Transkript
FORTBILDUNG
Depression im Alter
Adäquate Behandlung auch im Alter erforderlich und Erfolg versprechend
Die Prävalenz affektiver Störungen im Alter ist mit
maximal 20 Prozent keineswegs so hoch wie von
manchen vermutet. Zudem mehren sich die Hinweise
dafür, dass eine entsprechende auf Heilung bezie-
hungsweise Vollremission zielende Behandlung auch
im Alter angemessen ist. Der Hausarzt ist somit auch
für diese Erkrankungen in der Schlüsselposition. Dies
ist eine dankbare Aufgabe, wenn man sie annimmt.
GABRIELA STOPPE
Die Konfrontation mit Krankheiten, nachlassender Attraktivität und Leistungsfähigkeit, der Bedrohung von Autonomie und nicht zuletzt der nahende Tod sind Herausforderungen, die von älteren Menschen gemeistert werden müssen. Diese Entwicklungsaufgaben können vorübergehend Verstimmungen und Ängste auslösen, jedoch stehen gleichzeitig gelebte und erlebte Erfahrung, Wissen und – zumindest heutzutage noch – sozioökonomische Sicherheit als Ressourcen zur Verfügung. Dies mag erklären, warum die Prävalenz affektiver Störungen im Alter mit maximal 20 Prozent keineswegs so hoch ist wie von manchen vermutet. Alle Formen depressiver Erkrankungen (depressive Episoden, uni- und bipolare Verläufe, Anpassungsstörungen etc.) kommen auch im Alter vor. Wie in anderen Altersabschnitten ist die Prognose schlechter, wenn komorbid Angst- oder Persönlichkeitsstörungen auftreten. Auch verschlechtert eine komorbide körperliche Erkrankung sowohl die Behandlungsprognose der Depression als auch die der körperlichen Erkrankung (1).
Klinisches Erscheinungsbild und Diagnose Grundsätzlich gelten dieselben diagnostischen Kriterien wie in anderen Altersgruppen. Häufig ist es jedoch so, dass die geforderte depressive oder ängstliche Verstimmung von den Patienten nicht in den Vordergrund gerückt wird. Erfragt man jedoch Veränderungen der Affektivität (Können Sie sich noch
genau so freuen und genau so traurig sein wie vor einem Jahr?), kommt man weiter. Gerade depressive Patienten fürchten in einer solchen Situation den Autonomieverlust und auch das Stigma, das immer noch mit einer psychischen Krankheit verbunden ist. Sie stellen deshalb häufig körperliche Beschwerden in den Vordergrund wie Schwindel, Müdigkeit, Unruhe, Appetitmangel, Konzentrationsstörungen oder Schlafstörungen. Hier hilft dann die genauere Anamnese (z.B. typische Schlafstörungen mit Früherwachen und Durchschlafstörungen) sowie beispielsweise die Frage nach zirkadianen Schwankungen der Symptomatik. Immer wenn die körperlichen Befunde die Beschwerden nicht ausreichend erklären oder die vorangehende Behandlung der somatischen Störung keine Befundbesserung mit sich bringt, sollte an das Vorliegen einer Depression gedacht werden. Inzwischen wird vielerorts empfohlen, dass zumindest die Gruppe mit einem hohen Risiko für eine Depression oder Suizidalität regelmässig «gescreent» werden sollte (2, 3). Die Risikogruppen finden sich in Tabelle 1. Als orientierende Skala hat sich die geriatrische Depressionsskala in einer Kurzversion etabliert (siehe Abbildung 1). Zu empfehlen ist auch die etwas
Merksätze
■ Depressionen sind die häufigste seelische Erkrankung im Alter. Oft treten sie zusammen mit Angsterkrankungen auf.
■ Traurigkeit, sozialer Rückzug und eine nachlassende Lebensfreude sind im Alter nicht normal.
■ Bei einer späten Erstmanifestation einer affektiven Störung muss immer an das Vorliegen einer somatischen Erkrankung, insbesondere eine beginnende Demenz, gedacht werden.
■ Nicht erkannte und nicht behandelte Depressionen sind die Hauptursache für die hohe Suizidrate der älteren Bevölkerung. Die Verhinderung von Suiziden ist damit eine Kernaufgabe.
■ Zur Behandlung stehen alle Optionen zur Verfügung, die auch in anderen Altersgruppen gelten. Die Methoden müssen jeweils modifiziert werden.
440 ARS MEDICI 11 ■ 2010
D E P R E S S I O N I M A LT E R
Tabelle 1: Charakteristika bei einem erhöhten Erkrankungsrisiko für Depression im Alter
■ einschneidende Lebenssituationen, z.B. neu auftretende körperliche Krankheiten
■ hirnorganische Erkrankungen, z.B. beginnende Alzheimer-Demenz ■ länger bestehende Schlafstörungen ■ chronische körperliche Erkrankungen, insbesondere wenn sie mit
Schmerzen einhergehen und/oder die Mobilität einschränken ■ fehlendes/eingeschränktes soziales Netz ■ geringere Bildung ■ psychiatrische Erkrankungen in der Vorgeschichte ■ diesbezüglich positive Familienanamnese
Geben Sie bei den folgenden Fragen an, ob sie für Sie innerhalb der letzten Woche zutrafen oder nicht:
1. Sind Sie mit Ihrem Leben grundsätzlich zufrieden?
2. Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Leben ohne Inhalt ist?
3. Befürchten Sie, dass Ihnen etwas Schlimmes zustossen könnte?
4. Fühlen Sie sich überwiegend gut?
Gesamtpunktzahl:
ja nein 01 10 10 01
Abbildung 1: Geriatrische Depressionsskala (GDS) in der kürzesten Version, die noch mit guter Sensitivität und Spezifität einhergeht (D’Ath et al. 1994). Wenn ein oder mehr Punkte erzielt werden, sollte weitergehend das Vorliegen einer Depression überprüft werden. Die Fragen können gestellt werden, oder der Patient kann den Bogen selbst ausfüllen.
längere, jedoch im deutschen Sprachraum gut validierte Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) (4). In jedem Fall sollten folgende zwei Fragen gestellt werden (2): 1. Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen,
traurig, bedrückt oder hoffnungslos? 2. Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und
Freude an Dingen, die Sie sonst gern tun?
Erhärtet sich der Verdacht auf ein depressives Syndrom, so muss nicht nur eine syndromatische Zuordnung erfolgen, sondern auch eine sorgfältige Differenzialdiagnose. Hierbei müssen folgende Aspekte regelmässig beachtet werden: ■ Besteht ein Zusammenhang zu einer Trauerreaktion? Gab
es Hinweise auf einschneidende Lebensereignisse?
■ Gibt es Hinweise auf metabolische oder substanzinduzierte Störungen?
■ Wie ist die Schilddrüsenfunktion? ■ Besteht ein Zusammenhang zu einer (Änderung der) Me-
dikation? ■ Gibt es Hinweise auf Schmerzen oder länger dauernde
Schlafstörungen noch zu klärender Ursache? ■ Besteht eine Komorbidität zum Beispiel mit Angststörun-
gen und ist diese so ausgeprägt, dass sie den Bewegungsraum, das heisst körperliche Aktivität und soziale Teilhabe des Patienten oder der Patientin beeinflusst?
Aufklärung und allgemeine Massnahmen Sofern eine Depression diagnostiziert ist und behandelt werden soll, gilt es, den Patienten entsprechend aufzuklären. Es empfiehlt sich das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung für die Diagnose (2). Dazu gehören: ■ Aufklärung über Diagnose und Prognose ■ Darstellung der Behandlungsmöglichkeit mit ihren Chan-
cen und Möglichkeiten ■ Explorieren von Verständnis, Gedanken und Befürchtun-
gen der Patienten ■ gegebenenfalls Klären der auslösenden Situation ■ Erfassen von Erwartungen und unterschiedlichen Behand-
lungspräferenzen ■ Besonderheiten der Depressionsbehandlung (Dauer, Zeit-
punkt des Ansprechens, Möglichkeit der Unwirksamkeit [z.B. von Psychopharmaka] müssen initial angesprochen werden).
Weiterhin wichtig ist die regelmässige Überprüfung der Suizidalität. Das Risiko nimmt zu, je drängender die Gedanken und je konkreter die Pläne und Vorbereitungen zur Umsetzung sind. Ein besonders hohes Risiko haben Personen mit Suizidversuchen in der Vorgeschichte beziehungsweise in der Familienanamnese. Ein hohes Risiko haben auch depressiv Erkrankte, die an einer schweren wahnhaften Störung oder an einer komorbiden Persönlichkeitsstörung beziehungsweise Alkoholabhängigkeit leiden. Einen Leitfaden für das Gespräch gibt Tabelle 2. Hier und auch im Weiteren muss beachtet werden, wann Spezialisten in die Behandlung miteinbezogen werden sollten. Eine Liste von Kriterien findet sich in der Tabelle 3.
Zur Therapie Die Therapie einer Depression sollte mit einer angemessenen Grundhaltung erfolgen. Diese sollte empathisch und akzeptierend sein. Der depressive Patient darf klagen. Jedoch sollte der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin gewissermassen stellvertretend für den Patienten oder die Patientin Hoffnung vermitteln und positive Veränderungen im Verlauf betonen. Auch sollte angeregt werden, eine Liste angenehmer Aktivitäten anzulegen und diese auch zu beachten. Überdies sollte überprüft werden, welche stützenden und belastenden Interaktionen im sozialen und familiären Umfeld bestehen.
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FORTBILDUNG
Tabelle 2: Leitfragen zur Abklärung Tabelle 2: des Suizidrisikos
■ Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, nicht mehr leben zu wollen?
■ Häufig? ■ Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Haben
sich die Gedanken aufgedrängt? ■ Konnten Sie diese Gedanken beiseite schieben? ■ Hatten oder haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es tun würden? ■ Hatten oder haben Sie Vorbereitungen getroffen? ■ Gibt es umgekehrt etwas, was Sie davon abhält? ■ Haben Sie schon mit jemandem über diese Suizidgedanken
gesprochen? Gegebenenfalls mit wem? ■ Haben Sie jemals einen Suizidversuch unternommen? ■ Hat sich in Ihrer Familie oder Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis
schon jemand das Leben genommen?
Tabelle 3: Kriterien für die Überweisung Tabelle 3: zum Spezialisten
■ fragliche Suizidalität ■ differenzialdiagnostische Unsicherheit ■ wahnhafte Störungen (z.B. bipolare Störungen, schizoaffektive
Störung) ■ Die erste Behandlung greift nicht, d.h. innerhalb von bis zu
zwei Monaten Verlauf beziehungsweise Behandlung hat sich kein Erfolg/keine Besserung abgezeichnet ■ Das Gespräch ist erschwert (z.B. aufgrund sozialer Beziehungen) ■ Hinweise auf Non-Compliance
Hier können klärende Gespräche hilfreich sein. Gegebenenfalls muss auch die soziale (finanzielle) oder Wohnsituation geklärt werden. Unterstützende Massnahmen können Entspannungsverfahren, Bewegungstherapie und sportliche Aktivität (z.B. Nordic Walking in Gruppen) sein. Nicht zuletzt sollte vor allem der Hausarzt mit anderen Behandlern im weitesten Sinne Kontakt suchen (2, 4).
Spezifische Psychotherapie Grundvoraussetzung dafür ist, dass es überhaupt Psychotherapeuten gibt, die mit den Patienten in angemessener Zeit und unter den gegebenen Umständen arbeiten können. Zum anderen muss auch der Patient für sich eine Psychotherapie akzeptieren. In jedem Fall sollte eine Psychotherapie empfohlen werden, wenn psychosoziale Auslöser und Konfliktsituationen vorliegen und/oder ein auslösender Konflikt oder eine Verlust-
reaktion besteht. Sowohl die kognitive Verhaltenstherapie als auch die interpersonelle Psychotherapie werden für höheres Alter modifiziert. Bei leichten und auch subklinischen Depressionen reicht oft Psychoedukation, eine Gesprächstherapie oder eine Bibliotherapie aus (5).
Psychopharmakotherapie Für die Therapie stehen, wie in allen anderen Altersgruppen, Antidepressiva, Neuroleptika, Benzodiazepine sowie Stimmungsstabilisatoren zur Verfügung. Die Mittel der Wahl sind dabei Antidepressiva. Die anderen Substanzgruppen sollten nur kurzfristig beziehungsweise in Zusammenarbeit mit einem Facharzt indiziert werden. Grundsätzlich wird im höheren Lebensalter mehr auf die Nebenwirkungsrate und damit auch Intoxikationssicherheit geachtet als auf den Wirkungsschwerpunkt. Bei einem sonst körperlich und auch hirnorganisch gesunden Patienten kann und sollte ein gegebenenfalls in der Vergangenheit erfolgreiches Medikament auch wieder eingesetzt werden. SSRI oder SRNI sind wegen ihrer fehlenden anticholinergen, antiadrenergen und antihistaminergen Nebenwirkungen in jedem Fall bei älteren Patienten – und vor allen Dingen bei somatisch komorbiden Patienten – Mittel der ersten Wahl. Bei komorbiden Schmerzen ist eher dualen Wiederaufnahmehemmern der Vorzug zu geben (Duloxetin [Cymbalta®], Venlafaxin [Efexor® und Generika]). Die Behandlungsdauer ist wegen der höheren Rezidiv- und Chronifizierungsgefahr im höheren Lebensalter länger, in jedem Fall mehrmonatig zu wählen. Grundsätzlich ist die Behandlungsdosis, die zum Erfolg führte, auch die Erhaltungsdosis in den ersten Monaten. Soweit wie möglich sollte davon nicht abgewichen werden (2, 4).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Gabriela Stoppe
Ärztliche Bereichsleiterin Universitäre Psychiatrische Kliniken UPK
Wilhelm Klein-Strasse 27, 4025 Basel Tel. 061-325 52 17, Fax 061-325 55 82 E-Mail: gabriela.stoppe@upkbs.ch
Interessenkonflikte: keine deklariert
Literatur: 1. Stoppe G.: Depression im Alter. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz
2008; 51: 406—410. 2. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg) für die Leit-
liniengruppe Unipolare Depression*. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, 1. Aufl 2009. DGPPN, ÄZQ, AWMF — Berlin, Düsseldorf 2009. Internet: www.dgppn.de, www.versorgungsleitlinien.de, www.awmf-leitlinien.de 3. Sandholzer H., Hellenbrand W., v. Renteln-Kruse W., Van Weel C., Walker P.: STEP — europäische Leitlinie für das standardisierte evidenzbasierte präventive Assessment älterer Menschen in der medizinischen Primärversorgung. Dtsch Med Wschr 2004; 129: 183—226. 4. National Institute for Clinical Excellence (NICE, UK): Self harm. The short-term physical and psychological management and secondary prevention of self harm in primary and secondary care. London, 2004. 5. Stoppe G.: Affektive Störungen und Suizidalität. In: Stoppe G., Mann E. (Hrsg.) Geriatrie für Hausärzte. Huber Verlag, Bern, 2009, ISBN: 978-3-456-84705-4; S.: 43—55.
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