Transkript
FORTBILDUNG
Muskuläre Gelenkschmerzen
Diagnostische und therapeutische Aspekte
Eine vertiefte diagnostische Beschäftigung führt zur
Einsicht, dass eine Mehrzahl von Bewegungsapparat-
schmerzen unspezifischer Natur ist und nicht durch
radiologische und neurologische Befunde erklärt
werden kann. Bei Gelenkschmerzen ohne erkennbare
entzündliche oder mechanische Ursache ist immer
an muskuläre Schmerzursachen zu denken.
BEAT DEJUNG
Baustelle Schmerzmedizin Bewegungsapparatschmerzen sind eines der grossen Probleme der Medizin, das noch einer befriedigenden Lösung harrt. 85 Prozent aller Mitteleuropäer werden in ihrer Lebenszeit einoder mehrmals von solchen Schmerzen befallen. Trotz eines Heeres von Ärzten, Therapeuten und Alternativheilern wird ein beträchtlicher Teil von ihnen, in der Schweiz sind es 16 Prozent der Bevölkerung, zu chronischen Schmerzpatienten (10). Sie haben mehr als 6 Monate lang täglich Schmerzen, oft leiden sie jahre- oder jahrzehntelang an ihren therapieresistenten Qualen. 1 bis 2 Prozent unserer Bevölkerung werden wegen ihrer Schmerzen schliesslich berentet. Bei der Suche nach Ursachen solcher Schmerzzustände folgen viele Ärzte nach wie vor traditionellen Pfaden. In einer Überinterpretation radiologischer Befunde werden als Schmerzursachen oft degenerative Skelettveränderungen angeschuldigt. Oder es werden Nervenkompressionen radikulärer Art (Typ Diskushernie) oder peripherer Natur (Typ Karpaltunnelsyndrom) für die Schmerzen verantwortlich gemacht. Nun kommen diese Schmerzursachen natürlich häufig vor. Eine vertiefte diagnostische Beschäftigung mit den Problemen führt aber unweigerlich zur Einsicht, dass eine Mehrzahl von Bewegungsapparatschmerzen unspezifischer Natur sind und nicht durch radiologische und neurologische Befunde erklärt werden können. In den letzten Jahren hat man sodann vermehrt versucht, Schmerzzustände psychologisch zu erklären. Die Aktivitäten, die in dieser Richtung unternommen werden,
kontrastieren jedoch frappant mit der Wirkungslosigkeit, welche psychologische und psychiatrische Therapiemodalitäten chronischen Schmerzzuständen gegenüber zu entfalten vermögen.
Die Muskulatur als Schmerzursache Dieses nahe liegende Theorem ist in unserer Schmerzmedizin in den vergangenen Jahrzehnten reichlich stiefmütterlich behandelt worden. Dabei hat Janet Travell das Paradigma des myofaszialen Schmerzes schon ab 1950 mit grossem Aufwand etabliert und später zusammen mit Dave Simons die Hypothese der Endplattendysfunktion als Ursache solcher Schmerzen postuliert (12). Überlastung und traumatische Überdehnung eines Muskels scheinen ab einem gewissen Ausmass in der Lage zu sein, im Bereich der Endplatten eine Pathologie hervorzurufen, welche sich in einer unterschwelligen Dauerdepolarisierung auf der Oberfläche gewisser Muskelfasern äussert, zu einer Erschöpfung von Kalzium im sarkoplasmatischen Retikulum und von Energieträgern führt und in den betreffenden Muskelfasern lokale Kontrakturen erzeugt. Die betroffenen Fasern geraten in einen Hartspannzustand, im Bereich der betroffenen Endplatten entsteht eine lokale Allodynie, die auf ischämischen Prozessen am Ort der lokalen Kontraktur beruht. Es handelt sich hier also nicht einfach um Veränderungen im Muskeltonus, sondern um eine lokale Pathologie, die tastbar ist und deren Diagnosekriterien im Übrigen im Vergleich zwischen verschiedenen Untersuchern
Merksätze
■ Wenn immer ein Gelenkschmerz keine erkennbare entzündliche oder mechanische Ursache hat, suche man nach muskulären Schmerzursachen.
■ Diese bestehen in lokalen muskulären Kontrakturen (Triggerpunkten) in oft weit entfernten Muskelpartien.
■ Durch manuelle Techniken und Dry Needling an den Triggerpunkten lassen sich solche «Gelenkschmerzen» oft erfolgreich behandeln.
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MUSKULÄRE GELENKSCHMERZEN
zuverlässig (intertester-reliable) sind (7). In den vergangenen 20 Jahren ist eine grosse Zahl von Forschungsresultaten publiziert worden, welche das Paradigma des myofaszialen Schmerzes stützen. Es sind dies klinische Daten (Simons [12], Dejung [3]), histologische Befunde (Simons [12], Mense [9]), elektrophysiologische (Simons [12], Hubbard [6], Hong [5]) und biochemische (Brückle [1], Shah [11]) Studien.
Der übertragene Schmerz Im Zusammenhang mit der Erforschung muskulärer Schmerzursachen ist ein Phänomen in den Vordergrund getreten, ohne dessen Berücksichtigung eine erfolgreiche Schmerzmedizin heute nicht mehr möglich ist. Aus der inneren Medizin (Beispiel Herzinfarkt) ist gut bekannt, dass sich der Ort der Schmerzempfindung und der Ort der Schmerzentstehung oft weit voneinander entfernt befinden. Simons hat gezeigt, dass solche Schmerzübertragungen bei muskulären Störungen überaus häufig sind und dass sie die Dermatomgrenzen regelmässig beträchtlich überschreiten (12). Mense hat diese Phänomene in den letzten Jahren gründlich erforscht. Der Autor zeigte, dass durch die Diffusion von Neurotransmittern im Schmerzafferenzsystem des Hinterhorns normalerweise stumme Synapsen zu benachbarten Neuronen aktiviert werden können, die dann einen übertragenen Schmerz im Projektionsgebiet dieser Neurone auslösen können (8). Damit wird klar, dass eine muskuläre Pathologie einen als Gelenkschmerz fehlinterpretierten Schmerz verursachen kann, wenn sich das Projektionsgebiet des sekundär erregten Neurons im Bereich dieses Gelenks befindet. Bei einem Gelenkschmerz hat daher der Diagnostiker immer zu entscheiden, ob das betreffende Gelenk selber eine mechanische oder entzündliche Schmerzquelle enthält. Wenn er eine solche nicht finden kann, wird er eine Schmerzquelle ausserhalb des Gelenks suchen. Sehr oft ist dies dann ein Kontraktionsknoten in einem Muskel. Da in der Regel mehrere Muskeln als Ursache für einen übertragenen Schmerz in Frage kommen, lässt sich eine gründliche Diagnostik nicht vermeiden.
Muskulär verursachte Gelenkschmerzen Entsprechend der Anzahl Muskeln an unserem Körper sind die Möglichkeiten, dass muskuläre Triggerpunkte «Gelenkschmerzen» auslösen können, ausserordentlich zahlreich. Anhand von sieben häufigen Situationen zeigen wir, wie schmerzhaft gewordene muskuläre Triggerpunkte Schmerzmanifestationen im Bereiche von Gelenken erzeugen können.
Schulterschmerz Triggerpunkte des M. supraspinatus können fronto-laterale Schulterschmerzen auslösen, die man mit einer präzisen Behandlung rasch beseitigen kann (Abbildung 1). Wenn neben dem M. supraspinatus auch der M. deltoideus und der M. subscapularis Triggerpunkte aufweisen, so kann die mit einer Triggerpunktpathologie verbundene leichte Muskelverkürzung ein echtes Impingement-Syndrom hervorrufen. Mit einer intraartikulären Injektion eines mit einem Lokalanästhetikum
gemischten Steroids lässt sich der Reizzustand im Schultergelenk sogleich beseitigen. Eine anschliessende manuelle Behandlung der drei erwähnten Muskeln beseitigt die Impingementursache nachhaltig und erspart dem Patienten oft eine operative Defilée-Erweiterung.
Ellbogenschmerz Triggerpunkte im M. supinator sind eine der vielen Ursachen einer lateralen Epikondylodynie (Abbildung 2). Oft erzeugen sie auch Schmerzen im radialen Handgelenk- und Fingerbereich.
Handgelenkschmerz Triggerpunkte im M. extensor carpi radialis brevis können einen Schmerz im dorsalen Handgelenkbereich vortäuschen (Abbildung 3).
Leisten- und Hüftschmerz Triggerpunkte im M. adductor longus sind eine der vielen muskulären Schmerzursachen, die einen Leistenschmerz auslösen und ein Hüftgelenksproblem vortäuschen können (Abbildung 4). Manchmal erzeugen Triggerpunkte im Adductor longus auch mediale Knieschmerzen.
Knieschmerz Manchmal ist ein präpatellärer Schmerz eine direkte Folge eines Triggerpunkts im proximalen M. rectus femoris (Abbildung 5). Eine Lokalanästhetikum-Injektion an den Triggerpunkt beseitigt den Schmerz unverzüglich.
Sprunggelenkschmerz Oft hinterlässt ein Supinationstrauma einen lateralen Fussschmerz. Früher hat man diesen Schmerz oft einer lateralen Bandruptur im Sprunggelenksbereich zugeschrieben und hat diese operiert. Die häufig postoperativ andauernden Schmerzen haben darauf hingewiesen, dass der Schmerz Folge einer traumatischen Überdehnung der lateralen Unterschenkelmuskulatur und der dadurch entstandenen Triggerpunkte sein kann (Abbildung 6). Eine Behandlung der Peronäus-Triggerpunkte beseitigt in solchen Fällen den lateralen Fussschmerz nachhaltig.
Fussschmerz Triggerpunkte im M. tibialis anterior sind oft die Ursache von Schmerzen im Sprunggelenksbereich, auf dem Rist und in der Grosszehe (Abbildung 7).
Diagnostik von muskulär verursachten Gelenkschmerzen Sie beginnt mit einer orthopädischen und einer rheumatologischen Untersuchung des betreffenden Gelenks. Wenn diese Explorationen kein verwertbares Resultat ergeben, schliessen wir die Suche nach einer muskulären Schmerzursache an. Mit Dehntests untersuchen wir der Reihe nach alle Muskeln, die als Sitz der muskulären Störung infrage kommen. Fündig
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Abbildung 8: Querpalpation des Hartspannstrangs.
Abbildung 1: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. supraspinatus aus in den frontolateralen Bereich des Schultergelenks.
Abbildung 2: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. supinator aus in den lateralen Epikondylus und in den Bereich der Radialseite der Hand.
Abbildung 7: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. tibialis anterior aus in den frontalen Bereich des oberen Sprunggelenkes und in die Grosszehe.
Abbildung 9: Längspalpation auf dem Hartspannstrang zur Lokalisation des schmerzhaften Triggerpunkts.
Abbildung 3: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. extensor carpi radialis brevis aus in den Dorsalbereich des Handgelenks.
Abbildung 5: Schmerzübertragungsgebiet von einem proximalen Triggerpunkt des M. rectus femoris aus in die Patellaregion.
Abbildung 4: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. adductor longus aus in die Leiste und in den Kniegelenksbereich.
Abbildung 10: Manuelle Therapie eines Triggerpunkts im M. supinator.
Abbildung 11: Manuelle Therapie von Triggerpunkten des M. subscapularis.
werden wir, wenn eine die-
ser Dehnungen den Gelenk-
schmerz provoziert, der den
Patienten zu uns geführt hat.
Die weitere Untersuchung
erfolgt dann palpatorisch.
Abbildung 12: Dry-Needling-Therapie eines Triggerpunkts im M. adductor longus.
Wir suchen mit einer Querpalpation (Abbildung 8) im betreffenden Muskel einen
oder mehrere Hartspann-
stränge. Mit einer minutiösen Längspalpation (Abbildung 9)
entlang dieser Stränge suchen wir nach der schmerzhaften
Kontraktur, dem Triggerpunkt. Der Patient meldet uns, wenn
sein bekannter Gelenkschmerz bei der Untersuchung pro-
voziert wird. Als bestätigendes Diagnosekriterium werten wir
das Phänomen, dass im Verlauf der Dry-Needling-Therapie der
gefundene Hartspannstrang eine lokale Zuckung macht. Wie
oben erwähnt ist die hier beschriebene Diagnostik Intertester-
zuverlässig (7).
Abbildung 6: Schmerzübertragungsgebiet von Triggerpunkten des M. peronaeus brevis aus in den lateralen Sprunggelenksbereich.
Therapiemöglichkeiten bei Triggerpunktschmerzen Ziel einer Therapie muskulär bedingter Schmerzen muss es sein, die lokalen Kontrakturen im Triggerpunkt aufzudehnen, damit die lokale Ischämie und die Hypoxie zu beseitigen und so die Schmerzen zu reduzieren. Am besten haben sich dabei manuelle Techniken am Triggerpunkt und seiner Umgebung bewährt (Abbildung 10 und 11). Sodann auch eine Dry-Need-
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www.imtt.ch Interessengemeinschaft für myofasziale Triggerpunkttherapie
ling-Behandlung mit Akupunkturnadeln, die genau ins Zen-
trum der lokalen Kontraktur eingestochen werden (und dabei
immer eine lokale Zuckung des Hartspannstranges auslösen,
der den Triggerpunkt enthält) (Abbildung 12).
Diese Behandlungen erfolgen an den Stellen der stärksten
Allodynie am Körper des Patienten. Man muss sich darum
mit dem Patienten über das Ausmass des therapeutisch be-
wirkten Schmerzes eingehend absprechen. Wenn die Diagnose
richtig und die Therapie präzise ist, so nehmen die Spannung
des Gewebes und der Schmerz des Patienten nach einer oder
einigen Therapiesitzungen deutlich und nachhaltig ab. Oft
sind muskulär verursachte Gelenkschmerzen definitiv zum
Verschwinden zu bringen. Erste Therapiestudien bestätigen
solche Erfolge (2, 4).
■
Literatur: 1. Brückle W et al (1990): Gewebe-pO2-Messung in der verspannten Rückenmuskulatur. Z. Rheumatol
49, 208—216. 2. Dejung B (1999): Die Behandlung unspezifischer chronischer Rückenschmerzen mit manueller
Triggerpunkt-Therapie. Man Med 37/3, 124—131. 3. Dejung B (2009): Triggerpunkt-Therapie, 3. Aufl. Huber, Bern. 4. Gunn CC (1980): Dry Needling of Muscle Motor Points for chronic Low Back Pain. Spine 5/3, 279—
291. 5. Hong CZ, Simons DG (1998): Pathophysiologic and electrophysiologic mechanisms of myofascial
trigger points. Arch Phys Med Rehab 79, 863—872. 6. Hubbard DR, Berkoff GM (1993): Myofascial triggerpoints show spontaneous needle EMG activity.
Spine 18, 1803—1807. 7. Licht G et al (2007): Untersuchung myofaszialer Triggerpunkte ist zuverlässig. Man Med 45/6,
402—408. 8. Mense S, Simons DG, Russel IJ (2001): Muscle Pain, Understanding its Nature, Diagnosis, and
Treatment. Lippincott Williams and Wilkins, Philadelphia. 9. Mense S (2005): Muskeltonus und Muskelschmerz. Man Med 43/3, 156—161. 10. Oggier W (2007): Volkswirtschaftliche Kosten chronischer Schmerzen in der Schweiz. Schweize-
rische Ärztezeitung 88/29, 1265—1269. 11. Shah JP et al (2005): An in vivo microanalytical technique for measuring the local biochemical
milieu of human skeletal muscle. Apple Physiol 99, 1977—1984. 12. Simons DG, Travell JG, Simons LS (1999): Myofascial Pain and Dysfunction, second edition.
Williams & Wilkins, Baltimore.
Dr. med. Dr. phil. Beat Dejung Facharzt Rheumatologie und Rehabilitation FMH
Rychenbergstrasse 40 8400 Winterthur
E-Mail: elke.beat.dejung@hin.ch
Interessenlage: Der Autor deklariert keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dieser Publikation.
PHARMA NEWS
Clopidogrel-Mepha von Rückruf nicht betroffen
Aufgrund von Verstössen gegen Herstellungsrichtlinien bei einem Wirkstofflieferanten aus Asien hat die europäische Arzneimittelbehörde European Medicines Agency (EMA) Ende März für bestimmte Generika mit dem Wirkstoff Clopidogrel-Besilat einen Rückruf aus dem Markt empfohlen. In verschiedenen Ländern, u.a. auch in Deutschland und Österreich, wurden die betroffenen Medikamente in-
zwischen zurückgezogen. Clopidogrel-Mepha ist von diesem Rückruf nicht betroffen, da der Wirkstoff vom Mepha-Produkt von einem anderen Hersteller stammt. Mepha hat Clopidogrel-Mepha im Februar 2010 in der Schweiz eingeführt. Andreas Bosshard, CEO Mepha Pharma AG: «ClopidogrelMepha ist vom Rückruf nicht betroffen. Clopidogrel-Mepha enthält einen Wirkstoff eines
geprüften, zertifizierten Herstellers in Europa, der regelmässig von den europäischen Behörden und von Mepha inspiziert wird.»
Weitere Informationen erhalten Sie bei: Christoph Herzog
Mediensprecher Mepha Pharma AG Dornacherstrasse 114, 4147 Aesch
Tel. 061 705 44 71 E-Mail: christoph.herzog@mepha.ch
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