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FORTBILDUNG
Schmerztherapie bei Arthritis und Arthrose
Nur ein ganzheitlicher Ansatz führt zum Erfolg
Die Arthrose ist eine langsam progredient verlaufende, metabolisch aktive, nicht entzündliche degenerative Erkrankung des Gelenkknorpels. Schmerzen, eine eingeschränkte Funktionalität der Gelenke, eine Muskelatrophie und -kontrakturen sowie Gelenkdeformierungen und -instabilitäten sind ihre typischen Symptome. Neben der Verbesserung der Funktionalität, der Behandlung sekundärer Entzündungen und der Verzögerung der Progression ist daher insbesondere auch die Reduktion bestehender Schmerzen ein wichtiges Therapieziel. Festzuhalten ist: Nur mit einem ganzheitlichen Ansatz gelingt eine individuelle Therapie, die auch über lange Zeiträume Bestand hat und für die Patienten annehmbar ist.
KLAUS RECKINGER
Wie viele chronische Erkrankungen ist auch die Arthrose mit einem bedeutenden Leidensdruck für die Patienten verbunden. Das Wissen, dass die Erkrankung sich ständig verschlimmert und damit auch die Symptome an Intensität zunehmen werden, führt nicht selten zu psychischen Komorbiditäten wie Angst, Depression und Anpassungsstörungen. Dem Schmerz kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Eine effektive Schmerztherapie und das Gefühl, von kompetenten Fachleuten umsorgt zu sein, bestärken die Patienten, nicht die Hoffnung zu verlieren.
Definition und Klassifikation Die Arthrose (Arthritis deformans, Osteoarthrose) ist eine sich langsam progredient entwickelnde, metabolisch aktive, nicht
entzündliche, degenerative Erkrankung des Gelenkknorpels, die mit Umbauprozessen am Knochen (subchondrale Sklerose, Osteophyten, Geröllzysten) und reaktiven Veränderungen des Gelenkknorpels einhergeht. Betroffen sind vor allem ältere Menschen, die klinischen und radiologischen Veränderungen müssen allerdings nicht mit der geklagten Symptomatik korrelieren. Auch bei ausgeprägten Deformierungen kann die Klinik blande sein, sodass nur bei episodisch auftretenden entzündlichen Prozessen (aktivierte Arthrose, Arthritis) Schmerzen entstehen (Tabelle 1). Erst im manifesten Stadium klagen die Patienten über zum Teil sehr starke Dauerschmerzen. Die Pathogenese der primären Arthrose ist nach wie vor nur in Teilaspekten geklärt, der Behandlungsansatz bleibt demzufolge symptomatisch. Kausale Therapien gibt es nur bei sekundären Arthroseformen (1) – verursacht beispielsweise durch Traumata, Fehlstellungen der Gelenke, mechanische Überbelastungen, Stoffwechselerkrankungen (z.B. Arthrosis
Merksätze
■ Arthrosepatienten sollen umfassend aufgeklärt und in die Therapieplanung einbezogen werden.
■ Zur reinen Schmerztherapie ist Paracetamol erste Wahl, oft bietet sich eine Ergänzung durch topische nichtsteroidale Antiphlogistika an.
■ Klassische NSAID und COX-2-Hemmer sind bei aktiver Arthrose (Arthritis) Medikamente der ersten Wahl. Das Nebenwirkungspotenzial ist aber gerade bei älteren Menschen nicht zu unterschätzen.
■ Wenn alle analgetischen Therapien unzureichend sind, können Opioide erwogen werden. Die Zahl der Nonresponder ist deutlich höher als bei Patienten mit Tumorschmerzen.
■ Die intraartikuläre Injektion von Glukokortikoiden ist bei aktivierter und sonst therapieresistenter Arthrose möglich.
■ Physikalische Therapien sind nicht gut untersucht, gelten aber «aus Erfahrung» als hilfreich.
■ Vom Einsatz von Capsaicin und hyperämisierenden Salben wird abgeraten.
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Tabelle 1: Stadieneinteilung der Arthrose
Tabelle 2: Allgemeine Massnahmen (mod. nach [2])
3 Stadien
■ klinisch stumme Arthrose ■ aktivierte Arthrose ■ klinisch manifeste, dekompensierte Arthrose mit Dauerschmerz
urica), Koagulopathien, eine Toxinexposition oder Infektionen. In diesen Fällen ist der kausale Behandlungsansatz einem rein symptomatischen Vorgehen überlegen.
Diagnose: therapiebedürftige Arthrosen identifizieren Neben der Diagnosestellung anhand formaler Kriterien gilt es – insbesondere für den Hausarzt –, die klinisch relevante, also therapiebedürftige, von der blanden Arthrose zu unterscheiden. Allerdings ist dies aufgrund der Diskrepanz zwischen den objektivierbaren Befunden (klinische Untersuchung, Radiologie, Histologie) und der vom Patienten geklagten Symptomatik nicht immer einfach. Darüber hinaus können bestimmte Risikofaktoren den Verlauf der Erkrankung ungünstig beeinflussen.
Charakteristische Schmerzmuster und radiologische Zeichen Als sogenannte Frühtrias gelten Anlauf-, Ermüdungs- und Belastungsschmerzen (2). Später kommen Dauer-, Nacht- und Muskelschmerzen sowie Bewegungseinschränkungen, Wetterfühligkeit und Krepitationen hinzu. Gelenkdeformierungen, ossäre Anbauprozesse, Instabilitäten, Muskelatrophien und -kontrakturen, Bewegungseinschränkungen und Fehlstellungen zeigen sich erst im Spätstadium der Erkrankung. Radiologische Zeichen sind eine Gelenkspaltverschmälerung, subchondrale Sklerosierungen, Geröllzysten und Osteophyten.
Entzündliche Komponente erfordert antiphlogistische Therapie Aus schmerztherapeutischer Sicht ist es wichtig, von den rein degenerativen Prozessen die aktivierte Arthrose, also eine akute Arthritis, zu unterscheiden. In diesem Fall steht die entzündliche Reaktion mit einer Weichteilschwellung, einer Überwärmung, einer Rötung, einer akuten Funktionseinschränkung und einem Gelenkerguss im Vordergrund. Eine Therapie ohne antiphlogistische Komponente wird in diesen Fällen scheitern.
Allgemeines zur Therapie arthrosebedingter Schmerzen In die Therapieplanung sollte von vornherein einfliessen, dass die Arthrose eine chronische Erkrankung ist, die langsam progredient verläuft. Insbesondere für die Pharmakotherapie gilt, dass mit zunehmender Dauer der Einnahme von Medikamen-
Das kann der Patient selbst beitragen
■ Gewichtsabnahme bei Adipositas ■ Wechsel von Belastung und Entlastung ■ Benutzung von Gehhilfen ■ Vermeidung unebener Wege ■ Benutzung von Schuhen mit weicher Sohle ■ Vermeidung von Kälte und Nässe ■ Warmhalten der Gelenke ■ Bewegungsübungen, Muskelaktivierung ■ Wassergymnastik (im warmen Wasser) ■ Sport mit gleichmässigen Bewegungsabläufen ■ keine Sportarten mit grosser Impulsbelastung ■ keine Kontaktsportarten mit hoher Verletzungsgefahr
ten auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten unerwünschter Wirkungen steigt. Potenziellen Interaktionen ist besondere Beachtung zu schenken. Die Schmerztherapie ist jedoch besonders wichtig. Oft werden erst damit physiotherapeutische Behandlungen möglich, die den drohenden Funktionseinschränkungen entgegenwirken sollen. Noch verzichten kann man auf eine Behandlung mit Analgetika im Stadium der radiologisch nachweisbaren, aber asymptomatischen Arthrose. Dies betrifft ungefähr 20 bis 30 Prozent aller Patienten (2). Nicht medikamentöse Prinzipien können aber auch in diesem Stadium der Erkrankung durchaus schon indiziert sein.
Im Gespräch mit dem Patienten: Information und Aufklärung Arthrosepatienten müssen zunächst den chronischen Charakter der Erkrankung verstehen und lernen, dass die Arthrose zwar nicht heilbar ist, ihr Verlauf und vor allem ihre Auswirkungen sich jedoch durchaus therapeutisch beeinflussen lassen. Die Aufklärung sollte mündlich und schriftlich in mehreren Sitzungen erfolgen. Wesentliche Aspekte dabei sind allgemeine Informationen über die Erkrankung an sich und spezifische Informationen über die Behandlungsmöglichkeiten, die erreichbaren Ziele sowie den aktuellen individuellen Status. Ein so erzieltes informiertes Einverständnis und die Beteiligung des Patienten an der Therapieauswahl erhöhen die Akzeptanz, erhält die Motivation und verbessert die Ergebnisse (3, 4). Gerade bei der Arthrose hat die Übernahme von Verantwortung durch die Patienten und die Eigeninitiative eine besondere Bedeutung (Tabelle 2).
Physikalische Therapie – «aus Erfahrung gut» Naturgemäss ist die Datenlage zur Bewertung der physikalischen Therapie schlecht. Evidenzbasierte, plazebokontrollierte Studien sind kaum denkbar. So beruht die Einordnung im
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Wesentlichen auf Erfahrungswerten, die dieser Therapieform einen hohen Stellenwert zuordnen. Die Auswahl der Massnahmen sollte individuell erfolgen. Eine Orientierungshilfe liefern die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln. Darin sind nicht nur die verordnungsfähigen Heilmittel vermerkt, sondern auch die Verordnungsmenge (5). Gegenstand der Physiotherapie sind Bewegungstherapie und der Muskelaufbau zur Stabilisierung des Halteapparats. Durch die bessere Mobilität wird auch ein Zugewinn an Lebensqualität erreicht. Eine abschliessende Bewertung von Wärmetherapie, kurörtlicher Behandlung und dem Einsatz ortsgebundener Heilmittel (z.B. Heilquelle) ist mit Bezug auf Studien kaum möglich (2). Für Verfahren wie die Ultraschallbehandlung, die Diathermie, den Einsatz pulsierender elektrischer und magnetischer Felder oder die Kältebehandlung finden sich ebenfalls keine sicheren Hinweise für deren Wirksamkeit.
Weitere allgemeine Massnahmen bis hin zur Akupunktur Zu den allgemeinen Massnahmen gehört auch die Beachtung und effektive Behandlung bestehender Komorbiditäten (Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Hyperurikämie, Adipositas, Herzinsuffizienz, Varizen). Bei adipösen Patienten verringert die Reduktion des Körpergewichts nachgewiesenermassen das Risiko (2). Obwohl der Effekt der Akupunktur bei Arthrose nicht in Studien belegt ist, können in Deutschland gesetzlich Versicherte mit chronischen Arthroseschmerzen in mindestens einem Kniegelenk, die seit mehr als 6 Monaten bestehen, grundsätzlich eine Akupunkturbehandlung mit Nadeln als Regelleistung beanspruchen (2).
Pharmakotherapie arthrosebedingter Schmerzen Für die medikamentöse Therapie der Schmerzen bei Arthrose stehen Paracetamol, traditionelle nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID), selektive Cyclooxygenase-2-Hemmer (Coxibe, COX-2-Hemmer), Metamizol und Opioide zur Verfügung. Alle Substanzgruppen gaben in den letzten Jahren Anlass zur Diskussion.
Paracetamol als erste Wahl Vermutlich hemmt Paracetamol die zentrale Prostaglandin-H2Synthase, interagiert mit der enzymatischen Synthese von Stickstoffmonoxid (NO) und beeinflusst das serotoninerge inhibitorische System mit der Folge einer indirekten zentralen Hemmung der Cyclooxygenase 2 (COX-2). Der genaue Wirkmechanismus der Substanz ist allerdings nicht bekannt. Hinreichend belegt ist dagegen ihre analgetische Wirkung unter einer Tagesdosis von 4 g (6), die aber im Vergleich mit traditionellen nichtsteroidalen Antiphlogistika weniger stark ausgeprägt ist. Die meisten Leitlinien empfehlen Paracetamol als Analgetikum der ersten Wahl (ohne antiphlogistische Effekte). Die Toxizität von Paracetamol ist im Allgemeinen gering, wenn man von der Hepatotoxizität absieht: Paracetamol wird in der Leber durch eine Konjugation mit Schwefelsäure und Glucuronsäure inaktiviert und über die Niere ausgeschieden. Zu
einem kleinen Teil entstehen oxidativ aber auch hochtoxische Benzochinonimine, die wiederum durch Konjugation mit Glutathion zu nicht toxischen Mercaptursäureverbindungen verstoffwechselt und ebenfalls renal eliminiert werden. Ist jedoch keine ausreichende Glutathionreserve vorhanden (z.B. bei Alkoholkranken), schädigen die Benzochinonimine die DNA der Hepatozyten – mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Es kann sogar zum Leberausfall kommen. In der Phase der akuten Intoxikation sind die Patienten noch asymptomatisch. Deshalb ist schnelles Handeln gefragt. Durch Gabe von SH-Donatoren (z.B. N-Acetyl-Cystein) kann effektiv behandelt werden. Für die Praxis ist noch erwähnenswert, dass die gleichzeitige antiemetische Therapie mit 5-HT3-Antagonisten (z.B. Granisetron, Tropisetron) die analgetische Wirkung des Paracetamols praktisch aufhebt (7).
Topische Therapien können die Paracetamolbehandlung ergänzen Im Rahmen der analgetischen Therapie der Arthrose ist die topische Anwendung von nichtsteroidalen Antiphlogistika, Capsaicin und hyperämisierenden Substanzen sehr verbreitet. Für die lokale Applikation von Ibuprofen, Indometacin, Diclofenac – um nur einige Beispiele zu nennen – stehen verschiedene Galeniken zur Verfügung. Topisch eingesetzt, erreichen die Plasmaspiegel aber nur etwa 15 Prozent einer oralen Applikation (8). Zwar ist damit das Ausmass unerwünschter Wirkungen deutlich geringer, dies gilt aber auch für die Analgesie. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfiehlt die Anwendung topischer nichtsteroidaler Antiphlogistika, auch in Verbindung mit Paracetamol, bei Gonarthrose und Arthrosen der Hand vor der oralen Verabreichung von NSAID, Coxiben und Opioiden. Von einer topischen Therapie mit Capsaicin wird, vor allem aus Kostengründen, ebenso abgeraten wie vom Einsatz hyperämisierender Substanzen, für die keine Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte.
Metamizol hierzulande nicht zur Arthrosetherapie zugelassen Im Gegensatz zu vielen angelsächsischen Ländern ist Metamizol in Deutschland zugelassen, aber nicht zur Behandlung der Arthrose. Seine analgetische Wirkung ist gut. Neuerdings werden auch periphere Effekte (COX-1- und COX-2-Hemmung) neben der zentralen Hemmung der Prostaglandinsynthese diskutiert (9). Zudem ist die Substanz nur mit wenig unerwünschten Wirkungen assoziiert. Lediglich die vital bedrohliche Agranulozytose sorgt immer wieder für kontrovers geführte Diskussionen. Wahrscheinlich jedoch ist sie unter einer Metamizoltherapie ein eher seltenes Ereignis (10).
Klassische nichtsteroidale Antiphlogistika und Coxibe Wenn Paracetamol und/oder topische NSAID den Schmerz nicht ausreichend stillen können, ist die orale Applikation nichtsteroidaler Antiphlogistika oder selektiver COX-2-Hemmer zu diskutieren. Bei der aktiven Arthrose (Arthritis) sind sie
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SCHMERZTHERAPIE BEI ARTHRITIS UND ARTHROSE
Tabelle 3: Therapieempfehlungen der EMEA (Fachinformationen beachten)
Coxibe Kontraindikationen
kardiovaskulär
■ schwere Herzinsuffizienz ■ NYHA III–IV ■ KHK ■ PAVK ■ zerebrovaskuläre Erkrankungen ■ nicht ausreichend kontrollierte ■ Hypertonie
Warnhinweise, Vorsichtsmassnahmen
Vorsicht bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren: ■ Diabetes mellitus ■ Rauchen ■ Hyperlipidämie ■ Hypertonie
gastrointestinal ■ aktive peptische Ulzera oder ■ gastrointestinale Blutungen ■ entzündliche Darmerkrankungen
■ Komedikation mit ASS ■ (erhöht gastrointestinales Risiko)
weitere ■ Asthma bronchiale ■ Analgetikaintoleranz ■ schwere Leber- und Nieren■ funktionsstörungen ■ Schwangerschaft und Stillzeit
■ schwere Hautreaktionen (selten)
nichtselektive NSAID kardiovaskulär
Kontraindikationen
■ schwere Herzinsuffizienz ■ NYHA III—IV
Warnhinweise, Vorsichtsmassnahmen
Vorsicht bei: ■ nicht ausreichend kontrollierter ■ Hypertonie ■ Herzinsuffizienz ■ KHK ■ PAVK ■ zerebrovaskulärer Erkrankung ■ kardiovaskulären Risikofaktoren ■ (Hypertonie, Hyperlipidämie, ■ Diabetes mellitus, Rauchen)
gastrointestinal
■ gastrointestinale Blutung oder ■ Perforation in der Anamnese ■ aktive peptische Ulzera oder ■ gastrointestinale Blutungen
weitere
■ Blutbildungs- oder Gerinnungsstörungen ■ (substanzspezifische Unterschiede) ■ 3. Trimenon ■ Asthma bronchiale ■ Analgetikaintoleranz
Vorsicht bei: ■ Komedikation mit ulzerogenen oder ■ blutungsfördernden Substanzen ■ (Glukokortikoiden, Antikoagulanzien, ■ Thrombozytenaggregationshemmern, ■ SSRI) ■ entzündlichen Darmerkrankungen ■ Komedikation mit ASS
■ akute hepatische Porphyrie ■ schwere Leber- und ■ Nierenfunktionsstörung ■ Asthma bronchiale ■ Analgetikaintoleranz ■ schwere Hautreaktionen (selten) ■ 1. und 2. Trimenon
KHK = koronare Herzerkrankung; PAVK = periphere arterielle Verschlusskrankheit, ASS = Acetylsalicylsäure; SSRI = selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer
die Medikamente der ersten Wahl. Ihre Wirksamkeit ist in mehreren Studien belegt (6), Effektivitätsunterschiede zwischen den einzelnen Substanzen gibt es praktisch nicht. Zu berücksichtigen ist jedoch ihr erhebliches Potenzial an unerwünschten Wirkungen und Interaktionen. Im Vordergrund stehen gastrointestinale (Ulzera, Perforationen, toxische Kolitis), renale (akutes Nierenversagen, interstitielle Nephritis) und kardiovaskuläre (Herzinfarkt, Hirninfarkt) Effekte, die immer wieder zu lebensbedrohlichen Situationen führen.
Gastrointestinales Blutungsrisiko ist «nicht von schlechten Eltern» Ein besonders hohes gastrointestinales Risiko unter der Therapie klassischer nichtsteroidaler Antiphlogistika tragen Personen im hohen Lebensalter oder Patienten mit anamnestisch
bekannten Ulzera beziehungsweise gastrointestinalen Blutungen – akut oder in der Anamnese. Aber auch eine Therapie mit Kortikoiden, schwere systemische Grunderkrankungen, eine Helicobacter-pylori-Kontamination, Stress und Alkoholismus sind mit einem hohen gastrointestinalen Risiko behaftet – ebenso wie eine Kombinationstherapie mit mehreren nichtsteroidalen Antirheumatika inklusive Acetylsalicylsäure, hohen NSAID-Dosierungen und langer Therapiedauer. Die Identifizierung der beiden Isoenzyme der Cyclooxygenase liess zunächst hoffen, dass durch die Verwendung ausschliesslich analgetisch wirksamer Substanzen die (gastrointestinale) Toxizität deutlich gesenkt werden könne. Immer neue Substanzen der Wirkstoffgruppe der COX-2-Hemmer kamen auf den Markt. Im Hinblick auf das gastrointestinale Blutungsrisiko haben sie die Erwartungen erfüllt.
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Kardiovaskuläres Risiko limitiert den Einsatz – nicht nur von Coxiben Der Preis dafür waren allerdings andere schwerwiegende Nebenwirkungen (Herzinfarkte, kardiovaskuläre Ereignisse, schwere Hautreaktionen, Hepatotoxizität). Einigen Coxiben ist deshalb die Zulassung wieder entzogen worden (Rofecoxib, Valdecoxib, Lumiracoxib). In Deutschland verfügbar sind noch Celecoxib und Etoricoxib. Aber auch die Therapie mit nichtselektiven NSAID erhöht das kardiovaskuläre Risiko (Abbildung), da diese in unterschiedlichem Verhältnis sowohl die Cyclooxygenase 1 als auch die Cyclooxygenase 2 hemmen. Es wundert daher nicht, dass erste Studien auch dieser Substanzgruppe ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko attestieren (2). Eine Ausnahme bildet nur die Acetylsalicylsäure (ASS), deren kardioprotektive Bewertung weiterhin Bestand hat.
Renale Toxizität – sowohl bei klassischen NSAID
Abbildung: Diagnostik und Therapie der Arthrose.
als auch bei COX-2-Hemmern
Die renalen Nebenwirkungen zeigen sich vermehrt bei
alten Menschen, vorbestehenden Nierenerkrankungen, arte- zwar verringern, auf den unteren Verdauungstrakt haben diese
rieller Hypertonie, chronischer Herzinsuffizienz, Komedika- Substanzen jedoch keinen Einfluss. Durch NSAID bedingte
tion mit Diuretika, ACE-Hemmern und AT1-Hemmern sowie toxische Kolitiden können aber ebenso Ausgangspunkt gast-
bei Dehydratation. Traditionelle NSAID und selektive COX-2- rointestinaler Blutungen sein. Ob hier die selektiven COX-2-
Hemmer unterscheiden sich nicht in der renalen Toxizität.
Hemmer einen Vorteil bieten, ist bis anhin nicht untersucht. In
jedem Fall ist zu prüfen, ob nicht doch Paracetamol als Medi-
Die Konsequenz: so wenig wie möglich, so viel wie nötig
kation ausreicht.
Im Jahr 2005 entschloss sich die europäische Zulassungs- Mögliche Medikamenteninteraktionen ergeben sich aus dem
behörde EMEA zu einer Neubewertung der nichtsteroidalen Wirkmechanismus der Substanzen. Bei gleichzeitiger Medika-
Antiphlogistika mit weitreichenden Anwendungsbeschrän- tion mit Antikoagulanzien und Glukokortikoiden steigt das
kungen (Tabelle 3). Sie empfehlen heute, die Dosis von NSAID Blutungsrisiko. Interaktionen ergeben sich aber auch bei der
und Coxiben so niedrig wie möglich, aber so hoch wie nötig zu Gabe oraler Antidiabetika, deren Elimination bei einer gleich-
wählen und die Therapiedauer möglichst zu begrenzen (11, 12). zeitigen Einnahme von NSAID oder Coxiben vermindert und
Bei Patienten mit erhöhtem gastrointestinalen (GI) Risiko sind deren Wirkdauer dementsprechend verlängert wird. ACE-
die oben erwähnten Kontraindikationen zu beachten. Eine Hemmer, AT1-Hemmer sowie Diuretika wiederum verlieren
Gabe von Protonenpumpenhemmern (PPI) kann das GI-Risiko an Wirksamkeit, wenn parallel NSAID oder Coxibe gegeben
werden.
Tabelle 4: Opioidanalgetika
Wirkstoff (Stufe II nach WHO) Tramadol retard Dihydrocodein retard Tilidin/Naloxon retard Morphin retard Oxycodon retard Hydromorphon retard Buprenorphin Buprenorphin Fentanyl
Einzeldosis
2 × 100—200 mg (oral) 2 × 60—120 mg (oral) 2 × 50—200 mg (Tilidin; oral) 2 × 10—100 mg oder 1 × 30—200 mg (oral) 2 × 10—20 mg (oral) 2 × 4—24 mg (oral) 3—4 × 0,2—0,4 g (sublingual) 35 µg/h (transdermal) 25 µg/h (transdermal)
Wann eignen sich Opioide zur Therapie von Arthroseschmerzen? Die Überlegung, Opioide zur Behandlung von Arthroseschmerzen einzusetzen, bietet sich wegen der fehlenden Organtoxizität vor allem bei Patienten mit hohem Risikoprofil an. Die meisten Erfahrungen gibt es dabei zu Tramadol, das in plazebokontrollierten Studien überwiegend positiv abschnitt (6). Inzwischen werden eine Vielzahl an Opioiden in dieser Indikation eingesetzt (Tabelle 4). Generell ist ihre analgetische Potenz bei nicht tumorbedingten Schmerzen etwa ebenso gross wie die der klassischen Analgetika (13). Anders als in der Tumorschmerztherapie profitiert bei weitem nicht jeder Patient von Opioiden. Die Anzahl der sogenannten Nonresponder ist deutlich höher. Demzufolge empfiehlt sich der Einsatz von Opioiden erst, wenn alle anderen Therapieprinzipien ausgeschöpft sind. Die NICE-Leitlinien (6) jedoch
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regen ausdrücklich an, Opioide schon dann ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn Paracetamol sich als nicht ausreichend wirksam erwiesen hat. Wie bei jeder Opioidtherapie sollten die möglichen unerwünschten Wirkungen prophylaktisch mittherapiert werden. Die Verschreibung von Antiemetika und Laxanzien ist obligat. Zur Anwendung sollten ausschliesslich retardiert wirksame Opioide kommen. Es empfiehlt sich auch, die Patienten umfassend, am besten schriftlich, über die geplante Therapie zu informieren und von vornherein Ziele und Abbruchkriterien zu definieren.
Welche alternativen Therapieformen
stehen zur Verfügung?
Zu den etablierten Therapien gehört auch die intraartikuläre
Injektion von Glukokortikoiden. Gemäss den Empfehlungen
der Arzneimittelkommission (2) ist dieses Verfahren nur bei
einer aktiven Arthrose mit exazerbierter Schmerzreaktion, die
nicht auf andere therapeutische Massnahmen anspricht, zu
rechtfertigen. Die Injektion in reizlose Arthrosegelenke birgt
nur Risiken und sollte unterlassen werden. Da in diesem Arti-
kel vor allem die Schmerztherapie thematisiert werden sollte,
wird hinsichtlich weiterer Therapieformen auf die entspre-
chende Fachliteratur verwiesen – wenngleich damit in Einzel-
fällen auch eine Schmerzreduktion verbunden ist.
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Dipl.-Phys. Klaus Reckinger Arzt für Innere Medizin, Palliativmedizin
Direktor der GILDAS-Akademie Distelkamp 12
D-45699 Herten Tel. +49 2366 886282 Fax +49 2366 589907 E-Mail: gildas@gildas-akademie.de
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Systematisches Verzeichnis. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 2006. 2. Arzneiverordnung in der Praxis, Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (3. Auflage). 2008. 3. Ajzen I, Fishbein M. Understanding attitudes and predicting social behaviour. USA: Prentice Hall, 1980. 4. Department of Health. Self care — a real choice: self care support: a practical option. London: Department of Health, 2005. 5. www.heilmittelkatalog.de 6. Royal College of Physicians, The National Collaborating Centre for Chronic Conditions. Osteoarthritis — National Clinical Guideline for Care and Management in Adults. London, 2008. 7. Pickering G, Loriot MA, Libert F et al. Analgesic effect of acetaminophen in humans: first evidence of a central serotonergic mechanism. Clin Pharmacol Ther 2006; 79: 371—378. 8. Dominkus M, Nicolakis M, Kotz R et al. Comparison of tissue and plasma levels of ibuprofen after oral and topical administration. Arzneimittel-Forschung 1996; 46: 1138—1143. 9. Hinz B, Cheremina O, Bachmakov J et al. Dipyrone elicits substantial inhibition of peripheral cyclooxygenases in humans: new insights into the pharmacology of an old analgesic. FASEB J 2007; 21: 2343—2351. 10. Maj S, Centkowski P. A prospective study of the incidence of agranulocytosis and aplastic anemia associated with the oral use of metamizole sodium in Poland. Med Sci Monit 2004; 10: 193—195. 11. European Medicines Evaluation Agency (EMEA). Press release: European medicines agency concludes action on COX-2-inhibitors. Doc. Ref. EMEA/207766/2005. London, 27 June 2005. 12. European Medicines Evaluation Agency (EMEA), Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP). Opinion of the Committee for Medicinal Products for Human Use pursuant to article 5 (3) of regulation (EC) No 726/2004, for nonselective on steroidal antiinflammatory drugs (NSAID). EMEA/CHMP/410051/2006, EMEA/H/A-5.3/800. Annex 1 Scientific conclusions, 2006. 13. Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). www.uni-dues seldorf.de/AWMF/ll/041-003.htm.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Notfall & Hausarztmedizin» 8+9/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Interessenkonflikte: keine
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