Transkript
STUDIE REFERIERT
Schwankender Blutdruck — hohes Schlaganfallrisiko
Dieser Fall ist nicht so selten: Von
Visite zu Visite können die Blut-
druckwerte bei Patienten beträcht-
lich schwanken. Mal annähernd nor-
mal, dann wieder deutlich im roten
Bereich. Analysen aus älteren Stu-
dien zeigen jetzt, dass Blutdruck-
schwankungen ein starker Prädik-
tor für einen Schlaganfall sind.
LANCET
Bluthochdruck ist bekanntlich der häufigste therapierbare Risikofaktor für Schlaganfall und andere kardiovaskuläre Krankheiten. Nicht umsonst fordern deshalb alle einschlägigen Richtlinien mit Nachdruck dazu auf, eine Hypertonie frühzeitig zu erkennen und dann konsequent und langfristig unter Kontrolle zu bringen. Man geht davon aus, dass ein über lange Zeit erhöhter Blutdruck schädlich ist, über welche Mechanismen der Hochdruck dann Schlaganfall und andere vaskuläre Ereignisse letztlich verursacht, ist bis heute jedoch noch gar nicht so genau bekannt, wie Professor Peter Rothwell von der Stroke Prevention Unit an der Universitätsklinik in Oxford sowie mehrere Kollegen aus Irland und Schweden im «Lancet» schreiben. Zweifellos sei die Erhöhung des mittleren Blutdrucks ein wichtiger Risikoparameter; eine Reihe von Untersuchungen lege aber die Vermutung nahe, dass Blutdruckspitzen und allgemein die Variabilität des Blutdrucks ebenfalls eine wichtige Rolle spielen – das gelte vor allem für Patienten in höherem Lebensalter, wo die meisten klinischen Ereignisse auftreten.
«Wenn Patienten von Visite zu Visite deutliche Blutdruckunterschiede aufweisen, wird dies bis anhin oft als Zufall abgetan – oder allenfalls als ein Hindernis im Bemühen, den wahren Blutdruck zu ermitteln», schreiben die «Lancet»Autoren. Derartige Blutdruckschwankungen sind in der Praxis aber keine Seltenheit. Behandelt wird eine episodische Hypertonie dann meistens nicht. Bei Patienten mit gelegentlich erhöhtem Blutdruck empfehlen die gängigen Richtlinien ein ambulantes 24-Stunden-Blutdruckmonitoring; die Therapieentscheidung wird dann anhand der mittleren Blutdruckwerte getroffen. Bis heute ist nicht wirklich klar, welche Bedeutung solchen Blutdruckschwankungen prognostisch zukommt. Die Arbeitsgruppe um Peter Rothwell hatte aber bereits in einer früheren Kohortenstudie zeigen können, dass bei Schlaganfallrisikopatienten eine Blutdruckvariabilität auffallend häufig vorkommt. Womöglich stellen Blutdruckschwankungen einen vom (mittleren) systolischen Bluthochdruck unabhängigen Risikofaktor dar. Die Forscher haben nun den Versuch unternommen, die prognostische Bedeutung der einzelnen Blutdruckparameter – Blutdruckspitzenwerte, Blutdruckvariabilität, mittlerer Blutdruck – genauer unter die Lupe zu nehmen. Dazu griffen sie zunächst auf Daten der UK-TIA-Studie zurück. Dabei handelt es sich um eine von 1979 bis 1985 laufende Doppelblindstudie mit 2435 Patienten mit aktuell aufgetretener, transienter, ischämischer Attacke (TIA), die mit Aspirin oder Plazebo behandelt wurden. Die Autoren glichen die Ergebnisse anschliessend mit drei jüngeren Untersuchungen bei Patienten mit TIA oder Schlaganfall ab, darunter die European Stroke Prevention Study (ESPS-1). Warum die Autoren auf die lang zurücklie-
gende UK-TIA-Studie zurückgriffen, ist leicht erklärt: Zum einen waren Patienten mit Blutdruckschwankungen in der Untersuchung nicht ausgeschlossen worden (wie sonst oft bei Studien, die die Effekte der Blutdrucksenkung untersuchen), zum anderen blieb ein erhöhter Blutdruck bei Menschen mit TIA damals oft unbehandelt. Das erlaubte den Forschern, die Prognose der episodischen und konstanten Hypertonie zu bestimmen, da damals bis zu zehn Kontrolluntersuchungen über mehrere Jahre durchgeführt wurden.
Blutdruckspitzen und Blutdruckschwankungen sind starke Prädiktoren Die Analysen ergaben, dass in der UKTIA häufig grosse Blutdruckschwankungen von Visite zu Visite auftraten. Von 1324 (66%) der Patienten, die mindestens die 7. Visite erreichten, erlitten später 106 einen Schlaganfall und 166 ein koronares Ereignis. Zwar erwies sich der mittlere systolische Blutdruck als guter Prädiktor für einen späteren Schlaganfall (nach Adjustierung anderer Risikofaktoren), doch lieferten die Variabilität der Blutdruckwerte und der maximale Spitzenblutdruck eine noch bessere Vorhersagegenauigkeit.
Merksätze
■ Schwankungen des systolischen Blutdrucks und der systolischen Blutdruckspitzen von Visite zu Visite sind ein starker Prädikator für Schlaganfall, unabhängig von der Höhe des durchschnittlichen systolischen Blutdrucks.
■ Bei Patienten, die mit Blutdrucksenkern behandelt werden, sind Blutdruckschwankungen mit einem erhöhten vaskulären Risiko assoziiert.
■ Eine episodische Hypertonie scheint insgesamt risikoträchtiger zu sein als ein konstant erhöhter Bluthochdruck.
496 ARS MEDICI 12 ■ 2010
STUDIE REFERIERT
Anschliessend überprüften die Forscher die Ergebnisse anhand einer breiten Population von Hypertonikern bei Teilnehmern der ASCOT-BPLA-Studie (AngloScandinavian Cardiac Outcome Trial Blood Pressure Lowering Arm). Es handelt sich um eine Studie zum Vergleich von zwei blutdrucksenkenden Therapien, an der rund 19 000 Patienten im Alter zwischen 40 und 79 Jahren teilnahmen, die mindestens drei kardiovaskuläre Risikofaktoren aufwiesen, aber nicht unter einer koronaren Herzkrankheit litten. Bei einem Teil der Patienten wurden auch umfangreiche Daten einer ambulanten 24-Stunden-Blutdruckmessung erhoben. Wie in der UK-TIA-Studie war auch in der ASCOT-BPLA-Studie die «visit-tovisit»-Blutdruckvariabilität ein starker Schlaganfallprädiktor, unabhängig vom mittleren Blutdruck und von der Herzfrequenz(-variabilität), obwohl die Patienten sich einer standardisierten und aggressiven antihypertensiven Therapie unterzogen. Die Blutdruckvariabilität war im höheren Alter ausgeprägter, die Vorhersagekraft für einen Schlaganfall bei jüngeren Patienten am grössten. Zudem konnte gezeigt werden, dass eine stabile Hypertonie eine bessere Prognose hat als eine episodische Hypertonie. Die Variabilität des systolischen Blutdrucks war in der ASCOT-BPLA-Studie ein starker Prädiktor für Schlaganfall, Angina pectoris und Myokardinfarkt. Die Schwankungen liessen sich nicht mit dem White-CoatEffekt erklären. Die 24-Stunden-Blutdruckmessung lieferte weitere Erkenntnisse. Sie machten klar, dass die in der Praxis gemessenen Blutdruckschwankungen nicht etwa darauf zurückzuführen waren, dass zu unterschiedlichen Tageszeiten gemessen wurde. Die Blutdruckvariabilität im 24-Stunden-Monitoring hatte einen schwächeren prädiktiven Wert als die in verschiedenen Visiten festgestellte; offenbar bildet, so die Autoren, die (durchschnittliche) Variabilität von Minute zu Minute (im 24-Stunden-Monitoring) nicht die Schwankungen ab, die für das Schlaganfallrisiko ausschlaggebend sind.
Konsequenzen für die Praxis Obwohl die Studie keinen kausalen Zusammenhang zwischen Blutdruckschwankungen und Schlaganfall beweisen kann, lassen sich nach Einschätzung der Autoren aus den Ergebnissen bereits heute eine Reihe von Konsequenzen für Diagnose und Therapie der Hypertonie, die Wahl der Medikamente und das Design von künftigen Studien ziehen: ■ Patienten mit episodischem Hoch-
druck sollten nicht länger aus Studien ferngehalten werden. ■ Blutdruckschwankungen trotz (Addon-)Medikation weisen auf eine ungünstige Prognose hin. ■ Die Stabilisierung des Blutdrucks sollte ein Therapieziel werden und bei der Entwicklung neuer Medika-
mente und Medikamentenkombina-
tionen bedacht werden.
■ In der sekundären Schlaganfallprä-
vention (wo oft trotz gutem Nutzen
keine konsequente Blutdruckkon-
trolle stattfindet) ist zu bedenken,
dass Patienten mit episodischem Blut-
hochdruck ein hohes Risiko tragen.
Einige normale Werte zwischendurch
sind nicht dazu geeignet, Entwar-
nung zu geben.
■
Uwe Beise
Peter M. Rothwell, et al.: Prognostic significance of visit-tovisit variability, maximum sytolic blood pressure, and episodic hypertension. Lancet 2010; 375: 895—905.
Interessenkonflikte: Die Autoren deklarieren zahlreiche Beziehungen zu Firmen, die auf dem Gebiet der Hypertonie aktiv sind beziehungsweise Antihypertensiva vertreiben.
ARS MEDICI 12 ■ 2010 497