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BERICHT
Multiple Sklerose: Orale Medikamente sind wirksam
Cladribin und Fingolimod könnten sich als Alternative zu Beta-Interferonen erweisen
Mit Cladribin und Fingolimod haben die ersten oralen Wirkstoffe unter Beweis gestellt, dass sie das Fortschreiten einer schubförmig verlaufenden multiplen Sklerose verlangsamen können. Noch ist allerdings eine wichtige Frage offen: Wie sicher sind die immunmodulatorisch wirksamen Medikamente auf lange Sicht?
UWE BEISE
Seit vielen Jahren versucht man, die multiple Sklerose durch immunmodulatorische Substanzen, namentlich Beta-Interferone und Glatirameracetat, in ihrem Verlauf umzustimmen. Auf diese Weise gelingt es, die Häufigkeit der Schübe zu reduzieren und das Auftreten oder Fortschreiten von Behinderungen hinauszuzögern, auch wenn sich der Gang der Erkrankung insgesamt nicht grundlegend ändern lässt. Eine Unannehmlichkeit besteht darin, dass die Medikamente regelmässig injiziert werden müssen; vermutlich ist dies ein Grund dafür, dass die Therapietreue mancher MS-Kranker nicht immer so ist, wie es die behandelnden Ärzte sich wünschten. Manch ein MS-Patient würde es wahrscheinlich vorziehen, eine Pille schlucken und auf die Injektionen verzichten zu können. Tatsächlich gibt es seit Langem seitens der Industrie Bemühungen in diese Richtung, jetzt scheint die Zeit der Reifeprüfung gekommen zu sein: Mit Fingolimod und Cladribin haben zwei orale Medikamente ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt. Anfang des Jahres sind drei klinische Studien, deren Ergebnisse teilweise schon bekannt waren, im «New England Journal of Medicine» publiziert worden.
Fingolimod: wirksamer als Plazebo und Interferon beta Da ist zum einen Fingolimod. Hierbei handelt es sich um ein synthetisches Analogon von Myriocin, einem Bestandteil von Isaria sinclairii, einem Pilz, der in der traditionellen chinesischen Medizin eingesetzt wird. Pharmakologisch gesehen fungiert Fingolimod als Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator. Die Substanz verhindert, dass Antigenaktivierte Lymphozyten aus dem Lymphknoten auswandern. Das ist gut für den MS-Kranken: Solange die potenziell autoaggressiven weissen Blutzellen festsitzen, werden sie daran gehindert, sich auf die Reise ins Zentralnervensystem zu machen und dort ihre zerstörerische Wirkung an den Myelinscheiden zu entfalten. Grundlagenforscher haben zudem Hinweise sammeln können, nach denen Fingolimod auch neuroprotektive und reparative Prozesse im ZNS unterstützt. Eine offene klinische Studie hatte bereits gezeigt, dass die antiinflammatorische Wirkung bis zu 5 Jahre anhält. Jetzt ist dieser positive Befund in einer prospektiven und plazebokontrollierten Untersuchung, der FREEDOMS-Studie, bestätigt worden. In die internationale Multizenterstudie brachte auch die Neurologische Universitätsklinik in Basel
Patienten ein; der Leiter der Klinik, Ludwig Kappos, ist Erstautor der im «New England Journal of Medicine» publizierten Studie. Die Zentren hatten 1272 Patienten mit schubförmiger MS rekrutiert. Die Studienteilnehmer erhielten entweder Plazebo oder aber Fingolimod in der Dosierung von 0,5 mg oder 1,25 mg pro Tag. Die jetzt publizierten Daten zeigen, dass Fingolimod die jährliche Rezidivrate in der niedrigeren Dosierung um (relativ) 54 Prozent und in der höheren Dosierung um 60 Prozent senkt. Fingolimod verlangsamte dabei das Fortschreiten der Behinderung, im MRI traten weniger neue Hirnläsionen auf, und die vorhandenen vergrösserten sich nicht so schnell. Doch damit nicht genug: Fingolimod erwies sich im direkten Vergleich mit einer Standardtherapie mit Interferon-beta 1a sogar als überlegen, wie eine zweite Studie unter dem Namen TRANSFORMS ergab. An ihr nahmen rund 1300 Patienten teil, die zuvor mindestens einen Schub erlitten hatten. Sie nahmen 1- oder 2-mal täglich Fingolimod ein (1,25 oder 0,5 mg) oder aber bekamen
Akronyme
CLARITY: Cladribine Tablets Treating Multiple Sclerosis Orally Study
FREEDOMS: FTY720 Research Evaluating Effects of Daily Oral Therapy in Multiple Sclerosis
TRANSFORMS: FTY720 Oral in Relapsing–Remitting Multiple Sclerosis
222 ARS MEDICI 6 ■ 2010
BERICHT
einmal wöchentlich 30 ug Interferonbeta 1a intramuskulär injiziert. Nach 12 Behandlungsmonaten zeigten sich Vorteile unter Fingolimod sowohl im Behinderungsgrad als auch im MRI.
Cladribin: Schübe um mehr als 50 Prozent gesenkt Bei der zweiten Substanz handelt es sich um Cladribin. Das Medikament ist nicht neu, es ist in einigen Ländern seit vielen Jahren für die Therapie der HaarzellLeukämie zugelassen. Cladribin zerstört selektiv Leukozyten, ein Effekt, der sich offenbar auch bei der Unterdrückung der Entzündungsreaktion bei MS-Kranken nutzen lässt, wie jetzt die Ergebnisse der CLARITY-Studie demonstrieren. 1326 Patienten waren weltweit in 155 Zentren rekrutiert worden. Die Studienteilnehmer wurden mit Cladribin in der Dosis von 3,5 mg/kg oder 5,25 mg/ kg oder mit Plazebo behandelt. Anders als bei Fingolimod ist die Behandlung dabei auf 2 bis 4 kurze Zyklen pro Jahr beschränkt. In der Wirksamkeit steht Cladribin der Konkurrenzsubstanz aber offenbar nicht nach: Wie in der Arbeit von Gavin Giovannoni von der QueenMary-Universität in London und seinen Kollegen nachzulesen, gelang es, die Schubfrequenz beziehungsweise die jährliche Rezidivrate gegenüber Plazebo um mehr als die Hälfte zu senken – um 57,6 Prozent in der niedrigen und um 54,5 Prozent in der höheren Dosierung. Nach 96 Wochen waren in beiden Cladribinarmen 79 Prozent der Patienten
ohne einen Schub geblieben, 60,9 Prozent waren es im Plazeboarm. Anhand der Kurtzke-Skala (EDSS) liess sich zeigen, dass die Patienten der Verumgruppen weniger stark behindert waren als jene unter Plazebo, zudem zeigten MRIUntersuchungen eine Rückbildung der Hirnläsionen an.
An der Sicherheit wird sich die Zukunft entscheiden Studienautoren wie auch der Editorialverfasser Professor William Carroll vom Sir Charles Gairdner Hospital in Perth/ Australien haben die Daten positiv aufgenommen; oral wirksame Medikamente würden seit Langem herbeigesehnt, und die geprüften Substanzen seien den derzeitigen nicht oralen Therapien zumindest gleichwertig. Dennoch ist der Siegeszug der neuen Medikamente nicht ausgemacht. Beide Substanzen werden nach ihrer Zulassung unter sehr genauer Beobachtung stehen. Schliesslich greifen sie erheblich in das Immunsystem ein, den Vorzügen stehen damit bis anhin noch schlecht einschätzbare potenzielle Langzeitrisiken gegenüber. Carroll erinnert an Natalizumab (Tysabri®), das nach dem Auftreten mehrerer Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie in den USA vom Markt genommen werden musste. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA ist also gewarnt und reagiert nun offenbar besonders vorsichtig. Im November des vergangenen Jahres wies sie einen Zulassungsantrag für Cladribin zurück, den die Firma Merck Serono mit den Daten der nun publizierten CLARITY-Studie eingebracht hatte. Wie gut verträglich stellen sich die Medikamente bis jetzt dar? Angesichts des Wirkmechanismus überrascht es nicht, dass, etwa bei Cladribin, eine Lymphozytopenie bei 21,6 Prozent in der niedrigen und bei 31,5 Prozent in der hohen Dosierung auftrat. Die Blutbildveränderung blieb während des Untersuchungszeitraums zumeist ohne Folgen, aber nicht immer: Unter der niedrigen Dosierung erkrankten 8 Patienten und unter der höheren Dosierung 12 Patienten an einem Herpes zoster, in der Vergleichsgruppe wurde kein Fall registriert.
Ähnlich stellt sich die Situation bei Fingolimod dar. Hier kam es in der hohen Dosierung in 5,5 Prozent der Patienten zu Herpesinfektionen, 3 Patienten erkrankten schwer, 2 von ihnen verstarben. Die im Blut zirkulierenden Lymphozyten können unter der Therapie dosisabhängig um bis zu 70 Prozent zurückgehen. Etwas häufiger als unter Plazebo traten leichter Blutdruckanstieg, AV-Blöcke II. und III. Grades, Bradykardien und ein Makulaödem auf, die Leberenzyme können (reversibel) ansteigen. Die Entstehung von Tumoren ist ein potenzielles Risiko bei Einnahme immunmodulatorischer Medikamente. Basazellkarzinom, Melanom und Mammakarzinom traten während der Fingolimodtherapie nur vereinzelt auf, aber etwas häufiger als unter Interferon-beta 1a. Solche Nebenwirkungen beobachten natürlich nicht nur die Behörden aufmerksam, auch die Patienten dürften auf mögliche Risiken sensibel reagieren, zumal die Medikamente keine akuten Beschwerden lindern. In den Studien war die Abbruchrate gering, aber doppelt so hoch wie unter Plazebo: Unter der hohen Dosis von Cladribin beendeten 7,9 Prozent die Studie nicht, unter Fingolimod brachen je nach Dosierung 10 bis 14 Prozent die Therapie ab. ■
Uwe Beise
Literatur: William M. Carroll: Oral therapy for multiple sclerosis — sea change or incremental Step? N Eng J Med 2010; 362: 456—458. Gavin Giovannoni, et al.: A placebo-conrolled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 416—426. Ludwig Kappos, et a.: A Placebo-Controlled Trial of Oral Fingolimod in Relapsing Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 387—401. Jeffrey A. Cohen, et al.: Oral fingolimod or intramuscular interferon for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 402—415.
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