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STUDIE REFERIERT
Oberflächliche Phlebitis doch nicht so harmlos?
Prospektive epidemiologische Studie aus Frankreich
Eine Beobachtungsstudie hat un-
tersucht, wie oft eine oberflächli-
che Phlebitis der unteren Extremi-
täten von einer tiefen Venenthrom-
bose begleitet oder innert dreier
Monate von thromboembolischen
Komplikationen gefolgt wird.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
Eine oberflächliche venöse Thrombose ist schmerzhaft und häufig, hat aber nach allgemeinem Verständnis eine günstige Prognose. Diese Einschätzung erfuhr jedoch eine gewisse Anpassung, seit klar wurde, dass auch diese «harmlose» Venenaffektion von einer tiefen Venenthrombose (TVT) oder Lungenembolie (LE) begleitet sein kann. Allerdings variieren die Schätzungen zur Häufigkeit dieser schweren Begleiterscheinungen in retrospektiven Studien ganz beträchtlich. Eine grosse, prospektive Beobachtungsstudie wollte hier mehr Klarheit schaffen.
Methodik Die POST-(Prospective Observational Superficial Thrombosis)-Studie erfasste prospektiv Patienten, die von ihren Hausärzten mit Verdacht auf eine oberflächliche Phlebitis der unteren Extremität an Gefässspezialisten in freier Praxis oder in Spitälern zur Bestätigung der Diagnose mittels Kompressionsultraschalls und zum Ausschluss einer TVT überwiesen wurden. Die Studie hatte
eine Querschnittkomponente, in der die Prävalenz einer TVT oder symptomatischen Lungenembolie bei oberflächlicher venöser Thrombose erfasst wurde. Die prospektive Komponente betraf dann das bestätigte Auftreten von thromboembolischen Komplikationen innert der folgenden 3 Monate bei Patienten mit initial isolierter oberflächlicher Phlebitis (primärer Endpunkt) sowie die Gesamtmortalität nach 3 Monaten (sekundärer Endpunkt).
Ergebnisse Von 211 angeschriebenen Institutionen steuerten 96 (79 private Zentren und 17 öffentliche Spitäler) insgesamt 844 Patienten bei. Das mediane Patientenalter betrug 65 Jahre, ein Viertel waren mindestens 75 Jahre alt, 28,8 Prozent waren übergewichtig und fast zwei Drittel Frauen. Median dauerte es von den ersten Symptomen bis zur Vorstellung beim Gefässspezialisten 6 Tage. Zwei Drittel der oberflächlichen Venenthrombosen betrafen die Saphena magna. Eine Ausdehnung auf perforierende Venen wurde bei 13,8 Prozent der Patienten verzeichnet. Die Angiologen bestätigten mittels geeigneter Untersuchungen bei 24,9 Prozent der Phlebitispatientinnen und -patienten eine gleichzeitige TVT (proximale TVT: 9,7%, symptomatische LE 3,9%). Die tiefe Venenthrombose war bei 41,9 Prozent nicht in direkter anatomischer Beziehung zur oberflächlichen Venenthrombose. Von den 844 Patienten hatten 634 bei der Erstuntersuchung eine isolierte oberflächliche Phlebitis. Von 597 Patienten lagen die Informationen zur dreimonatigen Nachbeobachtung vor. 90,5 Prozent hatten eine Antikoagulation erhalten,
überwiegend mit niedermolekularen Heparinen in therapeutischer (62,9%) oder prophylaktischer Dosierung (36,7%). 16,8 Prozent wurden mit einem Vitamin-K-Antagonisten für median 81 Tage antikoaguliert. Praktisch alle (97,7%) Patientinnen und Patienten mit isolierter oberflächlicher Thrombophlebitis erhielten Kompressionsstrümpfe. Bei 10,2 Prozent erfolgte ein venenchirurgischer Eingriff (Stripping oder Ligatur). Von den 586 Patienten mit initial isolierter oberflächlicher Phlebitis und vollständigem Datensatz hatten nach 3 Monaten 58 eine thromboembolische Komplikation erlitten, also 10,2 Prozent. Asymptomatische Komplikationen (nur entdeckt durch Ultraschall am 10. Tag) hatten 12 Patienten (2,1%), symptomatische Ereignsse 46 Patienten (8,3%). In der multivariaten Analyse erwiesen sich männliches Geschlecht, TVT oder LE in der Anamnese, vorangegangenes Krebsleiden sowie fehlende variköse Venen als unabhängige Risikofaktoren für symptomatische thromboembolische Ereignisse (inklusive Rezidiv oder Ausdehnung der oberflächlichen Phlebitis) innert 3 Monaten. Insgesamt wurden
Merksätze
■ Eine oberflächliche venöse Thrombose im Bereich der unteren Extremität gilt als eher harmlos.
■ Eine prospektive Beobachtungsstudie relativiert diese Einschätzung etwas, da bei solchen Patienten in immerhin nahezu 25 Prozent trotz Therapie mit Antikoagulation und Kompressionsstrümpfen ein venöser Thromboembolismus beobachtet wurde.
■ Schlussfolgerungen: «Eine symptomatische oberflächliche Venenthrombose der Beine ist nicht gänzlich benigne, denn etliche Patienten haben gleichzeitig eine tiefe Venenthrombose oder erfahren innert 3 Monaten thromboembolische Komplikationen.»
422 ARS MEDICI 10 ■ 2010
STUDIE REFERIERT
2 Todesfälle verzeichnet, 1 an metastasiertem Tumorleiden und 1 als mögliche Folge einer Lungenembolie. Dies entspricht einer (sehr tiefen) Mortalitätsrate von 0,4 Prozent.
Diskussion «In unserer grossen Beobachtungsstudie fanden wir, dass venöser Thromboembolismus eine symptomatische oberflächliche Venenthrombose in nahezu 25 Prozent der Patienten begleitete», fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen. Die meisten dieser Patienten hatten eine TVT, aber immerhin 3,9 Prozent erlitten eine symptomatische LE. Die Häufigkeiten liegen damit innerhalb derjenigen anderer ähnlicher Studien und sind vergleichbar mit jenen, die bei chirurgischen Patienten ohne Prophylaxe in der Gruppe mit dem höchsten Thromboembolierisiko zu erwarten wären. Als bemerkenswert heben die Autoren ferner hervor, dass immerhin 8,3 Prozent
der Patienten mit initial isolierter Phlebitis innert 3 Monaten mindestens ein symptomatisches thromboembolisches Ereignis erlitten, obwohl mehr als 60 Prozent eine therapeutische Antikoagulation und nahezu alle Kompressionsstrümpfe erhalten hatten. Die Autoren erwähnen auch Einschränkungen ihrer Studie. Die Ergebnisse lassen sich nur auf Patienten übertragen, die durch ihre Hausärzte zur Diagnosebestätigung zum Gefässspezialisten geschickt werden. Ausserdem war hier als Diagnosekriterium eine mindestens 5 cm lange oberflächliche Thrombose in der Kompressionssonografie gefordert, um nur klinisch signifikante Erkrankungen zu erfassen. Eine Übertragung auf Patienten mit rein klinischem Verdacht auf oberflächliche Phlebitis (also ohne den beweisenden Kompressionsultraschall) ist somit reine Spekulation, wie die Autoren schreiben. Sie sehen ihre Resultate als repräsentativ für ein Routinepatien-
tengut von bestätigten oberflächlichen Thrombosen beim Gefässspezialisten. Dies, obwohl die erfasste Patientenzahl wegen vorzeitiger Beendigung der Rekrutierung durch das Leitungskomittee unter der statistisch angestrebten Grösse blieb. Dennoch sei eine stattliche Anzahl Patienten nahezu lückenlos verfolgt worden.
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Hervé Decousus et al. for the POST (Prospective Observational Superficial Thrombophlebitis) Study Group: Superficial venous thrombosis and venous thromboembolism. Ann Intern Med 2010; 152: 218–224.
Interessenlage: Die Studie wurde finanziert durch die Firmen GlaxoSmithKline und Sanofi-Aventis sowie das französische Gesundheits- und Sportministerium und die französischen Gesellschaften für Gefässmedizin und für Phlebologie. Die Studiensponsoren hatten auf Durchführung, Analyse und Interpretation keinen Einfluss.
Halid Bas
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