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Titel
Pharmakotherapie bei neuropathischen Schmerzen durch Nichtspezialisten
Untertitel
Neue NICE-Leitlinien
Lead
Das britische National Institute for Clinical Excellence (NICE) gibt jeweils viel beachtete Leitlinien heraus, in die Expertenmeinungen und Stellungnahmen von Patientenvertretern einfliessen. Hier die wichtigen Punkte einer Kurzrichtlinie zum medikamentösen Management bei neuropathischem Schmerz.
Datum
Autoren
-
Rubrik
MEDIZIN — Fortbildung
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701
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FORTBILDUNG
Pharmakotherapie bei neuropathischen Schmerzen durch Nichtspezialisten
Neue NICE-Leitlinien

Das britische National Institute for Clinical Excellence (NICE) gibt jeweils viel beachtete Leitlinien heraus, in die Expertenmeinungen und Stellungnahmen von Patientenvertretern einfliessen. Hier die wichtigen Punkte einer Kurzrichtlinie zum medikamentösen Management bei neuropathischem Schmerz.
BMJ
Die NICE-Empfehlungen orientieren sich an der «besten klinischen Evidenz» und an Kosteneffektivitätsevidenz. Wo entsprechende Daten gar nicht vorliegen, verlässt sich die jeweils themengerecht zusammengesetzte Arbeitsgruppe auf ihre Erfahrung und auf die Lage der Meinungs zur guten klinischen Praxis, notfalls unter Abstützung auf verwandte medizinische Fragestellungen in anderen Gebieten. Die hier vorgestellten Leitlinien richten sich an Nichtspezialisten etwa in der Hausarztmedizin oder allgemeiner Spitalversorgung. Unabhängig vom Stadium (z.B. Erstkonsultation oder Routinekontrolle im Verlauf) soll man sich immer die Frage nach einer Überweisung an eine auf Schmerzen spezialisierte Instanz stellen. Kriterien dazu sind Kasten 1 aufgeführt. ■ Eine etablierte Behandlung, die sich als effektiv erwiesen
hat, soll weitergeführt werden.
Kasten 1: Wann überweisen bei neuropathischem Kasten 1: Schmerz?
■ Schmerz ist stark. ■ Schmerz beeinträchtigt die Alltagsaktivität oder die Teilnahme
an zwischenmenschlichen Beziehungen und am Familien- oder Gemeinschaftsleben substanziell. ■ Zugrunde liegende Krankheit hat sich verschlechtert.

■ Es ist wichtig, auf die Anliegen und Bedenken der Betroffenen individuell einzugehen und sie zu diskutieren. Wichtige Punkte dabei sind: Nutzen und mögliche Nebenwirkungen jedweder medikamentösen Therapie; warum ein ganz bestimmtes Medikament zum Einsatz kommen soll; Bewältigungsstrategien gegenüber Schmerz und möglichen Behandlungsnebenwirkungen; Verfügbarkeit nichtmedikamentöser Behandlungsoptionen, zum Beispiel von chirurgischen Eingriffen oder von Psychotherapien (in der allgemeinen medizinischen Versorgung oder an spezialisierten Zentren).
■ Die Notwendigkeit der Dosistitration und deren Ablauf sind zu erklären, allenfalls mittels Merkblatts.
■ Bei der Auswahl von Medikamenten sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die individuelle Empfindlichkeit gegenüber spezifischen Nebenwirkungen aufgrund von Begleiterkrankungen oder Alter, inklusive Sturzanfälligkeit; Sicherheitshinweise und Kontraindiaktionen gemäss Produktinformation; Präferenzen des Patienten und Lebensumstände, etwa die Art der Arbeit; Hinweise auf psychiatrische Probleme wie Depression und Angst; die vollständige Liste weiterer vom Patienten eingenommener Medikamente.
■ Bei Therapieabbruch oder -wechsel soll die abzusetzende Behandlung ausgeschlichen werden, dabei sind Dosisfragen und Absetzsymptome im Auge zu behalten.
■ Bei Beginn einer neuen Therapie sollte ein Überlappen mit der bisherigen Behandlung angestrebt werden, um eine Verschlechterung der Schmerzkontrolle zu umgehen.
■ Bei jedem Therapiewechsel oder jeder Therapieänderung soll die neue Situation frühzeitig hinsichtlich Dosistitration, Verträglichkeit und Nebenwirkungen überprüft werden.
■ Ohnehin muss die klinische Situation in regelmässigen Abständen im Hinblick auf die Effektivität der gewählten Therapie immer wieder überprüft werden (Kasten 2).
Alle obigen Empfehlungen basieren auf der Erfahrung und Expertenmeinung der Arbeitsgruppe.
Erstlinientherapie ■ Als medikamentöse Erstlinienbehandlung sollen orales
Amitriptylin (Saroten® Retard, Tryptizol®) oder Pregabalin (Lyrica®) verschrieben werden (Ausnahme: diabetische Neuropathie, s.u.). Amitriptylin mit nur 10 mg pro Tag beginnen, dann bis zur effektiven Dosis oder bis zur maximal tolerierten Dosis auftitrieren (über 75 mg/Tag nur nach

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PHARMAKOTHERAPIE BEI NEUROPATHISCHEN SCHMERZEN DURCH NICHTSPEZIALISTEN

Kasten 2: Was muss man regelmässig Kasten 2: überprüfen?
■ Schmerzverminderung ■ Nebenwirkungen ■ Alltagsaktivitäten und Teilnahme (z.B. Arbeitsfähigkeit, Fahr-
fähigkeit) ■ Gemütslage (v.a. Depression? Angst?) ■ Schlafqualität ■ Gesamthafte Verbesserung der Situation unter Therapie nach
Patienteneinschätzung Diese Empfehlungen basieren auf Erfahrung und auf der Meinung der Arbeitsgruppe, welche die Leitlinien verfasst hat.
Rücksprache mit Spezialisten). Pregabalin mit 150 mg pro Tag (verteilt auf 2 Dosen) beginnen, allenfalls sogar noch tiefer. Langsam aufwärts titrieren bis maximal 600 mg/Tag.

■ Bei diabetischer Neuropathie ist als Erstlienientherapie Duloxetin (Cymbalta®) zu verschreiben; bei Kontraindikation wie zum Beispiel Hypertonie kommt Amitriptylin infrage. Startdosis für Duloxetin sind 60 mg pro Tag (allenfalls sogar tiefer), aufwärts titrieren bis maximal 120 mg/Tag.
Diese Empfehlungen basieren auf randomisierten, kontrollierten Studien mittlerer und hoher Qualität sowie einer Kosteneffektivitätsevaluation.
■ Die frühe und spätere regelmässige Beurteilung der Therapiesituation weist den Weg: Wenn die Verbesserung zufriedenstellend ist, soll die Behandlung weitergeführt werden. Später kann bei anhaltender Besserung eine graduelle Dosisreduktion erwogen werden. Wenn unter Amitriptylin die Schmerzsymptomatik zwar reduziert wird, der Patient aber die Nebenwirkungen nicht toleriert, kann Imipramin (Tofranil®) oder Nortriptylin (Nortrilen®) eine Alternative sein.
Die Empfehlung basiert auf Erfahrung und der Expertenmeinung der Arbeitsgruppe.

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FORTBILDUNG

Zweitlinientherapie ■ Ist die Schmerzreduktion unter der Erstlinientherapie in der
maximal tolerierten Dosis nicht zufriedenstellend, soll eine andere Wirkstoffklasse anstatt oder in Kombination mit der bisherigen angeboten werden. Wurde zuerst ein trizyklisches Antidepressivum eingesetzt, kann es jetzt durch Pregabalin ersetzt oder damit kombiniert werden und umgekehrt. ■ Analoges gilt für Patienten mit diabetischer Neuropathie: Hier kann ein Wechsel von Duloxetin auf Amitriptylin oder Pregabalin erfolgen oder die Duloxetin/Pregabalin-Kombination ausprobiert werden. ■ Dosis und Titration sollten ebenso erfolgen wie bei der Erstlinienbehandlung beschrieben. Alle diese Empfehlungen basieren auf randomisierten, kontrollierten Studien mittlerer und hoher Qualität sowie einer Kosteneffektivitätsevaluation.
Drittlinientherapie ■ Ist die Schmerzreduktion auch unter der Zweitlinienthera-
pie nicht zufriedenstellend, ist die Überweisung zu einer spezialisierten Schmerzsprechstunde ins Auge zu fassen. Um allfällige Zeit zu überbrücken, kann orales Tramadol (Tramal® oder Generika) anstatt oder zusammen mit der Zweitlinientherapie versucht werden. Die Kombination von Tramadol mit Amitriptylin, Nortriptylin, Imipramin oder Duloxetin birgt nur ein niedriges Risiko für ein Serotoninsyndrom (Verwirrtheit, Delir, Frösteln, Schwitzen, BD-Veränderung, Myoklonus). Bei lokalisiertem Schmerz und Unmöglichkeit, Schmerzmedikamente per os einzunehmen, kommt topisches Lidocain infrage.

■ Bei Tramadol-Monotherapie beträgt die Anfangsdosis 50 bis 100 mg maximal alle 4 Stunden. Eine Aufwärtstitration bis zur individuell effektiven oder maximal tolerierten Dosis ist notwendig (Maximaltagesdosis 400 mg). Kommt Tramadol im Rahmen einer Kombinationstherapie zum Einsatz, kann eine konservativere Titration notwendig sein.
Diese beiden Empfehlungen basieren auf randomisierten, kontrollierten Studien mittlerer und schlechter Qualität und auf Erfahrung und Expertenmeinung der Arbeitsgruppe.

Andere Therapien

■ Eine Therapie mit Opioiden wie Morphin oder Oxycodon

(Oxycontin®, Targin®), also abgesehen von Tramadol, soll

nicht ohne Konsilium bei einem Schmerzspezialisten erfolgen.

■ Medikamentöse Behandlungen, die in dieser Leitlinie nicht

erwähnt sind, können von Schmerzspezialisten begonnen

und dann auch in der Allgemeinpraxis weitergeführt wer-

den. Diesem Vorgehen sollten ein multidisziplinärer Betreu-

ungsplan, eine gute Zusammenarbeit und die genaue Über-

wachung von Nebenwirkungen zugrunde liegen.

Diese beiden Empfehlungen basieren auf randomisierten, kon-

trollierten Studien mittlerer und schlechter Qualität und auf

Erfahrung und Expertenmeinung der Arbeitsgruppe.

Halid Bas

Toni Tan et al.: Pharmacological management of neuropathic pain in non-specialist settings: summara of NICE guidance. BMJ 2010; 340:c1079. DOI: 10.1136/bmj.c1079
Interessenkonflikte: keine deklariert

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