Transkript
STUDIE REFERIERT
Frakturprävention: Vitamin D allein reicht nicht
Immer Kombination Kalzium plus Vitamin D nötig?
In einer neuen Metaanalyse
randomisierter Studien auf Basis
der individuellen Patientendaten
wurde untersucht, welche Fakto-
ren für eine erfolgreiche Präven-
tion von vertebralen und nicht-
vertebralen Frakturen im Alter mit
Vitamin D von Bedeutung sind.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Frakturen wegen brüchiger Knochen verursachen Überschussmortaliät, gewichtige Morbidität und hohe Behandlungsund Pflegekosten bei alten Menschen. Vor allem solche in Pflegeinstitutionen sind im Vergleich zu gleichaltrigen in der Gemeinschaften Lebenden stärker gefährdet. Frühere Studien haben eine ganze Reihe von Hinweisen gegeben, dass die Versorgung mit Vitamin D und Kalzium im Alter kritisch ist für die Verhinderung von Stürzen und konsekutiven Frakturen von Wirbelkörpern und peripheren Knochen. Ganz eindeutig sind die Resultate aber bis heute nicht ausgefallen, was sich auch in Metaanalysen mit widersprüchlichen Ergebnissen hinsichtlich der Frakturprävention niederschlug. Dabei wurden jeweils die gepoolten Behandlungsdaten analysiert, was methodische Schwächen bietet. Diese Metaanalyse stützt sich hingegen auf die individuellen Patientendaten, allerdings nur aus einer begrenzten Anzahl von Studien.
Methodik Die Autoren der DIPART (Vitamin D Individual Patient Analysis of Randomized Trials)-Gruppe aus Dänemark und den USA berücksichtigten für ihre Metaanalyse (1) nur Studien gemäss folgenden Kriterien: ■ individuelle oder Cluster-Randomi-
sierung ■ mindestens 2 Behandlungsarme
(mit und ohne Vitamin D) ■ Frakturen als Outcome ■ mindestens 1000 Patienten
Sie fanden 47 klinische Studien mit Vitamin D und Angaben zu Frakturen, 36 entfielen, da sie weniger als 1000 Patienten rekrutiert hatten. Da die Autoren von 4 Studien die individuellen Patientendaten nicht herausrücken wollten, verblieben noch 7 Studien für die Analyse, 6 mit individueller, 1 mit Cluster-Randomisierung.
Ergebnisse In den 7 berücksichtigten Studien war sechsmal Vitamin D per os (Vit. D2 und Vit. D3, in unterschiedlichen Dosierungen) verabreicht worden, in einer Studie erfolgte eine Frakturprävention mit intramuskulärem Vitamin D2, einmal jährlich jeweils zusammen mit der Influenzaimpfung. Die Analyse umfasste 7202 Frakturen über 177 203 Patientenjahre. Studien mit Vitamin D plus Kalzium zeigten ein reduziertes Gesamtfrakturrisiko (Hazard Ratio [HR] 0,92, 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,86–0,99, p = 0,025) und für Hüftfrakturen (alle Studien: HR 0,84, 95%-KI 0,70–1,01, p = 0,07; Studien mit 10 µg Vitamin D plus Kalzium: HR 0,74, 95%KI 0,60–0,91, p = 0,005). Demgegen-
über wurden für die Vitamin-D-Verabreichung ohne begleitende Kalziumsupplementation weder in der Dosis von 10 µg/ Tag noch von 20 µg/Tag signifikante Effekte gefunden. Die Studienautoren versuchten auch, individuelle Teilnehmercharakteristika zur Frakturinzidenz in Beziehung zu setzen. Sie fanden jedoch keine statistische Interaktion mit der Frakturanamnese und dem Ansprechen auf die Behandlung, ebenso wenig wie Interaktionen mit Alter, Geschlecht oder einer Hormonersatztherapie (HRT). Die Autoren berechneten auch die absolute Risikoreduktion (ARR) für Frakturen und die «number needed to treat» (NNT) für die hier allein als wirkungsvoll gefundene Kombinationsbehandlung mit Vitamin D und Kalzium. Für das Gesamtfrakturrisiko bei allen Studienteilnehmern ergab sich eine ARR von 0,5 Prozent nach 3 Jahren. Dies entspricht einer NNT von 213; zur Verhinderung von 1 Fraktur müssen also 213 Patienten über 3 Jahre behandelt werden. Für Individuen über 70 Jahre war die ARR mit 0,9 Prozent deutlich höher, und die NNT fiel auf 111. Patienten mit dokumentierter Fraktur in der Anamnese hatten unabhängig vom Alter eine ARR von 1,2 Prozent, entsprechend
Merksätze
Diese Metaanalyse auf Basis individueller Patientendaten ergab:
■ Vitamin D allein hat unabhängig von der Dosis keinen signifikanten Effekt auf die Senkung des Frakturrisikos.
■ Im Gegensatz dazu reduziert die Kombination von Vitamin D plus Kalzium Hüftfrakturen und Gesamtfrakturrisiko sowie wahrscheinlich auch Wirbelfrakturen.
■ Dieser Schutzeffekt der Kalzium-Vitamin-DKombinationsbehandlung ist unabhängig von Alter, Geschlecht und vorangegangenen Frakturen.
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STUDIE REFERIERT
einer NNT von 82. Für Hüftfrakturen war die ARR bei über 70-Jährigen 0,4 Prozent (NNT = 255), bei vorangegangener Fraktur 0,2 Prozent (NNT = 548).
Diskussion Die Autoren diskutieren ihre eigenen Ergebnisse im Zusammenhang mit drei anderen Metaanalysen. Zwei dieser Übersichten hatten auf Vitamin D allein fokussiert und fanden ebenfalls, dass die Vitaminsupplementation allein hinsichtlich Gesamt- und Hüftfrakturrisiko nichts brachte, während die Kombination mit Kalzium einen Nutzen zeigte. In einer Cochrane-Review verhütete Vitamin D plus Kalzium nur bei Patienten in Pflegeheimen Frakturen, und ein Effekt auf klinische Wirbelfrakturen liess sich weder für die Kombination noch für Vitamin D allein nachweisen. Die Frage der Vitamin-D-Dosierung blieb jedoch in diesen Analysen unberücksichtigt. Kürzlich ist auch eine Metaanalyse von Bischoff-Ferrari und Mitautoren erschienen. Deren deutlich andere Schlussfolgerungen erklären die DIPART-Autoren damit, dass dort die WHI-Studie als hochdosiert eingestuft wurde, weil zur niedrigen Vitamin-D-Supplementation von 400 IU/10 µg noch die Versorgung aus anderen Quellen (365 IU) hinzugezählt, im Kontrollarm jedoch nicht berücksichtigt wurde. Unter den Limitationen ihrer Analyse erwähnen die Autoren, dass sie allfällige Nebenwirkungen der Supplementation nicht studieren konnten, da die Methodik der berücksichtigten Studien allzu unterschiedlich war und diesem Aspekt nicht einheitlich Rechnung trug. Als besondere Stärke ihrer Metaanalyse streichen sie hingegen heraus, dass absolute Frakturrisiken berechnet werden konnten und dank der individuellen Patientendaten auch der Effekt anderer therapeutischer Interventionen (z.B. Bisphosphonate, HRT) gut herausgefiltert werden konnte.
Was ist neu? In einem begleitenden Editorial versucht der britische Geriater Opinder Sahota die Ergebnisse dieser Metaanalyse im Zu-
sammenhang der restlichen Forschung zur Frakturprävention im Alter zu beleuchten. Zwar jagten sich die Studien und die Metaanalysen, dennoch bleibt die Einschätzung schwierig, teilweise sogar widersprüchlich, und der Fragen sind viele: Welches ist die beste Dosis? Welche Patienten profitieren am meisten? Welche Frakturen lassen sich am ehesten beeinflussen? «Diese Ergebnisse sind wichtig, da es sich um eine der wenigen Analysen individueller Patientendaten handelt, die zeigt, dass Vitamin D allein – unabhängig von der Dosis – das Frakturrisiko nicht senkt», resümiert Sahota. Eine der neueren Metaanalysen hatte zuvor ergeben, dass die Kombination Kalzium plus Vitamin D zwar das Gesamtfrakturrisiko senke, aber bloss bei Patienten in Institutionen in signifikanter Weise. Jene Resultate wurden vor allem durch eine grosse Studie aus Frankreich angetrieben, die in der jetzigen DIPART-Metaanalyse keine Berücksichtigung fand. Demgegenüber hatte die Bischoff-FerrariMetaanalyse gefunden, dass die Prävention nichtvertebraler Frakturen von der Vitamin-D-Dosis abhängig sei. 10 der 20 Studien sind jedoch in der DIPARTMetaanalyse nicht enthalten. Die beiden Metaanalysen stützen sich somit, ganz abgesehen vom Aspekt der Auswertung individueller Patientendaten, auf ziemlich unterschiedliche Studiendaten, ausserdem versuchte die Bischoff-FerrariErhebung Complianceprobleme zu berücksichtigen, was in dieser neueren Metananalyse nicht geschah. All dies kann die unterschiedlichen Schlussfolgerungen einigermassen erklären, so der BMJ-Editorialist. Eine weitere bis zu einem gewissen Grad offen bleibende Frage ist der Unterschied in der therapeutisch-präventiven Wirkung von Vitamin D2 (Ergocalciferol) und D3 (Cholecalciferol). Einige Studien haben auf eine Unterlegenheit von Vitamin D2 schliessen lassen, und auch die Bischoff-Ferrari-Metaanalyse zeigte in diese Richtung. Die vorliegende neue Metaanalyse ergab demgegenüber für die beiden Vitamin-D-Formen ähnliche Ergebnisse, selbst wenn die Potenz von
Vitamin D2 gegenüber derjenigen von Vitamin D3 mit nur 50 Prozent eingesetzt wurde. Nach neuerem Konsensus sollte die Serumkonzentration für eine normale Gesundheit 70 bis 80 nmol/l betragen, doch dies lässt sich in Interventionsstudien kaum je erreichen. Ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht ist der neuere Aspekt des Einflusses von Vitamin D auf die Muskelfunktion und damit auf das Sturzrisiko. Möglicherweise ist dieser Effekt für die Verhütung nichtvertebraler Frakturen wichtiger als derjenige auf die Knochenqualität. Was sind die Implikationen der heutigen Evidenz für die Praxis? «Obwohl die Evidenz immer noch verwirrend ist, gibt es einen wachsenden Konsens, dass die Kombination von Kalzium und Vitamin D für die Reduktion nichtvertebraler Frakturen effektiver ist als Vitamin D allein. Höhere Dosen sind wahrscheinlich bei Menschen mit ausgeprägterem Vitamin-D-Mangel notwendig, und die Therapie ist wahrscheinlich bei guter Langzeitcompliance effektiver», schliesst der britische Geriater bedeutsam. ■
1. The DIPART (vitamin D Individual Patient Analysis of Randomized Trials) Group: Patient level pooled analysis of 68 500 patients from seven major vitamin D fracture trials in US and Europe. BMJ 2010; 340: b5463. DOI: 10.1136/bmj.b5436.
2. Opinder Sahota ((Department of Health Care of Older People, Queen’s Medical Centre, Nottingham/UK): Reducing the risk of fractures with calcium and vitamin D. BMJ 2009; 339: b5492. DOI: 10.1136/bmj/b5492.
Interessenlage: Die Autoren deklarieren eine lange Liste von finanziellen Beziehungen (Berater/Vortragshonorare, Forschungsgelder) mit den Firmen Eli Lilly, Procter & Gamble, Merck, Roche, Shire, ProStrakan, Servier, Celltech, Merck, Sharp & Dohme, Amgen, GlaxoSmithKline, Pfizer, Sanofi-Aventis, Novartis, Nycomed und Osteologix.
Halid Bas
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