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FORTBILDUNG
Epilepsiechirurgie
Wann, wie und mit welchem Ergebnis?
Mit einer Prävalenz von knapp 1 Prozent ist die Epilepsie eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. Bis zu 70 Prozent der Epilepsiepatienten können weitgehend erfolgreich mit Medikamenten behandelt werden. Gelingt dies nicht, ist die Möglichkeit einer kurativen epilepsiechirurgischen Therapie zu erwägen.
welches besagt, dass eine vollständige Entfernung des epileptogenen Areals und damit eine Heilung von der Erkrankung anzustreben ist. Als epileptogenes Areal wird pragmatisch derjenige Bereich des Gehirns aufgefasst, dessen Resektion notwendig und hinreichend für das Erzielen einer dauerhaften Anfallsfreiheit ist. Beim individuellen Patienten gilt es somit, das epileptogene Areal mittels einer speziellen Diagnostik zu identifizieren, einzugrenzen und dann abzuwägen, ob eine Resektion dieses Areals mit einem vertretbar geringen Risiko postoperativer Einbussen durchgeführt werden kann. Die Gesamtheit der hierzu erforderlichen Untersuchungen wird als prächirurgische Epilepsiediagnostik bezeichnet (3).
MARTIN KURTHEN1, THOMAS GRUNWALD1, HANS-JÜRGEN HUPPERTZ1, RENÉ BERNAYS2
UND HELMUT BERTALANFFY2
Die Wirksamkeit und Sicherheit der kurativen Epilepsiechirurgie ist mittlerweile so gut belegt, dass diese Behandlungsform bei sorgfältiger Indikationsprüfung für bestimmte Patienten mit pharmakoresistenter fokaler Epilepsie als Therapie der ersten Wahl einzustufen ist (1). Dies gilt prinzipiell sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Im Folgenden wird jedoch ausschliesslich auf die epilepsiechirurgische Behandlung von Erwachsenen eingegangen, da vor allem die Indikationsstellung zur Operation bei kindlichen Patienten auf einem etwas anderen Entscheidungsfindungsprozess beruht (2). Die zentralen Fragen «Wann, wie, und mit welchem Ergebnis?» lassen sich für die Epilepsiechirurgie wie folgt konkretisieren: ■ Wann?: Welche Epilepsiepatienten kommen für die chirur-
gische Behandlung infrage (Kandidatenselektion)? Welches ist der angemessene Zeitpunkt für eine Operation? Aufgrund welcher diagnostischen Informationen kann die Operationsindikation gestellt werden? ■ Wie?: Welche chirurgischen Verfahren stehen zur Verfügung? ■ Wie hoch sind die Chancen auf Anfallsfreiheit durch die Operation? Welche Risiken und möglichen Komplikationen sind zu beachten? Diese Fragen sind vor dem Hintergrund des Basiskonzepts der kurativen resektiven Epilepsiechirurgie zu beantworten,
Epilepsiechirurgie – wann? Sobald im Lauf einer individuellen Behandlung die Pharmakoresistenz der Epilepsie erwiesen ist, sollte eine prächirurgische Diagnostik erwogen werden. Eine Epilepsie gilt als pharmakoresistent, wenn mindestens zwei adäquat ausgewählte und
Merksätze
■ Jeder Patient mit einer pharmakoresistenten Epilepsie ist vorläufig als Kandidat für eine prächirurgische Epilepsiediagnostik und somit gegebenenfalls auch für eine epilepsiechirurgische Behandlung zu betrachten, sofern nicht eine gesicherte idiopathische generalisierte Epilepsie vorliegt.
■ Pharmakoresistenz besteht bereits nach dem Scheitern zweier medikamentöser Therapien der ersten Wahl.
■ Sobald Pharmakoresistenz erwiesen ist, sollte eine zunächst ambulante Zuweisung an ein epilepsiechirurgisches Zentrum erfolgen.
■ Die Chance auf Anfallsfreiheit durch eine Operation liegt bei zirka 60 Prozent, die Aussicht auf relevante Reduktion der Anfallsfrequenz in der Gruppe der postoperativ nicht anfallsfreien Patienten bei zirka 50 bis 65 Prozent, das Risiko persistierender komplikationsbedingter Defizite durch die Operation bei etwa 2 bis 5 Prozent. Durch weitere konservative Behandlung können nur etwa 10 Prozent dieses Patientenkollektivs noch Anfallsfreiheit erreichen.
1 Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Zürich; 2 Universitätsspital Zürich, Neurochirurgische Klinik
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EPILEPSIECHIRURGIE
durchgeführte medikamentöse Behandlungen nicht zum gewünschten Erfolg (zufriedenstellende Anfallskontrolle bei weitgehender Nebenwirkungsfreiheit) geführt haben. Dies betrifft etwa 30 Prozent aller Epilepsiepatienten. Aus grösseren Statistiken geht hervor, dass nach dem Scheitern zweier Therapien nur noch geringe Erfolgschancen von zirka 10 Prozent für weitere medikamentöse Behandlungen bestehen (4). Ein langwieriger «Marathon» durch sämtliche verfügbaren antikonvulsiven Therapien sollte dem Patienten erspart bleiben, zumal eine frühzeitige Operation mit besseren Erfolgschancen verbunden ist. Leider werden auch heute noch viele Epilepsiepatienten zu lange erfolglos medikamentös behandelt, bis endlich – oft auf Initiative der Patienten selbst – die Epilepsiechirurgie als therapeutische Option erwogen wird.
Tabelle 1: Typische Befunde Tabelle 1: bei mesialer Temporallappenepilepsie (MTLE)
Untersuchungsverfahren Anfallsanamnese
MRT
Interiktales EEG Iktales EEG Neuropsychologie
Typischer Befund bei MTLE
mesiotemporale Semiologie, u.a.: frühe oroalimentäre Automatismen, Verharren und starrer Blick, dystone Haltung des kontralateralen Arms
Hippokampussklerose (Volumenminderung, Signalanhebung in T2-gewichteten und FLAIR-Sequenzen, entdifferenziertes Oberflächenrelief, Verlust der Binnenstruktur)
epilepsietypische Potenziale mesiotemporal bzw. anterior temporal
rhythmische Aktivität (ca. 5—9/s) mesiotemporal bzw. anterior temporal
materialspezifische Defizite (links: verbal, rechts: nonverbal) im episodischen Gedächtnis
Kandidatenselektion
PET
Nicht alle Patienten mit pharmakoresistenten Epilepsien sind Kandidaten für eine prächirurgische
SPECT
Diagnostik. Am aussichtsreichsten ist eine Abklä-
rung für diejenigen mit monofokalen symptomati-
schen Epilepsien. Das Vorhandensein einer im
MRI detektierbaren epileptogenen Läsion erleichtert die prä-
chirurgische Diagnostik und erhöht die Chance auf Anfallsfrei-
heit nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff. Dies impli-
ziert aber keineswegs, dass Patienten mit nicht läsionellem
MRI oder Patienten mit mehreren zerebralen Läsionen für eine
prächirurgische Diagnostik nicht geeignet sind. Auch bei die-
sen Patienten kann eine epilepsiechirurgische Behandlung
erfolgreich sein. Nicht indiziert ist eine prächirurgische Dia-
gnostik hingegen bei Patienten mit gesicherten idiopathischen
generalisierten Epilepsien (z. B. juvenile myoklonische Epilep-
sie oder Absencenepilepsie).
Für Patienten mit Prima-facie-ungünstigen Voraussetzungen
für eine epilepsiechirurgische Behandlung, zum Beispiel Men-
schen mit Epilepsien bei diffusen Hirnschädigungen oder mit
Läsionen in scheinbar inoperablen Arealen wie beispielsweise
dem primär motorischen Kortex, kann eine prächirurgische
Diagnostik dennoch sinnvoll sein, da bei manchen dieser Pa-
tienten palliative epilepsiechirurgische Verfahren (siehe unten)
zu einer Verbesserung der Anfallssituation führen können.
Eine Alterseinschränkung bezüglich der Epilepsiechirurgie be-
steht nicht, wenn auch jenseits des 75. Lebensjahrs die Indi-
kation zur chirurgischen Behandlung wegen der erhöhten all-
gemeinen Komplikationsrisiken besonders kritisch zu stellen
ist.
Bei manchen Patienten lassen sich schon im Rahmen einer am-
bulanten Kandidatenselektion Epilepsiesyndrome mit hoher
epilepsiechirurgischer Chance auf Erfolg identifizieren. An ers-
ter Stelle ist das Syndrom der mesialen Temporallappenepilep-
sie zu nennen (MTLE, Tabelle 1), das meist therapieresistent
verläuft und durch den standardisierten Eingriff der selektiven
temporaler Hypometabolismus temporale Hypo- (interiktal) bzw. Hyperperfusion (iktal)
Amygdalahippokampektomie (siehe unten) erfolgreich behandelt werden kann. Die frühzeitige Diagnosestellung ist für die Behandlungsplanung und die Patientenaufklärung von grosser Bedeutung, da die MTLE häufig pharmakotherapieresistent verläuft und bei klar unilateraler Erkrankung mit einer hohen Quote postoperativer Anfallsfreiheit nach selektiver Amygdalahippokampektomie einhergeht (>70%).
Prächirurgische Epilepsiediagnostik Um das epileptogene Areal zunächst zu identifizieren, sollten lokalisierende Krankheitsmerkmale aus den folgenden Untersuchungsbereichen möglichst zur Deckung gebracht werden: 1. Anfallssemiologie: Schon die genaue anamnestische Erhe-
bung und dann die Video-EEG-Dokumentation der erlebund beobachtbaren Anfallszeichen erlaubt häufig recht präzise Rückschlüsse auf das involvierte Hirnareal (symptomatogene Zone). Aufgrund der topografischen Organisation der Grosshirnrinde lassen sich Kataloge lokalisierender und lateralisierender Anfallszeichen erstellen (Tabelle 2). Es besteht zwar keine eindeutige Zuordnung von Anfallszeichen und Hirnregionen, dennoch erlaubt die genaue Erhebung vor allem der initialen Anfallszeichen eine erste Hypothese zum Areal des Anfallsursprungs. Semiologische Elemente, die erst im Verlauf des Anfalls hinzutreten, verweisen eher auf das zerebrale Ausbreitungsgebiet des Anfalls. 2. Interiktales und iktales EEG: Die Dokumentation eines patiententypischen Anfalls mittels simultanen Video-EEGIntensivmonitorings liefert neben der Objektivierung der Anfallssemiologie eine Darstellung der anfallsbezogenen lokalen EEG-Veränderungen. Dabei ist für die Demarkation
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Tabelle 2: Lokalisierende Elemente der Anfallssemiologie
Initiale Anfallszeichen epigastrische Aura olfaktorische Aura Angst oroalimentäre Automatismen auditive Auren fokale unilaterale Kloni fokale unilaterale somatosensible Phänomene elementare visuelle Pseudohalluzinationen Schreien und Hypermotorik Schwindel, Liftgefühl affektiv gefärbte Hypermotorik
Wahrscheinlich involviertes Hirnareal Hippokampus Uncus Amygdala oder frontomedianer Kortex mesialer Temporallappen G. temporalis superior (posterior) G. praecentralis G. postcentralis
okzipitaler visueller Kortex
frontomedianer Kortex inferiorer parietaler Kortex zingulärer Kortex
Wenn die gewonnenen Informationen zur Anfallssemiologie, zum iktalen EEG und zum MRI lokalisatorisch konkordant sind, kann eine Operation empfohlen werden, sofern das Risiko postoperativer Defizite vertretbar gering erscheint. Dieses Risiko ist in Abhängigkeit von der Lokalisation des epileptogenen Areals und den aufgrund der topografischen Funktionsverteilung zu antizipierenden Defiziten zu ermitteln: Bei den häufig pharmakoresistenten mesialen Temporallappenepilepsien ist es wichtig, zu überprüfen, ob eine alltagsrelevante postoperative Verschlechterung des episodischen Gedächtnisses bei eventuell noch partiellem Funktionserhalt des erkrankten Hippokampus droht. Hierzu müssen eine neuropsychologische Risikoabschätzung mittels Testpsychologie und technischer Zusatzuntersuchungen (sog. intrakarotidaler Amobarbital-Test oder «Wada-Test»: abwechselnde einseitige intraarterielle Hemisphärenanästhesie mit Funktionstestung der jeweils nicht anästhesierten Hemi-
Abbildung 1: Iktales EEG: Beginn eines komplex-fokalen Anfalls im linken Temporallappen. Oben: bipolare Längsreihen (Fp2-F8, F8-T4, T4-T6, T6-O2, Fp1-F7, F7-T3, T3-T5, T5-O1), unten: bipolare Ringschaltung (Cz-C4, C4-T4, T4-rechte Sphenoidalelektrode, rechte-linke Sphenoidalelektrode, linke Sphenoidalelektrode-T3, T3-C3, C3-Cz).
Abbildung 2: Interiktales EEG: Spikes links temporal bei einem Patienten mit Temporallappenepilepsie. Oben: bipolare Längsreihen (Fp2-F8, F8-T4, T4-T6, T6-O2, Fp1-F7, F7-T3, T3-T5, T5-O1), unten: bipolare Ringschaltung (Cz-C4, C4-T4, T4-rechte Sphenoidalelektrode, rechte-linke Sphenoidalelektrode, linke Sphenoidalelektrode-T3, T3-C3, C3-Cz).
des epileptogenen Areals vor allem dasjenige Hirnareal von Bedeutung, welches initial von iktalen EEG-Veränderungen betroffen ist (ictal onset area, Abbildung 1). Auch die interiktale fokale epilepsietypische Aktivität (irritative Zone, Abbildung 2) kann auf das epileptogene Areal verweisen. 3. Strukturelle Bildgebung im Sinne eines hochauflösenden MRI des Gehirns nach epileptologischen Gesichtspunkten mit den bei fokalen pharmakoresistenten Epilepsien häufigen Befunden von Hippokampussklerosen, gutartigen Missbildungstumoren, fokalen kortikalen Dysplasien, posttraumatischen oder -enzephalitischen Schäden oder Kavernomen (Abbildung 3). Zusätzlich zur traditionellen visuellen Auswertung gewinnen Verfahren der EDV-gestützten morphometrischen Nachbearbeitung immer mehr an Bedeutung. Diese Verfahren erlauben es in manchen Fällen, subtile kortikale Läsionen nachzuweisen, die der visuellen Auswertung entgangen sind (Abbildung 4) (5).
sphäre) und eine funktionelle Kernspintomografie (fMRI) erfolgen. Bei temporalen oder extratemporalen neokortikalen Epilepsien ist zu erwägen, ob das Areal der geplanten Resektion mit eloquenten Hirnarealen überlappt. Als «eloquent» werden diejenigen Hirngebiete bezeichnet, deren Resektion oder Läsion zu irreversiblen alltagsrelevanten Funktionseinbussen führt, also unter anderem der primär motorische Kortex, die Sprachzentren, die primär sensorischen Kortizes und der perisylvische Assoziationskortex der dominanten Hemisphäre. Falls genügend Abstand zu eloquenten Arealen gewahrt ist, kann eine Operation vorgesehen werden; andernfalls wäre je nach Befundkonstellation entweder eine direkte intraoperative Funktionsüberprüfung (bei Gefährdung der Sprachzentren: am wachen Patienten!) durchzuführen oder eine präoperative elektrische Hirnkartierung, bei der über chronisch implantierte subdurale Elektroden mittels lokaler Elektrostimulation eine
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Abbildung 3: MRI-Beispiele von typischen epileptogenen Läsionen: (A) Hippokampussklerose mit den charakteristischen kernspintomografischen Merkmalen Atrophie und konsekutive Erweiterung des Temporalhorns, Signalhyperintensität in T2- bzw. FLAIR-gewichteten MR-Sequenzen, Verlust der Binnenstruktur/Laminierung des Hippokampus sowie Verlust der Interdigitationen des Hippokampuskopfes; (B) fokale kortikale Dysplasie mit abnormer Gyrierung, Verbreiterung des Kortexbandes und unscharfer Mark-Rinden-Grenze im linken Gyrus cinguli; (C) tuberöse Sklerose mit mehreren kortikalen, in der FLAIR-Sequenz hyperintensen Tubera; (D) Kavernom im rechten Temporallappen in Form einer umschriebenen, lobulierten Läsion ohne raumfordernden Effekt oder Ödem, aber mit deutlicher, zum Teil über die Läsion hinausgehender Signalauslöschung in der T2*-gewichteten Sequenz (E) aufgrund des Hämosiderinrandsaums; (F) Gangliogliom in Form einer (typischerweise) temporal lokalisierten, kortexbasierten, partiell zystischen, raumfordernden und normalerweise nur sehr langsam wachsenden Läsion mit leichter bis mässiger Hyperintensität der soliden Tumoranteile in der hier gezeigten FLAIR-Sequenz.
Abbildung 5: Schematische Darstellung der Ergebnisse des Video-EEGIntensivmonitorings und der elektrischen Hirnkartierung durch Elektrostimulation chronisch implantierter subduraler Elektroden (hier: 64-KontaktPlattenelektrode); die Zone des Anfallsursprungs (rot markierte Kontakte) und ein an Sprachfunktionen beteiligtes kortikales Areal (gelb markierte Kontakte) überschneiden sich teilweise.
funktionellen Bildgebung (PET, interiktales und iktales SPECT, MRI-bezogene SPECT-Darstellung im sogenannten SISCOM-Verfahren) gewonnen werden. Wird auf diesem Weg zumindest eine tragfähige Hypothese zur Lokalisation des epileptogenen Areals generiert, so kann eine erneute Anfallsaufzeichnung direkt vom Gehirn mittels im Zielgebiet implantierter subduraler Streifen- und/oder Gitterelektroden oder intrazerebraler Tiefenelektroden erfolgen. Nicht selten kann das primär epileptogene Areal mittels dieser invasiven Diagnostik noch erfolgreich demarkiert und eine Operationsindikation gestellt werden (6).
Epilepsiechirurgie – wie?
Auch wenn die Geschichte der modernen Epilepsie-
chirurgie bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, ist
Abbildung 4: Ergebnisse des MRT-Postprocessings im Vergleich mit herkömmlichen MRT-Sequenzen bei einem 11-jährigen Patienten mit gelastischen, zum Teil hypermotorischen nächtlichen Anfällen. Die Epilepsie war bis 2008 kryptogen trotz 4 Untersuchungen an 3T-MRT-Scannern. Obere Reihe (A): Das MRT-Postprocessing auf Basis eines nativen T1-Volumendatensatzes ergab Hinweise auf eine Mark-Rinden-Unschärfe und damit auf eine fokale kortikale Dysplasie (FCD) fronto-medial rechts (siehe Fadenkreuz). Nach prächirurgischer Abklärung und Resektion der Läsion wurde eine FCD histologisch nachgewiesen. Untere Reihe (B): In den herkömmlichen MRTSequenzen ist die Läsion auch retrospektiv kaum zu erkennen (siehe markierte Regionen).
dieser Bereich der Neurochirurgie doch dank einigen neueren technischen Entwicklungen stark weiterentwickelt und im therapeutischen Spektrum fest etabliert worden (7). Hier sind insbesondere die generelle Einführung der mikrochirurgischen Operationstechnik und die vielfältige Anwendung der
intraoperativen Bildgebung (MRI) zu nennen. Auch
Funktionskarte der herdnahen eloquenten Areale erstellt wird, die der Operation vorgelagerte prächirurgische Diagnostik
um für den Operateur die zu schonenden Hirngebiete zu mar- (siehe oben) hat von den neueren technischen Entwicklungen,
kieren (Abbildung 5).
insbesondere im Bereich der strukturellen Bildgebung, stark
Wenn die Informationen zu Semiologie, iktalem EEG und MRI profitiert. Wenn im Anschluss an eine prächirurgische Dia-
hingegen nicht konkordant sind (dies gilt auch für den Fall gnostik die Indikation zu einem epilepsiechirurgischen Eingriff
eines nicht läsionellen MRI), kann in manchen Fällen weitere gestellt werden kann, steht heutzutage eine Reihe von stan-
Information zur Lokalisation des epileptogenen Areals aus der dardisierten Eingriffen zur Disposition (8) (Abbildung 6).
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bei Epilepsien in der sprachdominanten Hemisphäre den Vorteil, dass potenziell noch funktionstragende Areale des temporopolaren und weiter temporolateralen Neokortex geschont werden können.
Abbildung 6: Beispiele für standardisierte epilepsiechirurgische Verfahren: (A) selektive Amygdalahippokampektomie, (B) anteriore Zweidrittelresektion des Temporallappens, (C) Lobektomie und (D) Topektomie.
Anteriore Zweidrittelresektion des Temporallappens Bei Temporallappenepilepsien ohne klare Zuordnung des epileptogenen Areals zum mesialen beziehungsweise extramesialen Kortex, aber auch ohne Hinweis auf eine speziell temporoposteriore Anfallsentstehung, wird eine anteriore Zweidrittelresektion des Temporallappens durchgeführt, das heisst, der Temporallappen wird über eine anteroposteriore Strecke von etwa 5 cm vom Temporalpol gemessen abgesetzt, inklusive Resektion der entsprechenden mesiotemporalen Strukturen (Abbildung 7). Die meisten Zentren wählen bei Operationen in der dominanten Hemisphäre eine etwas knappere Resektion (z.B. 4,5 cm ab Pol, statt 5,5 cm ab Pol in der nicht dominanten Hemisphäre), um das temporoposterior/lateral gelegene Wernicke-Areal sicher zu schonen.
Erweiterte Läsionektomie Bei sämtlichen monofokalen, läsionellen, neokortikalen Epilepsien wird eine erweiterte Läsionektomie durchgeführt, das heisst, man entfernt die epileptogene Läsion plus einen mutmasslich epileptogenen Randsaum makrostrukturell unauffällig erscheinenden Gewebes. Diese Vorgehensweise ist darin begründet, dass bei vielen Läsionen (z.B. Kavernome, gutartige Missbildungstumoren) weniger das unmittelbar lädierte Gewebe als vielmehr der umgebende Randbereich Ausgangspunkt der Anfälle ist, zum Beispiel bei erhöhter Epileptogenizität durch abgelagerte Blutabbauprodukte im Randbereich eines Kavernoms. Die Grenzen der Resektionserweiterung sind in Abhängigkeit von der Art der epileptogenen Läsion individuell zu bestimmen.
Abbildung 7: Präoperative (obere Reihe) und postoperative MRI-Aufnahmen (untere Reihe): (A) anteriore Zweidrittelresektion des rechten Temporallappens bei fokaler kortikaler Dysplasie des rechten Temporalpols, (B) selektive Amygdalahippokampektomie bei Hippokampussklerose links; postoperative Anfallsfreiheit bei beiden Patienten.
Selektive Amygdalahippokampektomie Bei den häufigen mesialen Temporallappenepilepsien erfolgt eine selektive Amygdalahippokampektomie, das heisst, es wird über einen transtemporalen, transsylvischen oder subtemporalen Zugang der mesiale Temporallappen dargestellt, und der Ncl. amygdalae sowie der Hippokampuskopf und -körper und der zugeordnete Anteil des Gyrus parahippocampalis werden reseziert (Abbildung 7). Dieser selektive Eingriff hat vor allem
Topektomie, Hemisphärotomie und Lobektomie Bei monofokalen, nicht läsionellen Epilepsien erfolgt eine gezielte, umschriebene, individuell zugeschnittene Resektion des mutmasslich epileptogenen Areals (Topektomie), welches dann vorwiegend nach elektrophysiologischen Kriterien (ictal onset area) invasiv einzugrenzen ist. Seltener angewendete, aber bei gezieltem Einsatz sehr erfolgreiche Operationsverfahren sind die funktionelle Hemisphärektomie oder Hemisphärotomie (komplette Diskonnektion einer Grosshirnhemisphäre mit selektiver, vor allem zum Zweck des besseren Zugangs vorgesehener temporaler Resektion bei streng monohemisphärischen Epilepsien mit Funktionsverlust der betroffenen Hemisphäre, zum Beispiel bei der Rasmussen-Enzephalitis) oder auch die Lobektomie (Entfernung eines ganzen Hirnlappens, wenn dieser mit dem epileptogenen Areal weitgehend zur Deckung kommt).
Kallosotomie und subpiale Transektionen Als palliative epilepsiechirurgische Eingriffe sind vor allem die Kallosotomie (nicht resektive, selektive Durchtrennung des
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Tabelle 3: Positive und negative Prädiktoren Tabelle 3: der postoperativen Anfallsfreiheit Tabelle 3: nach temporaler Epilepsiechirurgie
Positive Prädiktoren für postoperative Anfallsfreiheit
kurzfristig (< 5 Jahre postoperativ)* präoperativ nur oder dominierend komplex-fokale Anfälle Vorliegen einer AHS, eines DNT oder eines Ganglioglioms konkordant lokalisierendes neuropsychologisches Defizit präoperativ nur ipsilaterale interiktale Spikes MRI läsionell präoperativ niedrige Anfallsfrequenz Abwesenheit einer fokalen kortikalen Dysplasie konkordanter Gedächtnisbefund im Wada-Test präoperativ kurze Krankheitsdauer früher Krankheitsbeginn präoperativ keine GTKA präoperativ konkordant lokalisierendes PET (nur NTLE) konkordant lokalisierender PET-Befund (nur NTLE)
langfristig Anfallsfreiheit im ersten postoperativen Jahr Vorliegen einer AHS, eines DNT oder Ganglioglioms
Negative Prädiktoren für postoperative Anfallsfreiheit
kurzfristig (< 5 Jahre postoperativ)* postoperativ interiktale epilepsietypische Potenziale im EEG frühe postoperative Anfallsrezidive (< 4 Wochen) histologisch unauffälliges Operationspräparat präoperative Status epileptici histologisch unauffälliges Operationspräparat
langfristig präoperative GTKA präoperative Krankheitsdauer > 20 Jahre präoperativ interiktal bilaterale ETP Vorliegen einer Taylor-Typ-Dysplasie höheres Patientenalter beim Operationszeitpunkt Abdosieren der AE histologisch unauffälliges Operationspräparat
*Die Daten stammen zum Teil aus Studien mit Nachuntersuchungsintervallen von lediglich bis zu 2 Jahren. Abkürzungen: PET: Positronenemissionstomografie; GTKA: generalisierte tonisch-klonische Anfälle; EEG: Elektroenzephalogramm; NTLE: neokortikale Temporallappenepilepsie; AHS: Ammonshornsklerose; DNT: dysembryoblastischer neuroepithelialer Tumor; ETP: epilepsietypische Potenziale; AE: Antiepileptika
Corpus callosum bei nicht lokalisierbarer beziehungsweise nicht lateralisierbarer Epilepsie mit dominierenden Sturzanfällen) sowie die multiplen subpialen Transektionen (MST, nicht resektive flächenhafte, vertikale Kortexdurchtrennungen in Abständen von wenigen Millimetern) zu nennen. Die MST sollen die Anfallsausbreitung über die horizontalen kortikalen Fasern unterbinden und zugleich die funktionstragenden vertikalen Kolumnen weitgehend erhalten. Somit können MST auch in eloquenten Arealen durchgeführt werden, unter Umständen (und dann in kurativer Absicht) in Kombination mit Teilresektionen bei partieller Überschneidung von epileptogenen und eloquenten Arealen.
Epilepsiechirurgie – mit welchem Ergebnis? Erfolgschancen Sowohl die Chance auf postoperative Anfallsfreiheit als auch das Risiko operationsbedingter Funktionseinbussen hängt individuell von einer Vielzahl von Faktoren ab. In Tabelle 3 sind einige bekannte positive und negative Prädiktoren des Anfallsergebnisses nach Temporallappenchirurgie, getrennt für das Kurzzeit- (< 5 Jahre postoperativ) und das Langzeitergebnis, zusammengestellt (9). Vor allem die in den einzelnen Studien sehr unterschiedlichen Nachuntersuchungsintervalle (von 3 Monaten bis 20 Jahren!) und die nicht immer gleichartige Ergebnisklassifikation erschwert die Auswertung der Literatur. Zudem enthalten die meisten Outcomestudien einen grossen Anteil von Patienten, die trotz Anfallsfreiheit dauerhaft noch eine antikonvulsive medikamentöse Therapie fortführen. Pauschal kann aber gesagt werden, dass kurz- und mittelfristig eine Chance auf Anfallsfreiheit von etwa 60 Prozent nach einem kurativen epilepsiechirurgischen Eingriff besteht, und dass ein nennenswerter Anteil (je nach präoperativer Befundkonstellation zirka 50 bis 65%) der nicht anfallsfreien Patienten doch eine relevante Reduktion der Anfallsfrequenz erfährt; dies reicht von mehr als 50 Prozent Anfallsfrequenzreduktion bis hin zum ausschliesslichen Auftreten seltener postoperativer Auren. Langfristig, das heisst in Intervallen von 5 bis 20 Jahren, sinkt die Quote anfallsfreier Patienten zumindest um einige Prozentpunkte. Diesen Chancen stehen die für dieses Patientenkollektiv vergleichsweise geringen Aussichten auf Anfallsfreiheit (zirka 10%) und die mittleren Aussichten (maximal 50%) auf spürbare Reduktion der Anfallsfrequenz bei weitergehender konservativer Behandlung gegenüber. Da die epilepsiechirurgischen Eingriffe stets elektiver Natur sind, muss die Outcomeforschung sich auch auf globale Parameter wie die Lebensqualität richten. Sehr verkürzt gesagt, führt die epilepsiechirurgische Behandlung insgesamt zu einer verbesserten Lebensqualität, wobei als wesentlicher Faktor auch in diesem Kontext das Erzielen von Anfallsfreiheit zu sehen ist (10).
Komplikationsrisiken und Folgen der Operation Durch Komplikationen wie Blutungen, Infektionen, Ischämien, oder auch Gewebedestruktionen im Zugangsweg kann
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es in Abhängigkeit vom Schweregrad der Komplikation und von der Lokalisation der Schädigung zu postoperativen Ausfällen wie Paresen, Sensibilitätsstörungen, kognitive Einbussen oder Wahrnehmungsstörungen, beispielsweise eine Hemianopsie, kommen. Das Risiko persistierender Defizite liegt insgesamt bei etwa 2 bis 5 Prozent (11) bei einer Mortalität von etwa 1 Promille bei epilepsiechirurgischen Eingriffen. Auch kann es zu einer Knochendeckelinfektion kommen. Neben den Komplikationen sind die insgesamt häufiger auftretenden unvermeidbaren Operationsfolgen zu nennen, die von kosmetischen Veränderungen (verändertes Schädelrelief durch Atrophie des M. temporalis, veränderte Mimik durch Läsion des FacialisStirnastes) über spürbare, aber wenig belastende Symptome (Parästhesien im Bereich der Hautnarbe, kleine Gesichtsfelddefekte bis zur Quadrantenanopsie) bis hin zu sehr seltenen, aber stark beeinträchtigenden Einbussen beziehungsweise Störungen (übermässige weitere Verschlechterung des Gedächtnisses, De-novo-Psychose oder Depression) reichen.
Fazit
Die kurative Epilepsiechirurgie ist die Therapie der Wahl für
Patienten mit pharmakoresistenten fokalen Epilepsien, sofern
es gelingt, im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik das
epileptogene Areal zu bestimmen und ein günstiges Nutzen-
Risiko-Profil des geplanten Eingriffs plausibel zu machen. Die
Zuweisung an ein epilepsiechirurgisches Zentrum sollte mög-
lichst frühzeitig, das heisst, sobald die Pharmakoresistenz er-
wiesen ist, erfolgen.
■
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Martin Kurthen Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
Bleulerstrasse 60 8008 Zürich
Tel. 044-387 61 11 Fax 044-387 63 97 E-Mail: martin.kurthen@swissepi.ch
Interessenkonflikte: keine
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