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BERICHT
DSM-V: grosse Ambition, schwache Methodologie?
Die American Psychiatric Association (APA) hat den Entwurf für das neue Psychiatrie-Handbuch zur Diskussion gestellt
Das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», kurz DSM, ist neben der «International Classification of Diseases» (ICD) der WHO als massgebliches Klassifikationssystem psychiatrischer Krankheiten etabliert. Die erste Ausgabe brachte die American Psychiatric Association (APA) 1952 heraus, die seither erschienenen Neuauflagen sind auch ein Spiegel der jüngeren Psychiatriegeschichte. Seit Kurzem liegt nun der Entwurf für den DSM-V vor. Manche der geplanten Neuerungen haben in den USA heftige Diskussionen ausgelöst.
UWE BEISE
Noch vor wenigen Jahren verkündeten einige US-amerikanische Psychiater erwartungsfroh, die Diagnostik vieler psychischer Krankheiten könne angesichts rasanter Fortschritte in Molekularbiologie und Neurowissenschaften vielleicht bald auf ein breites biologisches Fundament gestellt werden. Erfüllt hat sich diese Erwartung nicht. Auch in der 5. Auflage des DSM wird von harten biologischen Diagnosekriterien kaum die Rede sein. Seit Anfang des Jahres kann der Entwurf im Internet eingesehen werden (www.dsm5.org). Mehr als zehn Jahre Arbeit einer Task Force stecken in dem Manual, zahlreiche Expertengruppen waren an der Ausarbeitung beteiligt, 25 Millionen Dollar soll das Projekt verschlungen haben. Lange Zeit drang wenig über die Tätigkeit der Arbeitsgruppen an die Öffentlichkeit, was bei einigen Psychiatern Misstrauen schürte und Kritiker auf den Plan rief. Professor Robert Spitzer,
gleichsam Vater des 1980 erschienenen DSM-III, monierte die vermeintlich mangelnde Transparenz und Kommunikation der APA. Die Gesprächsprotokolle und Details aus den einzelnen Arbeitsgruppen würden der Geheimhaltung unterliegen, auch ihm selbst sei Auskunft verweigert worden. Ferner wurde unterstellt, die angebliche Geheimniskrämerei diene dazu, den Einfluss der Industrie zu vertuschen. Die Professoren David J. Kupfer und Darrel A. Regier, Chairmen der Task Force, widersprachen energisch. Nie zuvor sei der Entwicklungsprozess so transparent gewesen, nie zuvor seien so viele internationale Fachleute beteiligt gewesen. Man habe aus gutem Grund Vertraulichkeit vereinbart, um zu verhindern, dass einzelne Vertreter ihr eigenes Handbuch schreiben und vorab zur Diskussion stellen. Im vergangenen Sommer eskalierte der Streit, vor allem wegen harscher Anwürfe der grossen alten Psychiater. Professor Allen Frances, Chairman der Task Force
des derzeitig gültigen DSM-IV, gab im Juni 2009 zum neuen Entwurf ein vernichtendes Urteil ab. In einem Beitrag für die «Psychiatric Times» nannte er ihn eine unglückliche Kombination von grossen Ambitionen und schwacher Methodologie. Tatsächlich hatten Kupfer und Regier dafür ungewollt die Vorlage geliefert, indem sie in ihrem 2002 erschienenen Buch «A Research Agenda for the DSM-V» einen Paradigmenwechsel ankündigten. Man müsse bei der Ausarbeitung des neuen Manuals «die Möglichkeit explorieren, fundamentale Änderungen im Sinne eines Neo-Kraepelinismus anzubringen». Genau dagegen wenden sich Psychiater wie Frances. Für sie ist die Zeit nicht reif für grosse Sprünge. Frances begründet seine konservative Haltung mit eigenen Fehlern bei der Erstellung des DSM-IV. «Wir glaubten, besonders vorsichtig und sorgsam vorgegangen zu sein, aber wir mussten die schmerzhafte Lektion lernen, dass wir drei falsche Epidemien ausgelöst haben: die der autistischen Krankheiten, der bipolaren Störung bei Kindern und ADHS.»
Streitpunkt: kategorial oder dimensional? Doch woran entzündet sich die Kritik? Als grundlegende Neuerung im DSM-V sollen verstärkt dimensionale Diagnosekriterien eingeführt werden. Diese sollen die bisherigen Krankheitskategorien zwar nicht ersetzen, wie teilweise gemutmasst, aber doch zunehmend ergänzen. Der bis anhin vorherrschende kategoriale Ansatz geht im Prinzip davon aus, dass sich psychische Störungen als Krankheitsentitäten erfassen und voneinander abgrenzen lassen. Dimensionale
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Krankheitsmodelle basieren dagegen auf psychometrisch ermittelten Daten, sie gehen davon aus, dass menschliches Verhalten und psychopathologische Phänomene wie Angst, Depressivität oder Hyperaktivität nicht in klar voneinander abgrenzbare Kategorien eingeteilt werden können, dass vielmehr die Übergänge fliessend, ohne eindeutig bestimmbare Grenzen verlaufen. Ein Beispiel: Hat ein Patient mindestens fünf von neun Symptomen einer Depression,
in die Fänge des medizinischen Systems. Auch Michael First, Professor an der Columbia University und Herausgeber des DSM-IV, warnt vor den Konsequenzen: «Alles, was man in das Buch (den DSM) hineinschreibt, jede kleinste Veränderung, hat sehr grosse Implikationen für den behandelnden Psychiater, für die Forschung, für das pharmazeutische Marketing, für die Gesetzgebung, für die Frage, wer als normal und wer als krank gilt.» First warnt vor einer
«Es gibt keine dramatischen Verbesserungen in der psychiatrischen Diagnostik, ehe wir nicht einen fundamentalen Sprung machen in unserem Verständnis, was eigentlich die Ursachen psychischer Krankheiten sind. Die unglaublichen Fortschritte der Neurowissenschaft und der Molekularbiologie lehren uns viel über die Gehirnfunktionen, aber sie sind noch nicht ausreichend für die klinische Diagnose im Alltag des Psychiaters. Der deutlichste und enttäuschendste Hinweis ist wohl darin zu sehen, dass nur ein einziger biologischer Test so weit ist, in den DSM-V einzugehen.»
Prof. Allen Frances, Chairman der Task Force des aktuellen DSM-IV
so kann die Diagnose gestellt werden, sind es nur vier, liegt nach heutigen Massstäben eben keine Depression vor. In Zukunft sollen die strengen Kriterien teilweise durch einfache Skalen ergänzt werden. Auf ihnen soll erfasst werden, wie stark ein bestimmtes Symptom ausgeprägt ist. Damit will man unter anderem der praktischen Erfahrung Rechnung tragen, dass viele psychische Krankheiten nicht isoliert auftreten, sondern dass oft Komorbiditäten vorliegen. Einige Psychiater haben aber Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des dimensionalen Ansatzes. «Bis wir nicht mehr wissen über die biologischen Grundlagen, sind solche Änderungen nicht hilfreich», meint etwa Frances. Stattdessen würde die Konfusion in Praxis und Forschung durch die geplanten Neuerungen vergrössert. Der dimensionale Ansatz führe dazu, so die Befürchtung, dass die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit weiter verschwimme. Mancher depressiv Verstimmte, der die bisherigen strengen Kriterien einer Depression nicht erfüllt, würde so durch die Hintertür doch noch zum Patienten gemacht und gerate damit
Stigmatisierung von immer mehr Menschen, «die ein Krankheitslabel verpasst bekommen und womöglich eine ungeeignete Therapie».
Problemfall Risikosyndrome Derlei Vorbehalte werden auch gegen die geplante Einführung von Risikosyndromen vorgebracht. Seit Längerem gibt es Bestrebungen, anderen Fachgebieten nachzueifern, wo die Diagnose und Therapie von Risikofaktoren etabliert sind. Risikosyndrome wurden in den letzten Jahren in der Psychiatrie etwa für Demenzen und schizophrene Psychosen in den Blick genommen. So ist im aktuellen Entwurf das «Psychosis Risk Syndrome» neu eingeführt. Unter diese Diagnose fallen Menschen, die in abgeschwächter Form Symptome zeigen, die für eine Psychose charakteristisch sind, wie etwa ausuferndes Misstrauen, Wahnvorstellungen oder desorganisierte Sprache. Damit werde die Chance eröffnet, frühzeitig therapeutisch eingreifen zu können, die Krankheitsmanifestation bestenfalls zu verhindern oder wenigstens die Prognose
zu verbessern, argumentieren die Befürworter. Studien an Teenagern haben aber gezeigt, dass selbst unter den Hochrisikopatienten innerhalb der nächsten zwei Jahre höchstens 30 Prozent manifest erkranken, die Zahl der falsch-positiven Diagnosen dürfte also erheblich sein. «Natürlich ist das Anliegen verständlich, Gefährdete so früh wie möglich zu erkennen und Schlimmeres abzuwenden. Aber es besteht die grosse Gefahr, dass viele ungewöhnliche, abweichende und auch kreative Kinder darunter fallen und dann den Rest des Lebens diese Etikettierung mit sich herumschleppen», gab Michael First zu bedenken. Wie schwer es ist, eine treffliche Vorhersage allein aus einer psychotischen Episode abzuleiten, hat vor wenigen Jahren eine niederländische Untersuchung bei rund 7000 Personen gezeigt: Nur 8 Prozent derjenigen, die einmal eine psychotische Erfahrung gemacht hatten, wiesen in einer Folgeuntersuchung noch Symptome auf. Die Autoren schlossen daraus, dass psychotische Erlebnisse 100-mal häufiger sind als die angenommene Inzidenz von Schizophrenien. Professor William T. Carpenter, Leiter der Psychotic Disorders Work Group, befürwortet dagegen die Einführung von Risikosyndromen als grosse Chance für die betroffenen Personen. Allerdings räumt auch er ein: «Natürlich besteht die Sorge, dass unnötig Menschen stigmatisiert und übertherapiert werden. Aber vergessen wir nicht, dass die Menschen bei uns Hilfe suchen.» Carpenter verweist darauf, dass die Diagnose eines «Psychosis Risk Syndrome» nur gestellt werden soll, wenn Menschen unter ihren Beschwerden leiden. Allen Frances rechnet hingegen damit, dass die Einführung des neuen Manuals in der vorliegenden Form Millionen neuer Patienten erzeugen wird, darunter auch viele mit dem Risikosyndrom.
«Binge eating» – als Essstörung etabliert Umstritten ist auch die Aufnahme neuer Süchte oder Abhängigkeiten, die sich nicht auf Substanzen beziehen, sondern das Verhalten betreffen, etwa die Sex-
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sucht (Hypersexualität). Für die Dia- bar, wütend oder traurig. Die Einfüh- frühen Kindheit beginnt. Sie betrifft
gnose massgeblich ist, dass ein grosser rung dieser Diagnose wird anscheinend einerseits die soziale Interaktion und
Teil der Zeit durch sexuelle Fantasien be- weithin begrüsst. Bei einigen dieser Kin- Kommunikation, aber auch repetitive
herrscht wird oder von der Planung von der wurde bisher eine bipolare Störung Verhaltensweisen und fixierte Interes-
sexuellem Verhalten. Kritiker warnen, diagnostiziert (und entsprechend be- sen und Verhaltensweisen.
man solle sich davor hüten, soziale Pro- handelt), auch wenn keine manischen
bleme zu medikalisieren. Das betrifft Phasen auftraten.
Geschlechtsidentitätsstörungen –
auch die Kaufsucht oder die Internet-
eine Krankheit?
sucht, die aber vermutlich nicht in das Asperger-Syndrom verschwindet Während einst lange Debatten um die
Manual aufgenommen werden.
Die verschiedenen autistischen Erkran- Homosexualität als Krankheitsdiagnose
Dagegen wird das «Binge eating», bis- kungen («autism spectrum disorders») geführt wurden, verschaffen sich heute
her nur im Anhang des aktuellen Dia- sollen im neuen Manual in einer Kate- Transsexuelle mit Protesten und Petitio-
gnosemanuals aufgeführt, Einzug in den gorie zusammengefasst werden.
nen Gehör. Sie fordern die komplette
DSM-V halten. Voraussetzung für
Streichung der «Gender Identity
die Diagnose ist, dass der Betrof-
Disorders» (GID) aus DSM und
fene mindestens eine Fressattacke
ICD. Transsexualität sei eine Norm-
in der Woche über drei Monate er-
variante menschlicher Sexualität
leidet. «Es handelt sich hierbei
und keine Krankheit. «Nicht die
nicht um eine Überfressenheit,
Trans-Menschen sind krank, son-
wie wir sie alle einmal erleben»,
dern die Situation, in der sie le-
meint Timothy Walsh, Psychiat-
ben», protestierten sie an einem
rieprofessor am New York State
internationalen Aktionstag im
Psychiatric Institute, der an die-
vergangenen Herbst. Die Dia-
sem Teil des Manuals mitgearbei-
gnose GID war erst im DSM-IV
tet hat. «Zum Binge eating gehö-
eingeführt worden und hatte
ren auch Kontrollverlust, tiefe
den bis dahin geführten Begriff
Schuldgefühle und grosses Un-
«Transsexualism» ersetzt. Wie die
glück.» Allen Frances geht auch
Endfassung des DSM-V in dieser
hier in die Opposition. Er hält
Frage aussehen wird, ist unge-
diese Essstörung nicht für eine
wiss. Es ist aber davon auszuge-
Krankheit. In einer Diskussion im
hen, dass «Gender Identity Disor-
US-Sender PBS (vom 10. Februar
ders» begrifflich in dem Manual
dieses Jahres) meinte er: «Nach
nicht mehr auftauchen werden.
niedrigen Schätzungen dürften
Es wird nun von «Gender Incon-
6 Prozent der Bevölkerung die
gruence» gesprochen.
Kriterien für Binge eating erfüllen.
Noch bis zum 20. April steht der
Erst einmal offiziell gemacht,
Entwurf des DSM-V zur Diskus-
wird die Diagnose immer populä-
sion, anschliessend sollen Feld-
rer werden.»
versuche stattfinden, in denen
Kinder mit enormen Stimmungsschwankungen, die sich durch wiederholte, heftige Temperaments-
Abbildung: Der DSM entscheidet auch über das, was für krank und gesund gehalten wird. Transsexuelle haben dazu ihre eigene Meinung.
Zuverlässigkeit, Anwendbarkeit und klinischer Nutzen des Manuals auf den Prüfstand kommen.
ausbrüche ausdrücken, werden
Im Mai 2013 wird dann die End-
künftig unter der Diagnose «temper dys- Darin gehen dann die derzeitigen Dia- fassung vorliegen – ein Jahr vor dem ge-
regulation with dysphoria (TDD) klassi- gnosen Autismus, Asperger-Syndrom, planten Erscheinen des ICD-11.
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fiziert. Die Ausbrüche müssen mindes- desintegrative Störung des Kindesalters
tens dreimal in der Woche auftreten und und nicht näher spezifizierte tiefgrei-
Uwe Beise
in keinem angemessenen Verhältnis zur auslösenden Situation stehen. Die be-
fende Entwicklungsstörungen («pervasive developmental disorder») auf. Nach
Interessenkonflikte: keine
troffenen Kinder (die Erstmanifestation gegenwärtiger Auffassung handelt es
muss zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr liegen) reagieren auf geringste
sich bei diesen Störungen weniger um abgrenzbare Erkrankungen, sondern
Eine Liste mit ausgewählten Literaturquellen ist im Internet einsehbar.
Anlässe mit extremen verbalen und kör- eher um ein Kontinuum von sehr leich-
perlichen Aggressionen. Zwischen den ten bis schweren Verlaufsformen einer
Ausbrüchen sind die Kinder leicht reiz- Entwicklungsstörung, die bereits in der
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