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Koanalgetika bei neuropathischen Schmerzen
Evidenzbasierte Therapieempfehlungen für die Praxis
FORTBILDUNG
Koanalgetika sind neben Opioden und nichtmedikamentösen Verfahren ein unverzichtbares Element der evidenzbasierten und leitlinienorientierten Therapie neuropathischer Schmerzen. Sie ermöglichen nicht nur eine relevante Schmerzreduktion bis maximal 50 Prozent vom Ausgangswert, darüber hinaus kann man mit ihrer Hilfe auch eine Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität sowie eine Erhaltung der sozialen Aktivität, der Integration und der Arbeitsfähigkeit erreichen.
erfolg ist zunächst ihre differenzierte Diagnostik. Auf der Basis der Anamnese sowie der klinischen und apparativen Untersuchung können insbesondere validierte Screeningfragebögen die Diagnose neuropathischer Schmerzen in der Praxis erleichtern. Ist die Diagnose gesichert, sind zunächst die kurativen oder kausalen Therapieoptionen auszuschöpfen. Zeigt sich dabei kein ausreichender Erfolg, stehen wirksame Medikamente für eine individuelle und symptomorientierte Behandlung der Schmerzen zur Verfügung. Basierend auf den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) für die Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen, fasst dieser Artikel die Empfehlungen für den Einsatz von Koanalgetika in der ärztlichen Praxis zusammen.
Diagnostik – Nachweis einer neuralen Läsion plus typische Symptome Die Diagnostik neuropathischer Schmerzen basiert anamnestisch, klinisch und im Rahmen der apparativen Zusatzdiagnostik auf dem Nachweis einer neuronalen Läsion und den
RALF KAISER
Zur Gruppe der Koanalgetika gehören Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalzium- und Natriumkanäle, Antidepressiva und topische Therapien. Die einzelnen Substanzen unterscheiden sich in ihrer Wirkungsweise und in ihrem Nebenwirkungsspektrum. Die optimale Medikation ist daher individuell zu bestimmen, neben den Kontraindikationen und den potenziellen Nebenwirkungen muss dabei stets das vorliegende Schmerzsyndrom mit in die Überlegungen einbezogen werden. Oft muss der Effekt der Koanalgetika getestet werden: Die erforderliche Dosis beispielsweise wird durch eine sorgfältige Titration individuell festgelegt, häufig führt auch erst eine mögliche Kombinationsbehandlung zum optimalen Therapieerfolg. Doch erst nach einer 2- bis 4-wöchigen Behandlung kann die Wirksamkeit eines Koanalgetikums ausreichend beurteilt werden. Neuropathische Schmerzen entstehen nach einer Schädigung oder Erkrankung somatosensorischer Afferenzen im peripheren oder zentralen Nervensystem (1). Eine wesentliche Voraussetzung für eine Therapie mit optimalem Behandlungs-
Merksätze
■ Charakteristische Beispiele für neuropathische Schmerzen sind die akute Herpes-zoster-Radikuloneuritis, die postzosterische Neuralgie, Schmerzen bei Polyneuropathie, Phantom- oder Stumpfschmerzen sowie zentrale Schmerzsyndrome, Schmerzen nach Rückenmarkverletzungen oder die multiple Sklerose.
■ Antikonvulsiva, Antidepressiva und topische Therapien werden unter der Gruppe der Koanalgetika subsumiert, um sie von den im engeren beziehungsweise klassischen Sinn analgetisch wirkenden Opioden abzugrenzen.
■ Folgende Therapieziele lassen sich bei der Behandlung des neuropathischen Schmerzes realistischerweise erreichen: Reduktion der Schmerzen um mindestens 30 bis 50 Prozent, Verbesserung von Schlaf- und Lebensqualität, Erhaltung der sozialen Aktivität und Integration sowie Erhalt der Arbeitsfähigkeit.
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FORTBILDUNG
typischen Symptomen. Sorgfältig ausgeschlossen werden sollten jedoch stets Schmerzen als indirekte Folge neurologischer Ausfälle (z.B. durch eine Fehl- oder Überbelastung des muskuloskelettalen Systems).
Brennende, einschiessende und evozierte (Dauer-)Schmerzen Charakteristisch für den neuropathischen Schmerz sind anamnestisch Dauerschmerzen brennenden Charakters (vor allem in Ruhe), einschiessende Schmerzen (Neuralgie) und evozierte Schmerzen (Allodynie, Hyperalgesie) (2). Als Deafferenzierungsschmerzen bezeichnet man Schmerzen, bei denen die komplette oder teilweise Unterbrechung grosser Nervenstämme (z.B. durch Amputation) oder Bahnsysteme (z.B. komplette oder inkomplette Querschnittsläsion) den Schmerz verursacht (3). Bei der Anamnese ist auch auf schmerzrelevante Komorbiditäten (Angst, Depression, Schlafstörungen) zu achten.
Zunächst Schmerzintensität und Schmerzqualität identifizieren Für die Messung der Schmerzintensität eignen sich die gebräuchlichen Skalen wie eine visuelle Analogskala (VAS) oder auch eine numerische Ratingskala (NRS). Die differenzierte Schmerzanamnese kann mit einem standardisierten Fragebogen (z.B. Deutscher Schmerzfragebogen) erfasst werden. Speziell für die Bewertung neuropathietypischer Charakteristika liegt mit dem painDETECT©-Fragebogen ein validierter Fragenkatalog vor, der sich in der Praxis gut bewährt hat (4). Sensible Defizite wie Hypästhesien oder Hypalgesien lassen sich mithilfe der klinisch-neurologischen Untersuchung erfassen. Besteht ein Verdacht auf eine Mono- oder Polyneuropathie, ist – neben den geläufigen «Bedside»-Tests (z.B. Pin-Prick-Test, Temperaturempfindung) – zusätzlich der Einsatz elektrophysiologischer diagnostischer Verfahren (Elektroneurografie, ENG; Elektromyogramm, EMG) sinnvoll (5). Spezielle Verfahren wie die quantitative sensorische Testung oder die quantitative Thermotestung sind bei Läsionen dünner peripherer oder zentraler schmerzleitender Bahnen erforderlich (6).
Typische Beispiele für neuropathische Schmerzen und ihre Klassifikation Charakteristische Beispiele für neuropathische Schmerzen sind die akute Herpes-zoster-Radikuloneuritis (Gürtelrose, Gesichtsrose), die postzosterische Neuralgie, Schmerzen bei Polyneuropathie (diabetisch, alkoholisch, medikamentös-toxisch), Phantom- oder Stumpfschmerzen (nach Amputation) sowie zentrale Schmerzsyndrome, beispielsweise nach einem Schlaganfall (vor allem bei Läsionen im Thalamus und Hirnstamm), Schmerzen nach Rückenmarksverletzungen oder die Encephalomyelitis disseminata (multiple Sklerose). Auch die Trigeminusneuralgie und das komplexe regionale Schmerzsyndrom zählen zu den typischen Vertretern neuropathischer Schmerzen. Eine Klassifikation neuropathischer Schmerzen nach ätiologisch-anatomischen Kriterien zeigt Tabelle 1.
Tabelle 1: Klassifikation neuropathischer Schmerzen (mod. nach [1])
Periphere, fokale oder multifokale schmerzhafte Neuropathien
■ postzosterische Neuralgie ■ Postmastektomieschmerz, Postthorakotomieschmerz, Narben-
schmerzen ■ Phantomschmerz, Stumpfschmerz ■ Trigeminusneuralgie ■ chronische Radikulopathien, Postdiskektomiesyndrom ■ posttraumatische Neuropathie (territoriales neuropathisches
Schmerzsyndrom) ■ Engpasssyndrome ■ diabetische Mononeuropathie ■ Morton-Neuropathie ■ Bannwarth-Syndrom (Borrelieninfektion) ■ neuralgische Schulteramyotrophie, Plexusläsion nach Bestrahlung ■ Plexusinfiltration durch Tumor
Periphere, generalisierte, schmerzhafte Neuropathien (Polyneuropathien)
■ metabolisch/Ernährung — Diabetes mellitus — Alkohol — Hypothyreose — Vitaminmangel
■ Medikamente — Chemotherapeutika (Platine, Taxole, Vincristin) — antiretrovirale Substanzen — andere Substanzen (Disulfiram, Ethambutol, Isonlazid, Nitro— furantoin, Thiouracil, Chloramphenicol)
■ infektiös oder postinfektiös, immunologisch — chronische inflammatorische Polyradikuloneuropathie — Bannwarth-Syndrom (Borrelieninfektion), HIV-Neuropathie
■ hereditär — Amyloidose, Morbus Fabry, Charcot-Marie-Tooth-Typ 2B und 5 — hereditäre sensible autonome Neuropathien (HSAN) Typ 1 und 1B
■ Toxine — Acrylamid, Arsen, Clioquinol, Dinitrophenol, Ethylenoxid, — Pentachlorophenol, Thallium
■ Malignome — paraneoplastisch (insbesondere Bronchialkarzinom)
Zentrale schmerzhafte Neuropathien ■ Hirninfarkt (insbesondere Thalamus, Hirnstamm) ■ Rückenmarksverletzungen ■ multiple Sklerose ■ Syringomyelie bzw. -bulbie
«Mixed-pain»-Syndrome ■ chronische Rückenschmerzen ■ Tumorschmerzen (bei Infiltration von neuronalen Strukturen) ■ komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS, früher Morbus
Sudeck; sympathische Reflexdystrophie, Kausalgie)
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KOANALGETIKA BEI NEUROPATHISCHEN SCHMERZEN
Tabelle 2: Evidenzbasierte Therapie bei neuropathischen Schmerzen (mod. nach [3])
Wirkstoff
Evidenz Startdosis
wirksame Dosis (Maximaldosis)
Besonderheiten
Antidepressiva TCA (5-HAT, NA) Amitriptylin Nortriptylin TCA (NA) Desipramin
PZN ↑↑ PNP ↑↑ PTN ↑ ZS ↑
10—25 mg 0—0—1
50—75 mg täglich (150 mg täglich)
Nebenwirkungen: Miktionsstörungen, Hypotension Anstieg des Körpergewichts, Cave: arteriovenöser (AV) Block, Glaukom Amitriptylin: dämpfend Nortriptylin: leicht antriebssteigernd Desipramin: deutlich antriebssteigernd
SSNRI Duloxetin Venlafaxin
PNP ↑↑
(30)—60 mg 1—0—0 37,5 mg 1—0—0
60 mg täglich 75—225 mg täglich (retardiert) (375 mg täglich)
Nebenwirkungen: Übelkeit, trockener Mund Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Abnahme des Körpergewichts, Unruhe
Antikonvulsiva Gabapentin
Pregabalin Carbamazepin
PZN ↑↑ PNP ↑↑ HIV ↑ CRPS ↑ PHAN ↑ RM ↑ MIX ↑ CANC ↑ ZS ↑
PZN ↑↑ PNP ↑↑ RM ↑ ZS ↑
TGN ↑↑
300 mg
1200—2400 mg täglich Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme, kaum Interaktion
0—0—1 bis 1—1—1 (3600 mg täglich)
75 mg 1—0—1
100—200 mg 0—0—1
150 mg täglich (600 mg täglich)
Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme, kaum Interaktion lineare Plasmakonzentration, schneller Wirkeintritt Wirkung auf Schlaf und Angst
600—1200 mg täglich Nebenwirkungen: Blutbildveränderungen, Leberschäden, Hypo(1400 mg täglich) natriämie, Medikamenteninteraktionen wegen Enzyminduktion
Oxcarbazepin
TGN ↑↑
Lamotrigin
Cannabinoide Tetrahydrocannabinol
topische Therapie Lidocainpflaster
Capsaicinsalbe
HIV ↑ ZS ↑
MS ↑↑ HIV ↑
PZN ↑↑ MIX ↑ PZN ↑↑ PNP ↑ PTN ↑
300—600 mg 1—0—1
25 mg 0—0—1
1200—2400 mg täglich Nebenwirkungen: Müdigkeit, Schwindel, Hyponatriämie (!) (2400 mg täglich)
100—200 mg täglich Nebenwirkungen: Exantheme
(400 mg täglich)
extrem langsame Aufdosierung
2,5 mg 1—0—0
Titration (40 mg täglich)
Nebenwirkungen: Tachykardie, Hypotension, Sedierung
100—200 mg 1—0—1
Titration (400 mg täglich)
0,025—0,075% 3- bis 4-mal täglich
3- bis 4-mal täglich
Nebenwirkungen: Übelkeit, Hypotension anfängliches Hautbrennen
Klassifikation der Evidenzklassen und Empfehlungsstärken: ↑↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (zum Beispiel randomisierte klinische Studien bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanlaysen oder systematische Reviews), positive Aussage gut belegt. ↑↑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (zum Beispiel randomisierte klinische Studie), positive Aussage belegt.
TCA = tri- oder tetrazyklisches Antidepressivum; 5-HAT = Serotonin; NA = Noradrenalin; SSNRI = selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer; PZN = postzosterische Neuralgie; PNP = Polyneuropathie; PTN = posttraumatische Neuralgie; ZS = zentraler Schmerz; HIV = HIV-Neuropathie; CRPS = komplexes regionales Schmerzsyndrom; PHAN = Phantomschmerz; RM = Rückenmarksläsion; MIX = gemischtes Kollektiv; CANC = neuropathischer Krebsschmerz; PA = Plexusausriss; MS = multiple Sklerose; TGN = Trigeminusneuralgie
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Medikamentöse Therapie – mehr als nur Schmerzreduktion Folgende Therapieziele lassen sich bei der Behandlung des neuropathischen Schmerzes realistischerweise erreichen: ■ eine Reduktion der Schmerzen um mindestens 30 bis
50 Prozent ■ eine Verbesserung der Schlafqualität ■ eine Verbesserung der Lebensqualität ■ die Erhaltung der sozialen Aktivität und Integration ■ die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit.
All dies liegt aber nur im Bereich des Möglichen, wenn der behandelnde Arzt diese Therapieziele kommuniziert und den Patienten gleichzeitig über die eingesetzten Substanzen und die möglicherweise zu erwartenden Nebenwirkungen (insbesondere in der Ein- und Aufdosierungsphase) informiert. Dieses Aufklärungsgespräch hat bei jedem Patienten individuell zu erfolgen. Andernfalls muss mit Behandlungsabbrüchen, suboptimalen Therapieergebnissen und einem Arztwechsel gerechnet werden.
Pharmakologische Behandlungsoptionen breit gefächert Grundsätzlich stehen für die pharmakologische Therapie neuropathischer Schmerzsyndrome Präparate aus unterschiedlichen Substanzgruppen zur Verfügung. Dazu zählen ■ Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle ■ Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Natriumkanäle ■ Antidepressiva ■ lang wirksame Opiode ■ topische Therapien.
Antikonvulsiva, Antidepressiva und topische Therapien werden unter der Gruppe der Koanalgetika subsumiert, um sie von den im engeren beziehungsweise klassischen Sinn analgetisch wirkenden Opioden abzugrenzen. Eine Übersicht mit Dosierungsangaben, Nebenwirkungen der Koanalgetika sowie einer Bewertung der einzelnen Wirkstoffe und ihrer Wirksamkeit bei der Behandlung der verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndrome zeigt Tabelle 2. Die klinische Erfahrung zeigt, dass auch die Kombination von 2 oder 3 Wirkstoffen sinnvoll sein kann. Ergänzend können auch nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren eingesetzt werden, angefangen bei interventionellen Verfahren über die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die physikalische Therapie und Ergotherapie, die Rückenmarkstimulation («spinal cord stimulation», SCS) oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson bis hin zum autogenen Training oder einer speziellen Schmerz-Psychotherapie.
Wie Koanalgetika wirken und worauf zu achten ist Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle Gabapentin (7) ist wirksam und bei neuropathischen Schmerzen überwiegend gut verträglich. Das Medikament aus der Gruppe der Antikonvulsiva mit Wirkung auf die neuronalen Kalziumkanäle hat eine grosse therapeutische Breite, gleich-
zeitig lässt sich die Dosis sehr fein regulieren. Bei einer bestehenden Niereninsuffizienz ist die Dosis anzupassen, zudem sind in der Aufdosierungsphase stets die Pankreasenzyme zu kontrollieren. Der Wirkmechanismus von Gabapentin ist zwar noch nicht genau aufgeklärt, vermutet wird jedoch ein Effekt des Antikonvulsiums auf eine Untereinheit der neuronalen Kalziumkanäle. Eine weitere Substanz aus dieser Untergruppe der Koanalgetika ist Pregabalin (8), das in hoher Affinität an die α2-δUntereinheit der spannungsabhängigen Kalziumkanäle nozizeptiver Neuronen bindet, sowohl peripher als auch zentral. Pregabalin wirkt dementsprechend gut bei peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen und zeigt zusätzlich positive Effekte bei einer bestehenden komorbiden Schlafstörung, bei Angst und bei Depression. Während der Behandlung ist auf periphere Ödeme und ataktische Gangstörungen zu achten.
Antidepressiva: Trizyklika, SSRI, SNRI Antidepressiva (9) wirken analgetisch, indem sie die präsynaptische Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin hemmen und so die deszendierenden, schmerzhemmenden Bahnen verstärken. Amitriptylin, Nortriptylin, Desipramin und Maprotilin sind die 4 trizyklischen Antidepressiva, die zur Therapie neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden. Generell zeigen diese Wirkstoffe keine signifikanten Wirksamkeitsunterschiede. Die Trizyklika sind wirksam und können in höherer Dosierung auch komorbide Schlafstörungen und Depressionen bessern. Grundsätzlich ist bei der Gabe der Wirkstoffe aus dieser Substanzklasse vor allem bei älteren Patienten besondere Vorsicht geboten. Natürlich sind Nebenwirkungen und Kontraindikationen bei jedem Patienten streng zu prüfen, besonders wichtig ist dies jedoch bei älteren Patienten: Ab einer Tagesdosis von 100 g sind bei dieser Patientenklientel regelmässige EKG- und Laborkontrollen angezeigt. Hervorzuheben aus dem Spektrum der Kontraindikationen sind Herzkrankheiten, Anfallsleiden, Glaukom und Prostatahyperplasie. Für die Wirksamkeit der selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) bei neuropathischem Schmerz fehlen bis jetzt überzeugende Studienergebnisse. Die Gabe von Fluoxetin oder Paroxetin kann also in diesem Fall nicht empfohlen werden. Anders ist dies bei den dualen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmern (SNRI) Duloxetin (10) und Venlafaxin (11). Diese beiden SNRI wirken gut gegen den neuropathischen Brennschmerz, insbesondere bei diabetischer Polyneuropathie. Zu Beginn der Behandlung treten nicht selten Übelkeit und Erbrechen auf.
Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Natriumkanäle Zu diesen sogenannten «Membranstabilisatoren» zählen Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und die Cannabinoide. All diese Substanzen blockieren vor allem spannungsabhängige Natriumkanäle auf peripheren und zentralen, sensibilisierten, nozizeptiven Neuronen. Lamotrigin hemmt zusätzlich indirekt NMDA-Rezeptoren (NMDA = N-Methyl-D-Aspartat).
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Carbamazepin (12) ist Mittel der ersten Wahl zur Behandlung von Trigeminusneuralgien. Frühere Anhaltspunkte für eine Wirkung auch bei schmerzhaften Polyneuropathien konnten allerdings nicht reproduziert werden. Probleme bereiten kann unter Umständen das nicht ganz geringe Spektrum unerwünschter Wirkungen, das von Blutbildveränderungen über EKG-Veränderungen, kognitive Einschränkungen, allergische Exantheme, Hepatotoxizität und ein grosses Interaktionspotenzial durch Enzyminduktion bis hin zu einer nicht seltenen klinisch manifesten Hyponatriämie mit Enzephalopathie reichen kann. Betroffen sind oft insbesondere ältere Patienten. Dieses Nebenwirkungsspektrum limitiert den Einsatz von Carbamazepin, zumindest sind regelmässige Labor- und EKGKontrollen erforderlich. Hyponatriämien können auch unter einer Oxcarbazepintherapie auftreten, generell sind aber weniger Nebenwirkungen als unter Carbamazepin zu befürchten. Bei vergleichbarer Wirksamkeit und Indikation beider Substanzen ist Oxcarbazepin (Dosisäquivalenz 1:1,5) vor allem dann vorzuziehen, wenn es gilt, Arzneimittelinteraktionen, Hepatotoxizität und Hautreaktionen zu vermeiden. Bei zentralen Schmerzsyndromen und der HIV-Polyneuropathie kann der Einsatz von Lamotrigin (13) empfohlen werden. Bezüglich anderer Indikationen aus dem Bereich der neuropathischen Schmerzen ist die Datenlage allerdings unbefriedigend. Zu beachten ist, dass bei einer zu raschen Aufdosierung des Antikonvulsivums unter Umständen ein häufig gravierend verlaufendes allergisches Exanthem auftreten kann. Dementsprechend darf die Dosis nur um 25 mg pro Woche gesteigert werden.
Cannabinoide Cannabinoide (14) hemmen durch einen Agonismus an den CB1-Rezeptoren sowohl die neuronale Erregbarkeit als auch die Transmission. Belegt ist die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei der Therapie zentraler neuropathischer Schmerzen, bei der multiplen Sklerose und bei der HIV-Polyneuropathie. Eine allgemeine Empfehlung für die Behandlung neuropathischer Schmerzen kann aber aufgrund der hierzu unzureichenden Datenlage und bei fehlender Erstattungsfähigkeit von Cannabinoidpräparationen nicht gegeben werden.
Topische Therapie mit Lokalanästhetika Lidocain wirkt über eine unspezifische Blockade der neuronalen Natriumkanäle und kann periphere neuropathische Schmerzen effektiv reduzieren. So eignet sich die Applikation eines Lidocainpflasters (15) als Add-on-Therapie bei postzosterischer Neuralgie. Die lokale Verträglichkeit des Pflasters ist überwiegend als gut zu bewerten, eine Toleranzentwicklung tritt nicht auf. Nicht selten berichten auch schon systemisch sinnvoll medizierte Patienten über eine deutliche Schmerzreduktion nach der zusätzlichen Applikation eines Lidocainpflasters. Ein (reversibler) Funktionsverlust der nozizeptiven Afferenzen ist der Wirkmechanismus von Capsaicinsalben (16). Eingesetzt werden kann die Salbenzubereitung bei Patienten mit postzosterischer Neuralgie und beim Postmastektomiesyn-
Tabelle 3: Algorithmus zur Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen (mod. nach [3])
Diagnostik ■ Screening auf neuropathischen Schmerz und Diagnosestellung zur
Abgrenzung von nozizeptiven Schmerzen (evtl. Vorstellung beim Schmerzspezialisten oder Neurologen) ■ Diagnostik relevanter Komorbiditäten (kardiale Auffälligkeiten, Niereninsuffizienz, Depression etc.).
Therapie ■ wenn möglich kausale Therapie (zum Beispiel Einstellung des Dia-
betes mellitus) ■ symptomatische Schmerztherapie in Abhängigkeit von Alter, Ko-
morbiditäten und Komedikationen mit einem oder mehreren Medikamenten der 4 systemischen Hauptgruppen (a–d): (a) Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle (b) Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Natriumkanäle (c) Antidepressiva (Trizyklika, TCA; selektive Serotonin-Noradrena-
lin-Wiederaufnahme-Hemmer, SSNRI) (d) lang wirksame, schwache Opioide (e) topische Therapie ■ lokalisierte Schmerzen, insbesondere mit Allodynie: topisches Lidocain als Monotherapie oder in Kombination mit einem oder mehreren Medikamenten der 4 systemischen Hauptgruppen (a—d).
Therapieversagen ■ anhaltende Schmerzen und/oder intolerable Nebenwirkungen:
andere Kombinationen der 4 Hauptgruppen (a—d) ■ anhaltende Schmerzen und/oder intolerable Nebenwirkungen:
hochpotente Opioide in Kombination mit einem oder mehreren Medikamenten der systemischen Hauptgruppen (a—c).
drom. Eine eingeschränkte Empfehlung lässt sich auch für die Behandlung der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie aussprechen. Initial kann es durch histaminerge Effekte vorübergehend zu vermehrtem Brennen und Jucken kommen. Die Anwendungsdauer sollte 4 bis 6 Wochen nicht unterschreiten.
Was heisst dies für die Praxis? Die Vorgehensweise bei der Anwendung von Koanalgetika innerhalb eines Gesamtkonzeptes bei neuropathischen Schmerzen ist in der Tabelle 3 noch einmal kurz zusammengefasst. ■
Dr. med. Ralf Kaiser Klinik für Neurologie am Evangelischen Krankenhaus
Grutholzallee 21, D-44577 Castrop-Rauxel E-Mail: r.kaiser@evk-castrop-rauxel.de
Das Literaturverzeichnis ist in der Onlinefassung einsehbar: www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Notfall & Hausarztmedizin» 12/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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KOANALGETIKA BEI NEUROPATHISCHEN SCHMERZEN
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