sowie seitwärts und sind Folge von vielfältigen Problemen wie Schwierigkeiten bei Richtungsänderung, Asymmetrien bei Gang und Stand, Störungen beim Bewältigen gleichzeitiger Aufgaben, ausbleibenden Ausfallschritten und orthostatischem Myoklonus. Physiotherapie mit Fokus auf Gangsicherheit, Körperbalance und Muskelkraft sowie Gelenkbeweglichkeit kann hier sehr wirksam sein. Regelmässige mentale und körperliche Übungen sollten in jedem Krankheitsstadium gefördert werden. Benzodiazepine sind zu vermeiden, da sie das Sturzrisiko erhöhen.
Zukunftsperspektiven Lebenserwartung und Kontrolle von Bradykinesie und Tremor sind mit den heute verfügbaren Therapien verbessert worden, zu den zunehmend wichtigen therapeutisch nicht ausreichend beeinflussbaren Problemen gehören jedoch Fallneigung und

kognitive Beeinträchtigung. Bisher können auch neuroprotek-

tive Behandlungen den zugrunde liegenden pathologischen

Prozess nicht aufhalten, und die dopaminerge Therapie ist hin-

sichtlich der motorischen Behinderung alles andere als perfekt.

Eine neuere Behandlungsoption ist die Transplantation fetaler

mesenzephaler dopaminerger Zellen. Entsprechende Studien

in den USA verliefen gesamthaft enttäuschend, indem sie ihren

primären Endpunkt nicht erreichten. Vereinzelte Patienten pro-

fitierten jedoch bis zu 10 Jahre eindrücklich von dem Eingriff.

Noch sind viele Probleme um die Stammzelltransplantation,

die zur Ausbildung funktioneller dopaminproduzierender Zel-

len, aber auch zu schweren Dyskinesien führen kann, unge-

löst. Zudem darf man sich von diesem Vorgehen keine Beein-

flussung der Demenz erwarten, und es bleibt auch noch un-

klar, ob bulbäre Symptome und Fallneigung so gebessert

werden können.

Einige Hoffnungen weckten auch experimentelle Therapien, in

denen ein neurotropher Faktor aus Gliazelllinien intrazerebro-

ventrikulär oder ins Putamen infundiert wurde. Bisher sind die

Ergebnisse aber widersprüchlich, und man kämpft mit einigen

technischen Problemen. Auch andere Versuche, die Neuro-

transmitterverteilung in tiefen Hirnkernen in günstiger Weise

zu ändern, stecken trotz früher ermutigender Machbarkeits-

studien noch in den Kinderschuhen. Behandlungsstudien lau-

fen auch mit Memantine gegen kognitive Defizite sowie mit

Adenosin-A2-Antagonisten gegen motorische Symptome und

Komplikationen.

Halid Bas

Andrew J. Lees et al. (Department of Molecular Neuroscience and Reta Lila Weston Institute of Neurological Studies, Institute of Neurology, University College London and the National Hospital for Neurology and Neurosurgery): Parkinson’s disease. Lancet 2009; 373: 2055—2066.
Interessenkonflikte: Der Erstautor deklariert Honorare der Firmen Britannia, Novartis, Roche, GlaxoSmithKline, Boehringer Ingelheim, Solvay, Teva, Eli Lilly, Pfizer, Medtronic, Valeant und Orion Pharma.

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