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BERICHT
Juvenile Hypertonie
Neue Leitlinien helfen bei der Therapie
Europaweit steigt die Zahl der Jugendlichen und Kinder, die an einer Hypertonie erkrankt sind. Adipositas und Bewegungsmangel fördern die Entstehung. Unbehandelt geht die juvenile Hypertonie zumeist in eine Erwachsenenhypertonie über. Die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (European Society of Hypertension, ESH) nimmt dies zum Anlass, erstmals Leitlinien zur Behandlung der Hypertonie im Kindes- und Jugendalter vorzustellen.
Nach Ursachen fahnden Wird eine Hypertonie diagnostiziert, wird als Nächstes untersucht, um welche Hypertonieform es sich handelt. Eine Hypertonie bei Kindern unter 10 Jahren ist meist organisch bedingt. Häufigste Ursache ist eine Nierenerkrankung. Wichtig ist es auch festzustellen, ob die Hypertonie bereits zu Organschäden geführt hat. Eine der häufigsten Komplikationen ist die linksventrikuläre Hypertrophie (LVH), die zumeist später – im Erwachsenenalter – zu kardiovaskulären Ereignissen führen kann.
CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Die ESH unterscheidet vier verschiedene Blutdruckbereiche bei Kindern und Jugendlichen (Tabelle 1). Definitionsgemäss fängt die kindliche Hypertonie ab der 95. Perzentile an, wobei Körpergrösse, Alter und Geschlecht berücksichtigt werden. Die normativen Daten, mit welchen die Perzentilen berechnet wurden, stützen sich auf eine US-amerikanische Studie an über 70 000 Kindern (Task Force for Blood Pressure in Children). Zu beachten ist jedoch, dass die Perzentilengrenzen relativ eng sind. «Manchmal bedeutet eine Blutdruckerhöhung um lediglich 5 mmHg, dass ein Kind als Hypertoniker eingestuft wird», erklärt Privatdozent Dr. Robert Dalla Pozza von der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Frühe Diagnose beugt Schäden vor Damit Folgeschäden vorgebeugt werden kann, muss eine Hypertonie rechtzeitig erkannt werden. Bei Kindern und Ju-
gendlichen mit einer schweren Hypertonie, die nicht therapiert wurde, ist das Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse, hypertensive Enzephalopathien, Krampfanfälle und eine kongestive Herzinsuffizienz erhöht. Bei allen Jugendlichen und Kindern sollte der Arzt daher routinemässig den Blutdruck untersuchen, und zwar bereits ab einem Alter von 3 Jahren. Gemäss den Richtlinien der ESH müssen mehrere unabhängige Messungen über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden, um eine Hypertonie zu diagnostizieren. Die Klassifikation der Blutdruckbereiche (Tabelle 1) beruht auf der auskultatorischen Blutdruckmessmethode. Oszillometrisch gewonnene Werte können höher sein. Die Manschette sollte den Arm lückenlos umfassen, die Breite der Manschette etwa die Hälfte des Armumfangs betragen. Um eine Praxisnormotonie («masked hypertension») sowie eine Weisskittelhypertonie auszuschliessen, sind auch ambulante Blutdruckmessungen erforderlich. Hierbei sind 24-Stunden-Messungen von Vorteil.
Allgemeinmassnahmen Bei einer sekundären Hypertonie steht die Behandlung des Grundleidens im Vordergrund. Eine essenzielle Hypertonie tritt häufig zusammen mit Risikofaktoren für ein metabolisches Syndrom auf. Daher müssen bei Patienten mit essenziellem Bluthochdruck auch Laboruntersuchungen wie Lipidprofil und Nüchternglukose erfolgen (2). Bei hochnormalen Blutdruckwerten sollte zunächst auf eine medikamentöse Therapie verzichtet werden. Adipositas ist der wichtigste Risikofaktor für einen erhöhten
Merksätze
■ Gelingt es innerhalb von sechs Monaten nicht, den Blutdruck unter die 95. Perzentile zu senken, ist eine medikamentöse Behandlung indiziert.
■ Eine Hypertonie im Kindes-/Jugendalter ist unbedingt zu behandeln, da sie auf Dauer zu Gefässschäden führt.
484 ARS MEDICI 12 ■ 2010
JUVENILE HYPERTONIE
Tabelle 1: Klassifikation von Blutdruckbereichen Tabelle 1: bei Kindern/Jugendlichen
Klassifikation normal hochnormal
milde Hypertonie (Schweregrad 1) schwere Hypertonie (Schweregrad 2)
Perzentile
< 90 ≥ 90 bis < 95, bei Adoleszenten auch ≥ 120/80 mmHg (sogar dann, wenn < 90) ≥ 95 bis < 99 + 5 mmHg > 99 + 5 mmHg
Tabelle 2: Antihypertensivatherapie bei Kindern/Jugendlichen (1)
Medikamentenklasse ACE-Hemmer
AT1-Blocker
Kalziumantagonisten Betablocker Diuretika
Medikament
Captopril Enalapril Fosinopril Lisinopril Ramipril
Irbesartan Losartan
Amlodipin Nifedipin
Propranolol
Hydrochlorothiazid Spironolacton Furosemid
Dosis
0,3—0,5 mg/kg/Dosis 0,08—0,6 mg/kg/Tag 0,1—0,6 mg/kg/Tag 0,08—0,6 mg/kg/Tag 2,5—6 mg/Tag
75—150 mg/Tag 0,75—1,44 mg/kg/Tag
0,06—0,03 mg/kg/Tag 0,25—0,5 mg/kg/Tag
1 mg/kg/Tag
0,5—1 mg/kg/Tag 1 mg/kg/Tag 0,5—2,0 mg/kg/Dosis
Einnahme
2- bis 3-mal täglich 1- bis 2-mal täglich 1-mal täglich 1-mal täglich 1-mal täglich
1-mal täglich 1-mal täglich
1-mal täglich 1- bis 2-mal täglich
2- bis 3-mal täglich
1-mal täglich 1- bis 2-mal täglich 1- bis 2-mal täglich
Blutdruck. Oft reicht es aus, Übergewicht zu reduzieren und Sport zu treiben. «Ein Ausdauertraining von einer halben Stunde pro Tag senkt den Blutdruck um etwa 4 bis 9 mmHg», erklärt Dalla Pozza. Insbesondere Schwimmen, Wandern oder Radfahren sind empfehlenswert. Die Ernährung sollte salz- und fettarm sein (2) und die tägliche Natriumzufuhr von 1200 mg nicht überschreiten (3). Dann sollte man mindestens sechs Monate warten und schauen, ob diese Massnahmen ausreichen. Bei einer Prähypertonie ohne zusätzliche Risikofaktoren ist das oft der Fall.
Medikamentöse Behandlung Gelingt es nicht, den Blutdruck auf Werte unterhalb der 95. Perzentile zu senken,
ist eine medikamentöse Behandlung meist indiziert. Hat der Hochdruck bereits Organe geschädigt oder leidet der Jugendliche zusätzlich unter anderen Erkrankungen wie einem Diabetes mellitus, wird eine Senkung unter die 90. Perzentile empfohlen (2, 3). Die vier wichtigsten Medikamentenklassen, die zur Therapie der juvenilen Hypertonie eingesetzt werden, sind Angiotensin-Konversionsenzym-(ACE-) Hemmer, Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptorantagonisten (AT1-Blocker), Kalziumkanalblocker und Betablocker (Tabelle 2). Wie häufig in der Pädiatrie kann allerdings ein Teil der Arzneistoffe nur offlabel eingesetzt werden, weil wegen mangelnder Erfahrung die Anwendung bei Kindern nicht empfohlen wird. Die Auswertung von 27 Studien ergab eine
vergleichbare blutdrucksenkende Wirkung von ACE-Hemmern, AT1-Blockern und Kalziumkanalblockern. Diuretika werden meist zusammen mit ACE-Hemmern oder AT1-Blockern gegeben, obgleich die Datenlage noch unzureichend ist. Die Wirksamkeit des ältesten ACE-Hemmers, Captopril, konnte hinlänglich nachgewiesen werden. Nachteilig ist jedoch, dass Captopril nur eine kurze Wirkungsdauer hat und daher dreimal täglich eingenommen werden muss. Die Wirksamkeit von Enalapril, Fosinopril und Lisinopril wurde in plazebokontrollierten Studien nachgewiesen. Auch Ramipril führte zu einer Blutdrucksenkung und verminderte darüber hinaus die Proteinurie bei renaler Hypertonie. Andere Studien belegten die Effizienz von AT1-Blockern wie Irbesartan und Losartan. Der Kalziumantagonist Amlodipin reduzierte signifikant den systolischen Blutdruck in einer grossen plazebokontrollierten multizentrischen Studie, an welcher 268 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren teilnahmen. Demgegenüber ist die Datenlage bezüglich Nifedipin begrenzt. Der Betablocker Propranolol wird seit langer Zeit zur Behandlung des juvenilen Bluthochdrucks eingesetzt. In einer neueren plazebokontrollierten Studie an 140 Kindern führte Propranolol zu einer signifikanten Reduktion des systolischen und diastolischen Blutdrucks und erwies sich als gut verträglich.
Praktisches Vorgehen Die medikamentöse Behandlung beginnt mit nur einem Arzneistoff in der niedrigsten Dosierung. Falls der Blutdruck innerhalb von vier bis acht Wochen nicht ausreichend gesenkt werden kann, wird die Dosis erhöht, bis therapeutische Wirkungen und Nebenwirkungen eintreten oder die maximal zulässige Dosis erreicht ist. Ist auch dann die therapeutische Wirkung noch unzureichend, wird auf ein anderes Medikament umgestellt. Falls der Blutdruck noch immer nicht ausreichend gesenkt werden konnte, wird ein zweiter Wirkstoff, vorzugsweise mit einem komplementären Wirkmechanismus, hinzugefügt.
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BERICHT
Tabelle 3: Behandlung der hypotensiven Krise bei Kindern/Jugendlichen (1)
Medikament Nitroprussidnatrium Labetalol
Nicardipin Clonidin Esmolol Enalapril
Furosemid Nifedipin Captopril
Minoxidil
Medikamentenklasse direkter Vasodilatator Alpha- und Betablocker Kalziumantagonist Antisympathotonikum Betablocker ACE-Hemmer
Diuretikum Kaiziumantagonist ACE-Hemmer
direkter Vasodilatator
Verabreichungsmodus
Dosis
intravenöse Infusion 0,5—8 µg/kg/min
intravenöse Infusion 0,25—3 mg/kg/h
intravenöse Infusion 1—3 µg/kg/h
intravenöse Bolusinjektion
2—6 µg/kg/Dosis
intravenöse Infusion 100—500 µg/kg/min
intravenöse Bolusinjektion
0,05—0,1 mg/kg/ Dosis
intravenöse Bolusinjektion
oral
0,5—5 mg/kg/Dosis 0,25 mg/kg/Dosis
oral 0, 1—0,2 mg/kg/
oral 0,1—0,2 mg/kg/ Dosis
Wirkungseintritt
innerhalb von Sekunden 5—10 Minuten
innerhalb von Minuten 10 Minuten
innerhalb von Sekunden 15 Minuten
innerhalb von Minuten 20—30 Minuten
10—20 Minuten Dosis
5—10 Minuten
Nebenwirkungen
Thiocyanat-Toxizität
Herzversagen, Bradykardie, kontraindiziert bei Asthma bronchiale Reflextachykardie
Mundtrockenheit, Sedierung Bradykardie, kontraindiziert bei Asthma bronchiale kontraindiziert bei beidseitiger Verengung der Nierenarterien Hypokaliämie
reflektorische Tachykardie kontraindiziert bei beidseitiger Verengung der Nierenarterien Salz- und Wasserretention
Abbildung: Rechte Arteria carotis eines hochdruckkranken Jugendlichen in Farbdopplersonografie. Der Blutstrom durch das Gefäss (rot) ist (noch) normal. Es sind keine Verwirbelungen zu erkennen, die durch eine unregelmässige Gefässstruktur oder veränderte Gefässwand verursacht werden könnten.
Hypertensive Krise Bei einer Hochdruckkrise kann auf die intravenöse Gabe von blutdrucksenkenden Medikamenten zumeist nicht verzichtet werden. Eine Dauerinfusion ist ungefährlicher als die Injektion eines Bolus, da dies zu einer Mangeldurchblu-
tung mit Organschäden führen kann. Nitroprussidnatrium und Labetalol sind die am häufigsten verabreichten Medikamente. Hypertensive Notfälle können auch durch orale Gabe von blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt werden (Tabelle 3). Zu beachten ist, dass der Blutdruck nicht zu rasch abgesenkt werden darf. Eine Blutdrucksenkung um mehr als 20 Prozent in den ersten 6 Stunden ist gefährlich, da sie zu einer Minderdurchblutung lebenswichtiger Organe führen kann. Als Nächstes folgt eine allmähliche Reduktion innerhalb der nächsten 24 bis 48 Stunden.
Fazit Mit den neuen ESH-Richtlinien verfügen Ärzte erstmalig über eine einheitliche Leitlinie, nach der sie sich bei juveniler Hypertonie richten können. Allerdings wird deutlich, dass die Datenlage noch
unzureichend ist. Der zumeist lange
zeitliche Abstand zwischen dem Beginn
der kindlichen Hypertonie und späteren
Organschädigungen macht es schwie-
rig, einen kausalen Zusammenhang
nachzuweisen. Aus diesem Grund ist es
auch nicht einfach, positive Auswirkun-
gen einer medikamentösen Langzeitthe-
rapie im Jugendalter, insbesondere die
Verhütung bluthochdruckbedingter Or-
ganschäden durch Antihypertensiva, zu
belegen. Für die Zukunft sind weitere
Studien dringend erforderlich.
■
Dr. med. Claudia Borchard-Tuch
Interessenkonflikte: keine
Literatur unter www.allgemeinarzt-online-de/downloads
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 5/2010. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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