Transkript
FORTBILDUNG
Phytopharmaka in der Geriatrie
Was ist im Alter anders?
Was die Arzneimitteltherapie älterer Patienten angeht,
ist eine ganze Reihe von Besonderheiten zu beachten.
So gilt es, physiologische Veränderungen sowie eine
eventuell bestehende Multimorbidität zu berück-
sichtigen. Dieser Beitrag beleuchtet die pharmako-
kinetischen und pharmakodynamischen Eigenschaften
von Phytopharmaka und deren Stellenwert in der
Geriatrie.
DIETER LOEW
Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg weltweit seit 1840 kontinuierlich um 2,3 Jahre pro Dekade. Betrug 1980 in den alten Bundesländern die Lebenserwartung 69,9 Jahre für Männer und 76,6 Jahre für Frauen (7), so liegt sie heute bei 77,2 beziehungsweise 82,4 Jahren. Ursachen der Lebensverlängerung sind unter anderem genetische Determination, gesunde Lebensführung, Umwelteinflüsse sowie die Früherkennung und Therapie chronischer Erkrankungen.
Warum altern wir? Theorien erklären Altern (1) mit ■ nachlassender Hormonproduktion ■ vermehrter Bildung zelltoxischer reaktiver Sauerstoffspezies
(ROS) ■ oxidativem Stress (8) ■ Verzuckerung von Proteinmolekülen in Organen mit Funk-
tionsverlust ■ Altersatrophie der Gewebe ■ abgeschwächter Immunantwort ■ Verkürzung der Chromosomenenden (Telomere) mit Er-
schöpfung der Teilungsfähigkeit der Zelle (3) ■ Nachlassen der Windkesselfunktion der Aorta ■ starken Druckschwankungen in Gefässen, vor allem in
Gehirn und Niere.
Pharmakodynamik- und Pharmakokinetik-beeinflussende Faktoren Die Arzneimitteltherapie (2) im Alter muss altersbedingte physiologische Veränderungen (Tabelle 1) sowie Multimorbidität mit Funktionsstörung von Organen wie Herz, Leber und Nieren berücksichtigen. Zudem sind pharmakodynamische und pharmakokinetische Aspekte bei Arzneimittelauswahl und -dosierung zu beachten, um Risiken durch Überdosierung, Wechselwirkungen oder Organschäden zu vermeiden (Tabelle 2).
Einfluss von Phytopharmaka auf physiologische Altersveränderungen Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit physiologische Altersveränderungen die Wirkung pflanzlicher Arzneimittel beeinflussen. Da es sich bei pflanzlichen Arzneimitteln in der Regel um schnell freisetzende Darreichungsformen handelt, ist für ihre Resorption die Löslichkeit des Extraktes beziehungsweise seiner Inhaltsstoffe ausschlaggebend. Ist sie gut, zum Beispiel bei hydrophilen Extrakten, dann ist von einer guten Resorption wirksamer Fraktionen auszugehen. Unproblematisch und unabhängig vom pH-Wert des Magens sind – zum Beispiel bei Patienten mit atrophischer Gastritis oder Einnahme von Protonenpumpenhemmern – flüssige Darreichungsformen, zum Beispiel Frischpflanzenpresssäfte, Tinkturen, Flüssigextrakte und Tees. Feste Darreichungsformen wie Tabletten, Kapseln und Dragees mit wässrigen, wässrig-ethanolischen oder lipophilen Trockenextrakten sind in der Regel weniger gut löslich, sodass die Bioverfügbarkeit von ihren Inhaltsstoffen abhängt (5). Phenolische Verbindungen wie Flavonoide und Katechine enthalten meist
Merksätze
■ Für die Resorption pflanzlicher Arzneimittel ist deren Löslichkeit ausschlaggebend. Flüssige Extrakte weisen in der Regel eine gute Löslichkeit auf.
■ Der Einsatz von Phytopharmaka bei älteren Patienten sollte vorrangig bei subakuten und chronischen Erkrankungen erfolgen.
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PHYTOPHARMAKA IN DER GERIATRIE
Mit fortschreitendem Alter auftretende Krankheiten
■ Altersabhängige, altersbegleitende Erkrankungen: Arteriosklerose, Arthrosen, Osteoporose, Stoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, Durchblutungsstörungen, Veränderung der hormonellen Situation durch verminderte Produktion oder veränderte Empfindlichkeit am Erfolgsorgan
■ Typische Alterskrankheiten: Hypertonie, Hypotonie, KHK, Zustand nach Herzinfarkt, Apoplex, Demenz, benignes Prostatasyndrom, Inkontinenz, Immundefizienz, psychische, psychosomatische Erkrankungen, Suizidalität, Krebserkrankung
■ Besonderheiten im Alter: Erkrankungen durch eingeschränkte Organreserven, Vorschäden, zum Beispiel Leber, Nieren, Magen-Darm-Funktionsstörung durch langjährige Einnahme von Arzneimitteln beziehungsweise Fremdstoffe, Infektionen der Atemwege, Obstipation, Interaktion mit Arzneimitteln
Tabelle 1: Physiologische Veränderungen Tabelle 1: im Alter
■ Anstieg des Hämatokrits durch Flüssigkeitsmangel infolge reduzierten Durstgefühls
■ Abnahme der Intrazellularflüssigkeit von 42 auf 33% ■ Anstieg von Kreatinin, Abnahme der Kreatininclearance ■ Zunahme des Fettgewebes von 15 Prozent bei 25-Jährigen auf
30% bei 75-Jährigen mit höherer Speicherung lipophiler Arzneimittel ■ Abnahme von Albumin um zirka 20% bei 80-Jährigen mit verminderter Proteinbindung, veränderter Assoziation und Dissoziation an Bindungsstellen und erhöhtem freiem Anteil ■ Abnahme von Skelettmuskulatur und relativen Organgewichten von Milz, Leber, Niere ■ Abnahme von Dichte und Zahl spezifischer und unspezifischer Rezeptoren ■ Veränderungen der Transitstrecke zum Erfolgsorgan mit Bindung an Rezeptoren ■ Verdickung der Gefässintima, Zunahme von Kollagen, Elastin, Kalzium
mehrere Hydroxylgruppen und dissoziieren leicht unter physiologischen Bedingungen, während terpenoide Einzelstrukturen häufig lipophil und im hydrophilen Milieu des MagenDarm-Trakts weniger löslich sind. Einige Inhaltsstoffe liegen als inaktive Vorstufen (sogenannte Prodrugs), meist als Glykoside, vor und werden erst im Magen-Darm-Trakt durch Hydrolyse in resorbierbare und wirksame Aglykone gespalten (9).
Wegen der häufig im Alter bestehenden Hypalbuminämie ist der freie und wirksame Arzneimittelanteil höher, was die Gefahr von Nebenwirkungen erhöht. Im Gegensatz zu synthetischen Arzneimitteln ist die Eiweissbindung bei pflanzlichen Extrakten jedoch mässig bis gering und liegt um 60 bis 80 Prozent, weshalb bei Hypalbuminämie kaum die Gefahr der Überdosierung und Wechselwirkung durch Verdrängung eines anderen Arzneimittels aus der Proteinbindung besteht. Die Klärung von Biotransformation und Metabolismus des Gesamtextraktes ist aufgrund der komplexen Zusammensetzung des Vielstoffgemischs kaum bis nicht möglich, sieht man von Extrakten ab, welche Inhaltsstoffe enthalten, die wesentlich an der therapeutischen Aktivität beteiligt sind. Durch Mehrfacherkrankungen, Umwelteinflüsse, Fremdstoffe, Genussmittel und langjährige Einnahmen von Arzneimitteln ist im Alter die Entgiftungsfunktion der Leber mehr oder weniger beeinträchtigt. Dies gilt insbesondere für die Phase-I-Reaktion, in der Arzneimittel oxidiert, reduziert oder hydroxyliert und anschliessend in der Phase-II-Reaktion nach Glukuronidierung oder Sulfatierung renal ausgeschieden werden. Im Gegensatz zu synthetischen Arzneimitteln mit wenig Hydroxylgruppen werden Glykoside in der Regel in Form ihrer Aglyka resorbiert und müssen zur renalen Ausscheidung nur noch glukuronidiert oder sulfatiert werden. Toxische Metaboliten von zugelassenen Phytopharmaka sind bis anhin nicht bekannt. Negative Einflüsse auf die Nierenfunktion sind – sieht man von Tubulusirritationen nach hoch dosiertem Wacholderöl ab – von pflanzlichen Extrakten nicht bekannt. Aus pharmakokinetischer Sicht sind die im Alter verwendeten Phytopharmaka weitgehend unproblematisch.
Mono-Target-Wirkstoffe und Extrakte Mono-Target-Wirkstoffe wirken direkt unter anderem an spezifischen molekularen oder zellulären Strukturen (6, 9). Dagegen sind pflanzliche Drogen und Extrakte komplexe Vielstoffgemische mit agonistischen, synergistischen, komplementären, unbekannten und möglicherweise auch toxischen Fraktionen (4). Sie besitzen multiple pharmakophore Gruppen, wirken pleiotrop eher unselektiv an Targets (Multi-Target-Wirkstoff) und besitzen durch Addition mehrerer Einzeleffekte ein breiteres Wirkprofil und weniger wirkungsmechanistisch bedingte Nebenwirkungen. Extrakte gelten gemäss Arzneimittelgesetz und EU in ihrer Gesamtheit und nicht bezüglich einzelner Inhaltsstoffe als Wirkstoffe. Pharmazeutisch unterliegen sie naturbedingt Schwankungen in ihrer quantitativen (DEV = Drogen-ExtraktVerhältnis) und in ihrer qualitativen Zusammensetzung. Studien zur Bioverfügbarkeit/Bioäquivalenz sind deshalb nur möglich, wenn allgemein akzeptierte wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe bekannt sind. Alternativ kommt die Effektkinetik infrage, bei der humanpharmakologische Wirkungen geprüft werden, die für die Wirksamkeit entscheidend sind.
Stellenwert von Phytopharmaka in der Geriatrie Um die Verkehrsfähigkeit von Phytopharmaka zu erhalten, musste für die jeweiligen Präparate im Rahmen der Nachzu-
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FORTBILDUNG
Tabelle 2: Physiologische Veränderungen und Pharmakokinetik
Parameter Resorption
Altersveränderungen reduzierte Bildung von Magensäure, verminderte Magen-Darm-Motilität, Abnahme der Resorptionsfläche des Dünndarms, reduzierte Durchblutung von Leber und Splanchnikusgebiet
Verteilung
Abnahme des Gesamtkörper-Wassers Zunahme des Gesamtkörper-Fettgehalts Abnahme von Serumalbumin
Metabolismus
Phase 1 vermindert, Abnahme der Leberzellmasse, hepatischer Blutfluss vermindert
Renale Ausscheidung renaler Blutfluss vermindert, Abnahme der Glomerula und glomerulären Filtration
Klinische Bedeutung veränderte Löslichkeit, verzögerte, verminderte Resorption von Arzneimitteln, Völlegefühl, Blähungen, atypische Oberbauchbeschwerden
Verteilungsvolumen: wasserlösliche Arzneimittel ↓, fettlösliche Arzneimittel ↑, freier Arzneimittelanteil ↑
First-Pass-Metabolismus ↓, Biotransformation von Arzneimitteln verändert
Elimination von Arzneimitteln oder Metaboliten ↓
lassung der Nachweis der Qualität, der klinischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit erbracht werden. Experimentelle In-vitro- beziehungsweise In-vivo-Daten reichten für die Übertragbarkeit von Wirkungen auf Wirksamkeit nicht aus und bedurften der humanpharmakologischen Bestätigung. Dies erfolgte meist extraktspezifisch durch prospektive, randomisierte plazebo- oder referenzkontrollierte Studien nach Prüfrichtlinien und konfirmatorischer statistischer Auswertung beziehungsweise durch Metaanalysen oder Review der Cochrane Collaboration. Aus den klinischen Prüfungen kristallisierte sich heraus, dass der Einsatz von Phytopharmaka – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht bei akuten Erkrankungen, sondern vorrangig bei subakuten und chronischen Erkrankungen infrage kommt. Ätiopathogenetisch sind bei derartigen Gesundheitsstörungen vielfach mehrere Mechanismen beteiligt,
Tabelle 3: Kriterien für die Pharmakotherapie Tabelle 3: im Alter
■ Besteht eine begründete Verordnungsfähigkeit? ■ Wird das richtige Arzneimittel bei Multimorbidität verordnet? ■ Sind Pharmakokinetik und Pharmakodynamik verändert? ■ Bestehen Arzneimittelinteraktionen? ■ Sind Dosisänderungen erforderlich? ■ Kann ein Arzneimittel abgesetzt werden, bedarf es der Poly-
pharmakotherapie? ■ Ist eine Dauertherapie erforderlich, oder reicht die
symptomenorientierte Gabe aus? ■ Ist mit höheren Raten an Nebenwirkungen zu rechnen? ■ Ist die Compliance gewährleistet?
die von Multi-Target-Wirkstoffen effektiver und mit weniger Nebenwirkungen erfasst werden als von selektiv wirkenden Einzelstoffen. Grundsätzlich sollten Arzneimittel in der Geriatrie nur nach kritischer Nutzen-Risiko-Abwägung (Tabelle 3) empfohlen werden (2). Werden diese Aspekte beachtet, dann ist der Einsatz von Phytopharmaka in der Geriatrie begrenzt.
Zusammenfassung Phytopharmaka gehören zur Allopathie und sind entsprechend den synthetischen Arzneimitteln auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Als komplex zusammengesetzte Vielstoffgemische enthalten sie verschiedene Fraktionen und gelten gemäss AMG und EU-Richtlinien in ihrer Gesamtheit und nicht bezüglich einzelner Inhaltsstoffe als Wirkstoff. Als Multi-Target-Wirkstoffe greifen sie an mehreren Mechanismen an, wirken pleiotrop und besitzen weniger wirkungsmechanistisch bedingte Nebenwirkungen. Pflanzliche Extrakte sind in der Regel aus pharmakokinetischer Sicht in der Geriatrie – sieht man von bekannten Interaktionen mit anderen Arzneimitteln über pg-Protein beziehungsweise CYP-450-Isoenzyme ab – weitgehend unproblematisch. ■
Prof. Dr. med., Dr. med. dent. Dieter Loew Arzt für Pharmakologie Klinische Pharmakologie D-65191 Wiesbaden
Interessenkonflikte: keine
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2010. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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