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Metamizol — des Teufels oder nützlich?
Diskussion zur Renaissance eines alten Medikaments
In den letzten Jahren scheint ein sehr altes Medikament eine erstaunliche Renaissance zu erleben. Metamizol (Novalgin®, Minalgin®) wird mit seiner Indikation «starke Schmerzen und hohes Fieber, welche auf andere Massnahmen nicht ansprechen» wieder verbreitet zur Analgesie und Spasmolyse verschrieben und eingesetzt. Hausärztinnen und Hausärzte haben den Eindruck, dass Metamizol im ambulanten Spitalbereich zunehmend häufiger Anwendung findet und die Patienten danach mit entsprechender Medikation in die Praxis kommen. Was ist davon zu halten? Eine Runde aus Mitgliedern unseres wissenschaftlichen Beirats diskutierte über praxisrelevante Aspekte beim Gebrauch von Metamizol.
ARS MEDICI: Verordnen Sie Ihren Patientinnen und Patienten Metamizol? Wenn ja, in welcher Indikation und Dosierung? Markus B. Denger: Ja, ich verwende Metamizol durchaus bei manchen meiner Patienten in der Hausarztpraxis gemäss «Label», also bei starken Schmerzen und hohem Fieber, welche auf andere Massnahmen nicht ansprechen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Metamizol-Verschreibungen insbesondere im ambulanten Spitalbereich in letzter Zeit immer mehr werden, und befürchte, dass diese Substanz etwas zu sorglos verordnet wird. Rolf Inderbitzi: Am Lungenzentrum Hirslanden in Zürich verwenden wir Metamizol zur postoperativen Schmerztherapie, und zwar mit einer Dosis bis maximal 4 g/Tag, abhängig von Körpergewicht und Nierenfunktion des Patien-
ten. Wir verabreichen Metamizol meistens in der sogenannten Würzburger Mischung: 4 g Metamizol, 400 mg Tramadol und 1 mg Droperidol (DHBP) pro Tag. Hans-Jörg Senn: Metamizol spielt in der Behandlung meist chronischer, organisch bedingter Schmerzen in der Onkologie eine Nebenrolle, nicht zuletzt wegen seiner kurzen Wirkungsdauer und wegen anderweitiger Analgetikapräferenzen. Metamizol in den üblichen Kompendiumsdosierungen ist für uns ein zwar gut verträgliches, aber von den meisten Onkologen wenig verwendetes Ausweichanalgetikum dritter und vierter Wahl zur Schmerzkontrolle bei Patienten mit metastasierten Tumorleiden und begrenzter Lebenserwartung, wo die hämatologischen Nebenwirkungsbedenken keine grosse Rolle mehr spielen.
Christian Meyer: Das Kantonsspital Baden verwendet in der Anfallsbehandlung der Migräne im Notfall 2,5 g Metamizol als Infusion mit in der Regel gutem Resultat. Ich sehe die meisten dieser Patienten später in meiner Praxis. Ich selbst verwende in einer solchen Situation als erste Wahl die Kombination Aspégic Inject®, 1000 mg, mit Paspertin®, ebenfalls als Infusion. Tritt nach zwei Stunden keine Besserung ein, dann gebe ich parenteral 1 g Metamizol ebenfalls als Infusion, und das Kopfweh reagiert positiv darauf. Ulrich Heininger: Am Universitäts-Kinderspital in Basel verwenden wir nur sehr selten Metamizol. Mit anderen Analgetika, insbesondere Paracetamol, Mefenacid und Ibuprofen, haben wir bewährte, effektive und gut verträgliche Alternativen. Jean-Luc Fehr: Am Uroviva-Zentrum Hirslanden in Zürich setzen wir Metamizol regelmässig, mit sehr gutem Erfolg und bisher ohne auffällige Nebenwirkungen ein. Akute Kolikschmerzen bei Urolithiasis werden mit einer Infusion mit 2,5 g Metamizol behandelt, häufig auch kombiniert mit Diclofenac. Spastische Beschwerden bei liegenden Ureterschienen, dem sogenannten Pigtail-Katheter, sprechen sehr gut auf Metamizol per os an, die Maximaldosis beträgt 8 × 500 mg pro Tag. Brunello Wüthrich: Für die Praxis gilt, dass die Einnahme von Novaminsulfonhaltigen Präparaten streng indiziert erfolgen sollte, wie von den Kollegen angegeben. Für den Alltag soll ein Paracetamol-haltiges Präparat zum Einsatz kommen. Bei der Anamnese einer ASSoder sonstigen Analgetika-Intoleranz sollte die Verabreichung von Novaminsulfon, wenn überhaupt, nur unter ärzt-
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Über Metamizol diskutierten (v.l.): Dr. med. Markus B. Denger (Allgemeinmedizin FMH, Kaiseraugst), Dr. med. Jean-Luc Fehr (Urologie FMH, Uroviva — Zentrum für Urologie — Hirslanden, Zürich), Prof. Dr. med. Ulrich Heininger (Infektiologie FMH, Pädiater am Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB), PD Dr. med. Rolf Inderbitzi (Chirurgie FMH, Lungenzentrum Hirslanden, Zürich), Dr. med. Christian Meyer (Neurologie FMH, Baden), Prof. Dr. med. Hans-Jörg Senn (Innere Medizin und Onkologie-Hämatologie FMH, Tumor- und Brustzentrum ZeTuP, St. Gallen), Prof. Dr. med. Brunello Wüthrich, Dermatologie, Venerologie, Allergologie und klinische Immunologie FMH, Zollikerberg
licher Aufsicht, in Notfallbereitschaft erfolgen. Ende der Siebzigerjahre und in den Achtzigerjahren haben ich auf der Allergiestation des Universitätsspitals Zürich viele und schwere Hypersensitivitätsreaktionen auf Pyrazolon und insbesondere auf Metamizol gesehen und abklären können und entsprechende Beobachtungen publiziert (siehe Infokasten «Allergische und pseudoallergische Nebenwirkungen»). Die Häufung der Reaktionen stand zu dieser Zeit zwar sicher im Zusammenhang mit dem damaligen vermehrten Konsum von frei erhältlichen Kombinationspräparaten zur Schmerz- und Fieber-Bekämpfung. Aber auch heute noch gehören pyrazolonhaltige Präparate in einigen Ländern, wie zum Beispiel Spanien, zu den meistverkauften Medikamenten.
ARS MEDICI: Sehen Sie für Metamizol einen Platz ausserhalb Ihrer Fachrichtung? Hans-Jörg Senn: Die sehe ich durchaus. Sie sind allerdings angesichts des heutigen anderweitigen Angebots an Analgetika/Antipyretika – vor allem Paracetamol, nichtsteroidale Entzündungshemmer und andere – nur begrenzt. Metamizol hat wenig Nebenwirkungen und ist zudem billig, was unter dem heutigen Kostendruck in der Allgemeinpraxis eine Rolle spielt. Aber Metamizol ist nach wie vor bei Patienten mit Leberproblemen sowie bei schwangeren und stillenden Frauen kontraindiziert. Aus hämatologischer Sicht rate ich weiterhin grundsätzlich vom – nicht nötigen – Einsatz von Metamizol bei nichtmalignen Krankheiten ab, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, auch wenn die Agranulozytose-Gefahr früher
vielleicht etwas überschätzt wurde. Der letzte in unserem Zentrum beobachtete Fall eines Kindes mit schwerer Metamizol-induzierter Agranulozytose liegt indessen nur wenige Monate zurück! Rolf Inderbitzi: Ich denke, dass Metamizol auch einen Platz in der Schmerztherapie haben könnte, für chronische oder nichttraumatische Schmerzen.
keiten. Unsere Hämatologen/Onkologen am UKBB verwenden Metamizol gegen Fieber und Schmerzen. In deren Erfahrung ist es auch ein sehr gutes Muskelrelaxans, zum Beispiel bei Bauchschmerzen. Ferner kann es gut bei Patienten mit Thrombozytenfunktionsstörungen als Alternative zu NSAID verwendet werden.
Stichworte zu Metamizol
Eine Substanz — viele Namen: Metamizol, Natriumnovaminsulfonat, Dipyron, Sulpyrin, Noramidopyrin-Methansulfonat
Wechselvolle Akzeptanzgeschichte: 1922 Markteinführung, 1987 Rezeptpflicht in Deutschland, 1999 Deutsches Ärzteblatt: «Metamizol gehört zu den sichersten Analgetika», 2009 Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: «Lebensbedrohliche hypotensive Reaktionen nach Metamizol — Indikationsstellung muss beachtet werden».
Interessante Pharmakokinetik: Metamizol wird nach peroraler Anwendung zwar fast vollständig absorbiert, aber schon im Magen vollständig metabolisiert (Hydrolyse zu 4-Methylaminoantipyrin [4-MAA]; ferner drei weitere aktive Metaboliten).
Nützliche Wirkung: analgetisch und antipyretisch (peripher und zentral) und spasmolytisch, aber nur gering antiphlogistisch.
Markus B. Denger: Grundsätzlich besteht ein ganz empfindlicher Mangel an Nicht-NSAID und nichtopioiden Analgetika. Ich kenne ausser dem Metamizol eigentlich nur das Paracetamol. Das ist – gemessen am Überangebot bei anderen Indikationen – ein äusserst bescheidenes Angebot. Christian Meyer: Anderweitige Indikationen kann ich nicht beurteilen. Mir ist aber bekannt, dass man früher auch in der Neurochirurgie Metamizol bevorzugt hat, eventuell aber mehr als fiebersenkende Substanz. Ulrich Heininger: Ich sehe nur sehr eingeschränkte Anwendungsmöglich-
Jean-Luc Fehr: Metamizol kommt, wie bereits eingangs von unserem Chirurgen Rolf Inderbitzi erwähnt, für die meisten postoperativen Schmerzzustände als Analgetikum infrage, häufig in Kombination mit anderen Mitteln.
ARS MEDICI: Da aber doch gewisse Bedenken gegenüber einem freizügigen Einsatz von Metamizol bestehen: Welche Alternativen gibt es zur Analgesie und/oder Spasmolyse? Hans-Jörg Senn: Zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten haben wir wie erwähnt andere medikamentöse Präferenzen. Wir bevorzugen im Rahmen
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Meldungen zu vermuteten Metamizol-Nebenwirkungen
Swissmedic Pharmacovigilance
Seit 1997 trafen bei der Pharmacovigilance von Swissmedic 189 Meldungen zu vermuteten Nebenwirkungen der Substanz Metamizol ein. In den letzten beiden Jahren waren es je ungefähr 30 Meldungen, eine Zunahme war in der letzten Dekade nicht zu beobachten. Bei den Meldungen handelte es sich fast immer um Hypersensitivitätsreaktionen, die in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Verabreichung mehrerer Medikamente, darunter auch Metamizol, beobachtet wurden; Kausalzusammenhänge lassen sich daraus nicht ableiten. Agranulozytosen sind selten, kommen aber ebenfalls regelmässig vor (2007: 2 Fälle, 2008 und 2009: je 3 Fälle).
sanofi-aventis
Die Herstellerfirma hat an der Zusammensetzung der injizierbaren Form von Novalgin® während des letzten Jahrzehnts nichts geändert. Ein Informationsschreiben zur Agranulozytoseproblematik in Zusammenhang mit Metamizol vom 16. Juli 2009 erinnert an die 1986 publizierte International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study (IAAS), die anhand sehr grosser Zahlen (22 Mio. Verschreibungen) mit einer Agranulozytosehäufigkeit von 4,4/106 und einer Risikodifferenz zwischen Kontroll- und Metamizolgruppe von 1,1/106 rechnete. Allerdings gebe es auch Studien, die regional höhere Inzidenzen (z. B. in Schweden) annehmen lassen, wobei nicht klar sei, ob hier genetische oder andere Risikofaktoren (z.B. die Medikationsdauer) eine Rolle spielen. Daher sei eher auf die von Swissmedic anerkannten Angaben, die sich auf ausführliche internationale Daten und lokale Informationen stützen, abzustellen. Nach den Herstellerangaben ist die Agranulozytose mit <0,01 Prozent nach peroraler Anwendung «sehr selten», und die Todesrate ist mit 25/108 Verwender zu beziffern.
der sogenannten WHO-Schmerztherapie-Stufenleiter in der Regel Substanzen mit längerer Halbwertszeit wie retardierte nichtsteroidale Entzündungshemmer und/oder – bei stärkerem Schmerzgrad – retardierte beziehungsweise transkutan applizierbare Opiate. Zur wirksamen, akuten Spasmolyse gibt es meines Erachtens zweckmässigere Mittel als Metamizol, wie zum Beispiel Buscopan®, Spasmosol® und andere. Rolf Inderbitzi: Für den Bereich der Chirurgie und Traumatologie sehe ich als Alternative zum Metamizol lokale, perkutane Systeme, ferner auch regionale Schmerzkatheter. Markus B. Denger: In der Allgemeinpraxis bestehen meines Erachtens keine wirklich brauchbaren Alternativen. Man ist somit gezwungen, auf NSAID und/ oder Opioide – mit ihren jeweiligen bekannten Nachteilen – auszuweichen. Ulrich Heininger: Bei Schmerzen, wie bereits erwähnt, bieten sich Paracetamol, Mefenacid und Ibuprofen an, bei
starken Schmerzen, zum Beispiel post-
operativ oder bei Tumorpatienten, auch
Morphin beziehungsweise Morphinde-
rivate, zur Spasmolyse zudem das be-
reits erwähnte Buscopan®.
Jean-Luc Fehr: Meiner Meinung nach
werden die Bedenken gegenüber einem
freizügigen Einsatz von Metamizol
überbewertet. In den letzten Jahren hat
die Metamizol-Medikation eine Renais-
sance erlebt, ohne dass es gleichzeitig
zu einer vermehrten Meldung von Ne-
benwirkungen gekommen wäre. Meta-
mizol ist ein altbewährtes und günsti-
ges Analgetikum. Ich suche deshalb
sehr selten nach einer Alternative. Zu
bemerken ist auch, dass Buscopan®,
das Butylscopolamin, keinen Einfluss
auf die Wandspannung des Harnleiters
hat und keine Spasmolyse bewirkt. Bus-
copan® ist deshalb bei der Harnstein-
kolik keine Alternative.
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Die Fragen stellte Halid Bas.
Allergische und pseudoallergische Nebenwirkungen
Im Rahmen einer multizentrischen Studie (EGDA) wurden in Zürich von Oktober 1984 bis August 1985 58 Patienten mit anamnestischen Sofortreaktionen auf Pyrazolon-Derivate (Metamizol gehört zu den Pyrazolonen), Phenazon, Propyphenazon oder Phenylbutazon allergologisch abgeklärt (Hauttests, Antikörperbestimmungen, Provokationstests). Die Häufigkeit der Reaktionen auf Propyphenazon und Novaminsulfon war in etwa gleich, wobei meist innerhalb der Pyrazolongruppe Kreuzreaktionen die Regel waren. Unter Berücksichtigung der Klinik und der Testergebnisse liessen sich die 58 Hypersensitivitätsreaktionen auf Pyrazolon-Derivate aufgrund der Pathogenese in 3 Gruppen einteilen: 11 Fälle (19%) pseudoallergischer Reaktionen im Rahmen einer Prostaglandinsynthetasehemmer-Intoleranz (Intoleranz vom ASS-Typ), 21 Fälle einer IgEvermittelten Pyrazolon-Allergie (36%), 26 Fälle (45%) von Pyrazol-Idiosynkrasie (Reaktion nicht im Rahmen eines Analgetika-Intoleranz-Syndroms und mit negativen Testergebnissen). In einer erweiterten Studie an 69 Patienten wurden die obigen Ergebnisse bestätigt. Bei 5 Patienten fand sich eine Kombination der drei Pathomechanismen.
Die Reaktionen bei Pyrazolon-Allergie sind gefährlich: Etwa die Hälfte der Propyphenazon- und Metamizol-Allergien müssen notfallmässig, meist schon im anaphylaktischen Schock, behandelt werden. Frühsymptome sind ein orales Allergiesyndrom und Juckreiz an den Handinnenflächen, Fusssohlen und an der Kopfhaut. Aufgrund neuerer Statistiken verursacht diese Substanzgruppe bis zu 47 Prozent aller Nebenwirkungsreaktionen auf NSAID und 10 Prozent der Nebenwirkungsreaktionen aller Medikamente.
Wüthrich B, Fabro L, Wälti M: Soforttyp-Reaktion auf Pyrazol-Derivate: Ergebnisse von Hauttesten und Antikörperbestimmungen. Dermatologica 1986; 173: 24—28. Fabro L, Wüthrich B, Wälti M: Acetylsalicylsäure- und Pyrazol-Allergie oder Pseudo-Allergie? Ergebnisse von Hauttesten und Antikörper-Bestimmungen im Rahmen einer multizentrischen Studie. Z Hautkr 1987; 62: 470—478.
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