Transkript
Editorial
Auch unnütze Begriffe können sich derart ins Bewusstsein einbrennen, dass sie daraus schwerlich vertrieben werden können. Das metabolische Syndrom ist so einer. Was hat man uns nicht jahrein, jahraus dessen Bedeutung beizubringen versucht; in unzähligen Papers, Tagungen, Konferenzen und Berichten wurde das Syndrom zum «magic bullett». Kommen Insulinresistenz und zentrale Adipositas zusammen, gesellt sich noch ein erhöhter Blutdruck hinzu, schiesst obendrein das LDL-Cholesterin über die vorgeschriebenen Grenzen hinaus, präsentiert sich dagegen das HDL-Cholesterin unter dem (Soll-)Wert, steigen die Blutglukosewerte ins Hyperglykämische, dann, ja dann haben wir die Elemente zusammen, die sich so angenehm kompakt als metabolisches Syndrom namhaft machen lassen.
dies der Fall, müsste die Aufhebung der Insulinresistenz das ganze Syndrom günstig beeinflussen beziehungsweise das kardiovaskuläre Risiko senken. Das aber konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Vor allem aber ist das Risiko eines metabolischen Syndroms nicht grösser als
Das Ende des Papiertigers
So richtig begann dessen Karriere mit einer Publikation von Gerard Reavan im Jahr 1988. Dieser stellte damals die Hypothese auf, Insulinresistenz liege dem Cluster von Risikofaktoren für Diabetes und kardiovaskuläre Krankheiten zugrunde. Ein Modell also, das man auf seinen Wahrheitsgehalt hätte testen können. Was aber folgte, so meinen Kritiker, war nicht die Bestätigung der Hypothese, sondern eine Etablierung des Syndroms und das Bemühen, neue Marker zu finden, die mit Insulinresistenz assoziiert sind. Jedenfalls war es bis 1999 durch enorme Forschungsaktivität gelungen, auch die Anerkennung der WHO zu bekommen. In Wirklichkeit handelt es sich aus heutiger Sicht beim metabolischen Syndrom wohl eher um einen Papiertiger. Jüngst haben die europäischen und US-amerikanischen Diabetes-Fachgesellschaften EASD und ADA diesem die Zähne gezogen. Sie nennen eine ganze Reihe schwerwiegender Kritikpunkte: So seien beispielsweise die Kriterien des metabolischen Syndroms nicht eindeutig, und ob die Insulinresistenz der entscheidende zugrunde liegende ätiologische Faktor ist, sei unklar. Wäre
die Summe seiner Einzelfaktoren. Seine Diagnose beeinflusst die Therapie der Risikofaktoren überhaupt nicht. In einem Kommentar in «Diabetologia» (2010; 53: 597–599) beklagen die Diabetologen Borch-Johnson und Wareham, die Orientierung der Forscher auf das metabolische Syndrom verstelle zudem den Blick auf einfachere und präzisere Modelle, mit denen die Entstehungsmechanismen von kardiovaskulären Krankheiten und Diabetes womöglich besser erklärt werden könnten. Inzwischen ist auch ein WHO-Expertengremium zum Schluss gekommen, dass das metabolische Syndrom nicht zu den klinischen Diagnosen gezählt werden sollte. Borch-Johnson und Wareham schliessen ihren Beitrag mit Worten, denen es an Eindeutigkeit nicht mangelt: «Our best wishes for the metabolic syndrome therefore should be: rest in peace!» Dass der Begriff jedoch noch weiter in Gebrauch genommen wird, davon ist wohl auszugehen.
Uwe Beise
ARS MEDICI 11 ■ 2010 425