Transkript
FORTBILDUNG
Androgensubstitution bei Frauen?
Testosteron wirkt günstig auf das Sexualleben, ist aber wegen fehlender Sicherheitsdaten umstritten
Bei Frauen in der Postmenopause, die unter nachlas-
sender sexueller Lust leiden, kann nach eingehender
Evaluation eine Testosteronsubstitution erwogen wer-
den. An der Wirksamkeit bestehe heute kein Zweifel
mehr, meint die australische Professorin für Frauen-
gesundheit Susan R. Davis. Die bisher vorliegenden
Daten gäben keinen Anhaltspunkt für Sicherheits-
bedenken, allerdings existieren keine Langzeitdaten.
CLINICAL ENDOCRINOLOGY
Viel ist über die Hormonsubstitution bei Frauen in der Postmenopause geforscht, debattiert und verabschiedet worden. Dabei ging es stets um Östrogene und Gestagene. Das Ovar produziert jedoch als dritte Steroidklasse auch Androgene. Diese haben nicht nur einen gewissen protektiven Einfluss auf das Skelettsystem, sondern mehr noch auf das seelische Befinden und das Kohabitationsverhalten. Mit zunehmendem Alter sinken die Serumspiegel für Testosteron und wichtige Präandrogene wie etwa Dehydroepiandrosteron (DHEA) oder DHEA-Sulfat (DHEAS), wobei der maximale Abfall bereits vor der Menopause erfolgt. Allerdings existiert keine Untergrenze, die es erlauben würde, bei Frauen ein Androgendefizit zu diagnostizieren. «Deshalb kann eine Testosterontherapie nicht auf einer klaren Assoziation zwischen Symptomen und Biochemie gründen; es gibt aber eine klinische Evidenz dafür, dass die Testosteronsubstitution spezifische Parameter der Sexualfunktion bei Frauen verbessert», schreibt Susan Davis in einem Beitrag für «Clinical Endocrinology». Zu den Problemen, über die Frauen in der Menopause berichten, gehören nachlassendes sexuelles Interesse und fehlende sexuelle Befriedigung. Das DSM-IV listet dafür verschiedene diagnostische Kriterien auf, insbesondere die «hypoactive sexual desire disorder» (HSDD), in der deutschsprachigen Version «Störung mit verminderter sexueller Appetenz» genannt, im ICD-10 ist der «Mangel oder Verlust an sexuellem Verlangen»
aufgeführt. Die Prävalenz der HSDD soll bei postmenopausalen Frauen 9 bis 14 Prozent betragen, gleichgültig, ob das Hormondefizit natürlich oder operativ (durch Entfernung der Eierstöcke) hervorgerufen wird.
Testosteronsubstitution ist umstritten Inzwischen ist der Einsatz von Testosteron bei Frauen mit diagnostizierter HSDD in einer Reihe von Studien untersucht worden. Allerdings ist dieser Therapieansatz bis heute umstritten. Einerseits wird die Frage aufgeworfen, ob Medikamente der angemessene Ansatz zur Lösung sexueller Probleme sein können, andererseits gibt es Bedenken, ob eine Testosteronsubstitution überhaupt wirksam und vor allem sicher ist. In den USA geben sich die Richtlinien der Endocrine Society aus dem Jahr 2006 entsprechend restriktiv: «Obwohl es eine Evidenz dafür gibt, dass eine Testosteronbehandlung kurzfristig bei ausgewählten Frauen wirksam ist, etwa nach chirurgischer Auslösung der Menopause, empfehlen wir nicht den generalisierten Gebrauch von Testosteron, weil die Indikation unangemessen und die langfristige Sicherheit nicht hinreichend gesichert ist.» Diese konservative Haltung scheint nun aber, auch nachdem inzwischen etwas länger dauernde Studien vorliegen, aufzuweichen, zumindest bei einigen Fachleuten, zu denen offenbar auch die Autorin gehört. Susan Davis hebt hervor, dass ein befriedigendes Sexualleben ein Indikator für eine allgemein bessere Gesundheit ist. Mehr als 80 Prozent der Frauen über 30 Jahre glaubten, dass ein aktives Sexualleben wichtig für ihr Wohlbefinden sei und zur
Merksätze
■ Bei (postmenopausalen) Frauen existiert kein definiertes Androgendefizit.
■ Studien zeigen, dass eine Testosteronsubstitution die sexuelle Lust und Befriedigung steigert.
■ Auf kurze Sicht scheint die Testosterontherapie sicher, Langzeitdaten fehlen bis heute.
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emotionalen Stabilität beitrüge. Umgekehrt litten Frauen mit HSDD unter deutlichen Einbussen der Lebensqualität, der seelischen Gesundheit und der sozialen Funktionsfähigkeit. Diese Frauen seien mit grösserer Wahrscheinlichkeit depressiv und unzufrieden mit ihrer Partnerschaft. Insgesamt werde die Lebensqualität bei HSDD nicht weniger beeinträchtigt, als dies bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Rückenschmerzen der Fall ist. Und: «Weil Frauen ein Gespür dafür haben, wie bedeutsam Intimität für die Partnerschaft ist, bleiben sie nicht selten sexuell aktiv, obwohl sie kaum Verlangen verspüren oder an Dyspareunie leiden», klagt Davis.
Hilft Testosteron wirklich? Dass Testosteron tatsächlich das sexuelle Verlangen, die Erregbarkeit und die Orgasmusfrequenz erhöht und Frauen unter der Therapie eine grössere sexuelle Befriedigung erlangen, konnte laut Davis in grossen Studien unter Beweis gestellt werden. Unter Testosterontherapie seien 80 Prozent der sexuellen Ereignisse befriedigend gewesen (ohne Hormonbehandlung nur 50%). Die Studienteilnehmerinnen hatten um 115 Prozent häufiger einen Orgasmus verglichen mit Frauen unter einer Plazebotherapie. Zwei kleinere Studien zeigten, dass die Testosteronsubstitution auch bei älteren prämenopausalen Frauen mit Libidoverlust positive Wirkungen auf die Sexualfunktionen hatte.
Kandidatinnen für eine Testosterontherapie Laut Davis sind potenziell alle Frauen mit HSDD «in der späten reproduktiven Lebensphase und jenseits davon» potenzielle Kandidatinnen für eine Androgentherapie. Ärzte sollten die Behandlung ihrer Meinung nach insbesondere bei Frauen nach Ovarektomie oder vorzeitiger Ovarialinsuffizienz erwägen. Niereninsuffizienz oder Hypopituitarismus sind weitere Erkrankungen, die mit geringer Androgenproduktion und HSDD einhergehen. Davis will die Segnungen der Testosteronbehandlung zudem nicht auf Frauen in einer festen Partnerschaft beschränkt sehen. Der Wunsch nach einem erfüllten Sexualleben sei allen Frauen gemein, auch wenn die meisten bisherigen Studien sich auf monogam lebende Frauen beschränkten. Auch Davis ist dabei klar, dass es unangemessen wäre, nachlassende sexuelle Aktivität und Erfüllung automatisch mit einem Abfall des Testosteronspiegels in Verbindung zu bringen. Vielmehr beeinflussen die unterschiedlichsten körperlichen, psychischen und kulturellen Faktoren und natürlich die bestehende Partnerschaft die Zufriedenheit mit dem Sexualleben. Entsprechend vielfältig, so die Autorin, seien auch die Ansatzpunkte, wenn eine Frau über ein verringertes sexuelles Interesse klagt. Vor allem seien Stress, Müdigkeit, Partnerschaftsprobleme, Depressionen, aber auch Nebenwirkungen von Medikamenten zu bedenken. All diese Probleme müssten ins Auge gefasst werden, sie schliessen aber nach Meinung von Davis den Sinn und Nutzen einer Testosterontherapie nicht grundsätzlich aus. So seien zum Beispiel Partnerschaftsprobleme nicht so selten die Folge von verringerter sexueller Aktivität und weniger deren Ursache.
Ein nachlassendes sexuelles Verlangen beschreiben auch Frauen, die kombinierte orale Kontrazeptiva einnehmen, vor allem wenn diese Progestin enthalten. Solche Kombinationspräparate unterdrücken die ovarielle Testosteronproduktion, sie erhöhen die Synthese von SHBG (sexualhormonbindendes Globulin) in der Leber und reduzieren auf diesem Weg letztlich die Serumspiegel des freien Testosterons. In diesen Fällen kann laut Davis eine Umstellung von einem Kontrazeptivum auf ein anderes oft hilfreich sein. Unter bestimmten Antidepressiva klagen Frauen über einen Mangel an sexueller Erregung und über Orgasmusprobleme, während die Libido unbeeinträchtigt ist. Hier empfiehlt die Autorin einen Therapieversuch mit Phosphodiesterase-5-(PDE-5-)Hemmern. Davis führt hierzu eine entsprechende Studie mit Sildenafil an. PDE-5-Hemmer sind aber zur Anwendung bei Frauen nicht zugelassen.
Testosteronspiegel – kein therapeutisches Mass Da es keine Untergrenze für das Gesamt- und das freie Testosteron gibt, die zur Diagnose einer Androgeninsuffizienz berechtigt, ist der Testosteronspiegel auch kein Mass für den Therapieerfolg. Dennoch sollten bei allen Frauen vor einer Therapie die Hormonspiegel einschliesslich des SHBG gemessen werden. Auf diese Weise lassen sich laut Davis Frauen herausfinden, die ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko oder Kontraindikationen haben (Tabelle). Die Autorin rät dabei von der Bestimmung des freien Testosterons anhand von speziellen Kits ab, da die Assays unzuverlässig seien. Wichtig sei zu wissen, dass transdermal appliziertes Testosteron meist unwirksam ist, wenn der SHBG-Spiegel hoch ist (> 160 pmol/l). Geringe Erfolgsaussichten bestehen auch bei Frauen, die konjugierte Östrogene einnehmen. Grundsätzlich ist mit androgenen Nebenwirkungen zu rechnen, wenn Testosteron bei Frauen substituiert wird, die hochnormale oder hohe freie Testosteronspiegel (gemessen an den Werten einer jungen gesunden Frau) aufweisen.
Wie sicher ist die Testosteronsubstitution? Testosteron wird seit Jahrzehnten eingesetzt, «mit geschätzten 2 Millionen Verschreibungen in den USA allein in den Jahren 2006 und 2007». Die Therapie kann zu Hirsutismus und Akne führen, obwohl diese Nebenwirkungen laut Davis nicht so häufig vorkommen, wenn die normalen Testosteronspiegel nicht überschritten werden. Ungefähr 20 Prozent der Frauen entdecken an sich ein verstärktes Haarwachstum, was aber selten zu einem Abbruch der Behandlung führt. Nach Darstellung von Davis gibt es bis anhin keine Hinweise darauf, dass unter der Therapie das Brustkrebsrisiko bei Anwendung von Testosteronpflastern ansteigt. Auch die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität scheinen nicht beeinflusst zu werden. Wie zuverlässig diese Studien sind, sagt die Autorin nicht. Oral verabreichtes Methyltestosteron senkt den HDL-Cholesterinspiegel – ein Effekt, der bei transdermaler Applikation offenbar nicht beobachtet wird. Zur Testosteronsubstitution prämenopausaler Frauen liegen nur zwei kleine Studien zur Sicherheit
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Tabelle: Kontraindikationen Tabelle: für eine Testosterontherapie
■ Schwangerschaft und Stillzeit ■ schwere Akne oder Hirsutismus ■ hormonabhängiger Tumor (derzeitig oder früher) ■ subnormale SHBG-Spiegel ■ freie Testosteronspiegel im mittleren oder höheren
Normbereich (junger Frauen)
vor; bei älteren Frauen, bei denen der Eintritt in die Menopause weit zurückliegt, ist die Datenlage ebenfalls unsicher.
Welche Behandlungsoptionen gibt es? Im Moment gibt es keine Testosteronpräparate, die speziell für Frauen zugelassen sind. Die auf Männer zugeschnittenen Präparate können nicht bei Frauen eingesetzt werden. In vielen Ländern werden aber bereits Testosteronpellets unter Lokalanästhesie subkutan implantiert. Die Implantate sind etwa 4 bis 6 Monate wirksam. Ein neues Implantat darf erst eingesetzt werden, wenn die Testosteronwerte oder das Gesamttestosteron (korrigiert für SHBG) in der untersten Quartile des Normbereichs liegen. In Australien ist eine Testosteroncreme für Frauen erhältlich, in den EU-Ländern ist ein Testosteronpflaster (Intrinsa®) im Handel, das täglich 300 µg Testosteron freisetzt. Es ist bei Frauen zugelassen, deren Eierstöcke entfernt wurden (chirurgisch ausgelöste Menopause) und die gleichzeitig systemisch mit Östrogen behandelt werden. Gelegentlich werden auch Testosteronester (50/100 mg) intramuskulär verabreicht, die aber nur einen kurzzeitigen Effekt
haben. Eine positive Reaktion soll dann für die Einleitung einer Langzeittherapie sprechen. Tibolon ist unter anderem auch androgen wirksam. In einer Dosis von 2,6 mg täglich verbessert das Medikament die Sexualfunktion bei postmenopausalen Frauen, wie Davis schreibt. DHEA ist ihrer Meinung nach nicht geeignet, schon wegen mangelnder Sicherheitsdaten.
Wann tritt die Wirkung ein?
Wie lange es dauert, bis die Wirkung einsetzt, hängt von der
Art der Applikation ab. Intramuskuläre Injektionen erzielen in
kurzer Zeit hohe Testosteronspiegel, und die Frauen spüren be-
reits nach 1 bis 2 Tagen einen Anstieg der Libido. Entsprechend
schnell lässt dieser Effekt allerdings auch wieder nach. Nach
Einsetzen von Testosteronimplantaten steigt der Hormonspie-
gel meist für wenige Tage über den physiologischen Bereich
hinaus an, um sich dann auf hochnormale Werte einzustellen.
Die so behandelten Frauen berichten übereinstimmend über
einen Wirkungseintritt nach 2 Wochen. 6 bis 8 Wochen lässt
die Wirkung auf sich warten, wenn Testosteron als Creme,
Pflaster oder Hautspray appliziert wird. Auf diese Frist müsse
man die Frauen vor Therapiebeginn aufmerksam machen,
damit keine falschen Erwartungen geschürt würden, meint
Davis. Wenn nach 16 Wochen noch kein Effekt spürbar sei,
sollte die Behandlung beendet werden. Nach den einschlägi-
gen Studien zu urteilen, sprechen im Allgemeinen etwa 60 Pro-
zent der Frauen auf die Behandlung an.
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Uwe Beise
Susan R. Davis: Should women receive androgen replacement therapy, and if so, how? Clin Endocrinol 2010; 72 (2): 149.
Interessenlage: Die Autorin der Originalpublikation macht keine Angaben über mögliche Interessenkonflikte.
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