Transkript
FORTBILDUNG
Ist Übergewicht vererbt?
Es ist allgemein anerkannt, dass die Erbanlagen eine
wichtige Rolle bei der Entstehung von Übergewicht
und Adipositas spielen. In diesem Beitrag sollen die
wichtigsten Erkenntnisse dargestellt werden.
MARTIN HERGERSBERG UND ANDREAS HUBER
Gene und Umwelt bedingen das Übergewicht Fast alle Eigenschaften entstehen durch ein Zusammenwirken von Erbinformation (Gene) und Umweltfaktoren. Die Anteile von Vererbung und Umwelt sind bei verschiedenen Eigenschaften unterschiedlich gross. Durch Untersuchungen eineiiger Zwillinge wurde der Einfluss der Vererbung auf Übergewicht und Adipositas auf etwa 70 Prozent geschätzt (1) (Abbildung 1). Wichtige Messgrössen des Übergewichts sind Werte wie der Body-Mass-Index (BMI) und der Hüftumfang. Der BMI ist das Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körperlänge. Ein BMI grösser als 25 kg/m2 gilt als Übergewicht, ein BMI grösser als 30 kg/m2 als Adipositas.
Monogen vererbtes Übergewicht In einigen Familien werden regelmässig auftretende Eigenschaften durch ererbte Veränderungen (Mutationen) in einem einzigen Gen verursacht (Abbildung 2–4, Einzelgenmutation, monogene Vererbung). Jeder Mensch hat von jedem Gen zwei Kopien, eine mütterliche und eine väterliche. Wenn eine Mutation in einer der zwei Genkopien eine Eigenschaft wie Übergewicht verursacht, tritt Übergewicht in mehreren Generationen auf (Abbildung 2, dominante Vererbung). Wenn beide Kopien eines Gens bei Adipositas verändert sind, haben normalgewichtige Eltern übergewichtige Kinder (Abbildung 3, rezessive Vererbung). Oft manifestieren sich seltene rezessiv vererbte Eigenschaften in Familien mit Konsanguinität.
Polygen vererbte Prädisposition für Übergewicht und Umweltfaktoren Familien, in denen Übergewicht und Adipositas monogen vererbt werden, sind selten. Bis 2005 wurden bei 176 fettleibigen
Menschen ursächliche Mutationen in 1 von 11 verschiedenen Genen gefunden (4). Ererbte Unterschiede zwischen allen Menschen sind häufig, obwohl das Erbmaterial sich nur etwa in 0,1 Prozent von Individuum zu Individuum unterscheidet, das heisst 1 von 1000 Basenpaaren in der DNA-Sequenz ist verschieden. Die meisten dieser Unterschiede in der DNASequenz haben keinen oder nur einen geringen biologischmedizinischen Einfluss: Es sind Polymorphismen, wenn es sich um Unterschiede an der Position eines Basenpaares handelt, von dem zwei verschiedene Allele vererbt werden (SingleNucleotide-Polymorphismen, abgekürzt SNP). Polymorphismen vieler verschiedener Gene sind an der ererbten Disposition für eine komplexe (multifaktorielle) Eigenschaft oder Krankheit beteiligt. Bei der Einwirkung entsprechender Umweltfaktoren wird die Disposition dann manifest.
Merksätze
■ Übergewicht und Adipositas sind Folge einer dysregulierten Nahrungsaufnahme, wobei etwa 70 Prozent erblich bedingt sein können.
■ Ererbte zentralnervöse Mechanismen beeinflussen einen grossen Teil des Essverhaltens.
■ Varianten (Allele) hunderter verschiedener Erbanlagen (Gene) beeinflussen Körpergewicht und Fettverteilung. Die Bedeutung der (in Assoziationsstudien und Tiermodellen gefundenen) Kandidatengene für die Praxis ist noch nicht abzuschätzen.
■ Für ein Individuum kann nicht angegeben werden, welche Anteile des Übergewichts auf Vererbung und welche auf Umwelteinflüssen beruhen, da auch ererbte Eigenschaften von Umweltfaktoren beeinflussbar sind.
■ Ein besseres physiologisches Verständnis der Gewichtsregulation kann die Möglichkeiten der Einflussnahme verbessern, zum Beispiel durch die Entwicklung neuer Medikamente.
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IST ÜBERGEWICHT VERERBT?
Gene, Umwelt und Gesundheit
Umwelt («Nurture»)
Gene («Nature»)
Vergiftung
Adipositas (polygen)
Unfall
Pankreatitis
Infektionskrankheiten
Thrombose Alzheimer Crohn
Tumorerkrankungen
Bluthochdruck
Diabetes
erworben
komplex/polygen
Adipositas-Leptin (rez.) Adipositas-MC4R (dom.)
Phenylketonurie (rez.)
ABO-Blutgruppen monogen
Mutationen
Polymorphismen
Abbildung 1: Menschliche Eigenschaften und Krankheiten entstehen durch Zusammenwirken von ererbter Veranlagung (Disposition) und Umwelteinflüssen.
I:1 I:2
II:1
II:2
II:3 II:4
II:5 II:6
II:7
II:8
II:9 II:10
II:11
III:1 III:2 III:3
III:4
III:5 III:6
III:7 III:8
Abbildung 2: Beispiel einer Familie mit autosomal-dominant vererbtem Übergewicht in mehreren Generationen durch eine Mutation im Gen für den Rezeptor 4 von Alpha-MSH. Von Übergewicht betroffene Personen sind durch schwarze Stammbaumsymbole gekennzeichnet. (Sina et al.: Am J Hum Genet 65: 1501–1507, 1999 [2], mit Erlaubnis von Elsevier, Amsterdam).
Alter kg cm BMI Fettanteil (%)
409 47 80 160 31
410 411 51 8 86 180 26,5 19,5
412 413 414 12 13 16 37 159 87 151 149 171 16 71,5 30
68
415 416 417 17 19 19 102 166 133 173 159 159 34 65,5 52,5 49 66
418 419 22 24 76 67,8 166 160 27,5 26,5 35,5 42
Abbildung 3: Beispiel einer Familie mit autosomal-rezessiv vererbtem Übergewicht in einer Generation durch eine Mutation im Gen für den Leptinrezeptor. Abkürzungen: kg (Gewicht), cm (Körpergrösse), Fettanteil (Fettanteil des Körpergewichts in Prozent). Die stark adipösen Personen haben einen extrem hohen BMI. (Clément et al.: Nature 392: 398—401, 1998 [3], mit Erlaubnis von Macmillan Publishers, London).
Abbildung 4: Unterschiedliches Zusammenwirken von Vererbung und Umwelt bei der Entstehung von Übergewicht. Die schematische Darstellung zeigt, dass die Glockenkurve des BMI in der Bevölkerung heterogen zusammengesetzt ist (Hofbauer: Schweiz Med Forum: 937—944, 2002 [www.medicalforum.ch] [5], mit freundlicher Erlaubnis des Autors und des EMH-Verlags).
Fehlernährung und Bewegungsmangel sind diejenigen Umweltfaktoren, die sich am stärksten auf das Übergewicht auswirken, wobei das Ausmass des Übergewichts durch die ererbte Disposition mitbestimmt wird. Deswegen entsteht bei verschiedenen Menschen unter den gleichen Ernährungsbedingungen Übergewicht in unterschiedlichem Ausmass. Der ererbte Anteil wird als polygen bezeichnet, weil er von verschiedenen Genen unterschiedlich stark beeinflusst werden kann (Abbildung 1 und 4). Komplexe Eigenschaften sind quantitative Werte wie BMI oder Hüftumfang, aber auch Verhaltenseigenschaften wie Essgeschwindigkeit, Energieaufnahme mit der Nahrung oder Ruheumsatz. Die Werte dieser Eigenschaften sind in einer Bevölkerung meist in einer Glockenkurve verteilt. In dieser Glockenkurve überlagern sich oft mehrere kleinere Glockenkurven von Gruppen mit unterschiedlichen Kombinationen von Erbanlagen (Abbildung 4). Mutationen eines Gens können einerseits seltene Formen von monogenem Übergewicht verursachen, andererseits können SNP-Allele in diesem Gen an der genetischen Disposition häufiger Formen des Übergewichts mitwirken. Ein Beispiel für die unterschiedliche Wirkung verschiedener Allele im selben Gen ist das Gen für den Rezeptor 4 des alpha-Melanozyten-stimulierenden Hormons (Alpha-MSH, MC4R, Abbildung 2 und s. unten). Eine Methode zur Identifikation prädisponierender Allele für Adipositas sind Assoziationsstudien. Die Allele von SNPs einer Gruppe von übergewichtigen Personen werden mit den Allelen derselben SNPs einer Kontrollgruppe mit normaler Gewichtsverteilung verglichen. Die Analyse von Polymorphismen ist seit dem Bekanntwerden der gesamten Sequenz des menschlichen Genoms weitgehend automatisiert worden. Es wurde in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Assoziationsstudien durchgeführt. Dabei wurde der Genotyp von bis zu einer halben Million SNPs im Erbmaterial von oft tausenden Personen bestimmt. In diesen Assoziationsstudien wurden viele verschiedene SNPs gefunden, die statistisch mehr oder weniger signifikant mit Übergewicht und anderen Adipositasparametern assoziiert sind. Aber diese Polymorphismen erklären trotz einiger eindrucksvoller Resultate bis jetzt nicht annähernd die Vererbung komplexer Eigenschaften wie beispielsweise der Adipositas. Eine zweite Strategie zur Identifikation von Genen für die Vererbung von Adipositas sind natürlich oder experimentell entstandene Mutationen in Tiermodellen. Auch auf diesem Weg wurden etliche Gene gefunden, die zu Übergewicht beitragen können. Die Entschlüsselung der Gene für Leptin und für seinen Rezeptor ist ein Ergebnis von Untersuchungen an Tiermodellen. Das «Fat and Obesity»-(FTO-)Gen wurde in genomweiten Assoziationsstudien identifiziert. Die wichtige Rolle des Gens für MC4R wurde in Familien mit monogen vererbter Adipositas, in verschiedenen Tiermodellen und auch in Assoziationsstudien identifiziert. Die Bedeutung der vier Gene für Leptin und seinen Rezeptor, für FTO und für MC4R wurde mit genetischen, physiologischen und psychologischen Untersuchungen beim Menschen bestätigt.
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FORTBILDUNG
Abbildung 5: Zentralnervöse Regulation der Nahrungsaufnahme: Leptin als Signal der Fettmenge im Körper (Schwartz et al.: Nature 404: 661—671, 2000 [6], mit Erlaubnis von Macmillan Publishers, London)
Monogene Vererbung bei Mutationen in Leptingenen Zahlreiche Proteine sind an der Regulation der Nahrungsaufnahme beteiligt. Eine zentrale Funktion hat das Protein Leptin als Anzeiger der Fettmenge im Körper (Abbildung 5). Das Gen für Leptin (von griechisch leptos = schlank) war eines der ersten Gene, in dem bei ererbter Adipositas bei Mauslinien und beim Menschen Mutationen gefunden wurden. Leptin ist ein Hormon des Fettgewebes, das im Hypothalamus die Menge des Fettgewebes signalisiert und dadurch das Essverhalten mitreguliert. Bei Mutationen im Leptingen und im Gen für den Leptinrezeptor im Gehirn kommt es zu Übergewicht durch übermässiges Essen, was den Regulationsmechanismus bestätigt (Abbildung 3 und 5). Bei Übergewicht, das durch Leptinmangel entsteht, hat die Gabe von Leptin eine ausgeprägte therapeutische Wirkung, wobei das Essverhalten direkt beeinflusst wird (Abbildung 6). Die Mutationen im Leptingen und dem Gen seines Rezeptors sind Beispiele der oben beschriebenen seltenen monogenen Vererbung von Adipositas. Bisher wurden keine Hinweise auf eine Funktion häufiger Allele des Leptingens oder des Leptin-Rezeptor-Gens als prädisponierende Allele in übergewichtigen Populationen gefunden. Mit bildgebenden Verfahren wurde gezeigt, dass Leptin die Aktivität mehrerer Gehirnregionen beeinflusst, die bei der Appetit- und Sättigungsregulation wichtig sind (7).
Gewicht = 40 kg, Alter 3 Jahre
Gewicht = 29 kg, Alter 6 Jahre
Abbildung 6: Therapeutische Verwendung von Leptin bei Übergewicht, das durch Mutationen im Leptingen verursacht wird (O’Rahilly und Farooqi: Phil Trans R Soc B 361: 1095—1105, 2006 [8], mit freundlicher Erlaubnis des Autors und der Royal Society London).
Vererbung bei Mutationen und Polymorphismen in den Genen für Melanocortine (POMC) und für den Rezeptor MC4R Bei etwa 2 bis 5 Prozent der Personen mit extremem Übergewicht sind Mutationen im MC4R-Gen die Ursache, wobei auch
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FORTBILDUNG
hier die Gewichtszunahme durch Hyperphagie entsteht (4) (Abbildung 2). Dieser Zusammenhang leuchtet ein, weil Leptin im Hypothalamus Neuronen zur Expression des Peptidhormons Alpha-MSH anregt. Über den Melanocortinrezeptor reduziert Alpha-MSH den Appetit. Auch im Gen für Melanocortine (Pro-Opio-Melanocortin, POMC) wurden verschiedene Mutationen in Familien mit monogen vererbter Adipositas und Hyperphagie beschrieben. Transgene Mäuse mit mutierten POMC-Genen oder mutierten MC4R-Genen zeigen ebenfalls Hyperphagie und Adipositas, insbesondere bei fettreicher Ernährung. Durch Assoziationsstudien wurde gezeigt, dass SNPs im MC4R-Gen eine Rolle spielen bei der polygenen Prädisposition für Übergewicht. Ein SNP in der Nähe des MC4R-Gens hat die beiden Allele Thymin (T, 75%) oder Cytosin (C, 25%). Die Untersuchung an fast 6000 Frauen zeigte, dass Homozygotie oder Heterozygotie für das C-Allel dieses Polymorphismus mit einem höheren BMI, einer stärkeren Zunahme des BMI während des Lebens und mit einer höheren täglichen Nahrungsmenge einhergeht (9).
Das Fat-and-Obesity-assoziierte Gen (FTO) bei polygener Vererbung von Übergewicht Vor zwei Jahren wurde das FTO-Gen bei einer Assoziationsstudie an 39 000 Personen als Dispositionsgen für Adipositas entdeckt. Ein SNP in diesem Gen hat die Allele Adenin (A, 45% bei Europäern) und T (55% bei Europäern). Homozygotie für das A-Allel dieses Polymorphismus resultiert durchschnittlich in zusätzlichen 3 Kilogramm Gewicht im Vergleich mit Homozygotie für das T-Allel (10). Kinder, die heterozygot oder homozygot sind für das A-Allel, nehmen bei einer Testmahlzeit durchschnittlich 16 Prozent mehr Energieäquivalente zu sich als Kinder, die homozygot sind für das T-Allel (11). Das FTOGen ist ebenfalls in Neuronen des Hypothalamus aktiv. Mäuse mit mutiertem FTO-Gen sind bei energiereicher Nahrung vor Adipositas geschützt (12).
Tageszeitlich exprimierte Gene im Fettgewebe: Adipositas-Suszeptibilitäts-Gene? Etwa 5 bis 10 Prozent aller Gene und etwa 25 Prozent aller im Fettgewebe in Protein übersetzten Gene sind während unterschiedlicher Tageszeiten verschieden stark aktiv. Im 24-Stunden-Rhythmus werden unterschiedliche Mengen messenger RNA (mRNA) und Protein dieser Gene während unterschiedlicher Zeiten des Tages gebildet. Nocturnin ist ein Gen, das unter anderem in Hepatozyten abends etwa 100-fach stärker exprimiert ist als zu den übrigen Tageszeiten. Mäuse mit einem genetisch inaktivierten Nocturningen sind bei energiereicher Nahrung vor Adipositas geschützt (13). In normalgewichtigen Personen steigt der Leptinspiegel im Blut nachts an. Es ist deshalb darüber spekuliert worden, dass Störungen in den täglichen Schwankungen von Genaktivitäten eine Rolle bei der Entstehung von Übergewicht spielen. Es gibt bis jetzt noch keine Hinweise, dass Allele des Nocturningens beim Menschen Prädispositionsallele für Adipositas sein könnten.
Ausblick Obwohl viele Daten zur Vererbung von Adipositas und Übergewicht vorliegen, ist es nicht möglich, ein individuelles Risiko für die Entwicklung von Übergewicht anzugeben. Die oben beschriebenen Gene erklären die Vererbung von Adipositas entweder nur bei einer sehr kleinen Zahl von Personen (monogen vererbte Adipositas) oder nur einen kleinen Anteil der polygen vererbten Adipositas. Statistisch erklärt der kombinierte Effekt der oben beschriebenen SNPs im MC4R-Gen und im FTO-Gen nur etwa 2 Prozent der BMI-Unterschiede bei Erwachsenen (14). Die Wahrscheinlichkeit, mithilfe von SNPAssoziationsstudien die Vererbung komplexer Eigenschaften aufzuklären, wird zurzeit intensiv diskutiert und zunehmend skeptisch beurteilt (z.B. [15]). Die relative Erfolglosigkeit der meisten Assoziationsstudien bei der Erklärung der polygenen Vererbung komplexer Merkmale und Krankheiten ist ein Hinweis darauf, dass der Einfluss des Genotyps auf den Phänotyp erheblich komplizierter ist als angenommen. Die Sequenz des gesamten menschlichen Genoms war die Grundlage zur Entwicklung von Methoden, mit denen die Expression aller Gene des Genoms in bestimmten Zelltypen und Geweben untersucht werden kann. Eine von vielen Erkenntnissen dieser Transkriptomanalysen ist, dass ein grosser Teil des Genoms in RNA übersetzt wird, die nicht als Vorlage für eine Proteinsynthese dient. Vermutlich haben viele dieser nicht kodierenden RNA (ncRNA) regulatorische Aufgaben. Es wird spekuliert, dass SNPs die Funktion regulatorischer ncRNA ändern (16). Eine Folge dieser Forschungen ist die Veränderung des Genbegriffs: Vor genau 100 Jahren vom Dänen W. Johannsen 1909 geprägt, hat das Wort Gen im Lauf der Zeit unterschiedliche Bedeutungen erlangt. Bei seiner Prägung aus dem griechischen Wort genos (Geschlecht) war es ein abstrakter Begriff für die Erbanlagen, die den Mendel-Regeln folgten und deren physikalische Natur unbekannt war. Sie wurden auf den Chromosomen vermutet. Seit der Entschlüsselung der DNA-Struktur wurde ein Abschnitt der DNA als Gen bezeichnet, der die Sequenzinformation für ein Protein enthält. In Eukaryonten wurde seit der Entdeckung der Exon-Intron-Struktur in den Siebzigerjahren ein Abschnitt der DNA als Gen bezeichnet, der als eine mRNA transkribiert wurde. Der aktuelle Genbegriff umfasst ausser den transkribierten (mRNA) und translatierten DNA-Abschnitten auch die regulatorischen DNA-Sequenzen. Zu diesen gehören auch diejenigen Abschnitte, die für regulatorische ncRNA kodieren. Dieser komplizierte Genbegriff reflektiert die überraschend kleine Anzahl von Genen im Genom komplexer Organismen. Es ist denkbar, dass die Vererbung komplexer Eigenschaften oft auf Veränderungen in den erwähnten regulierenden Netzwerken beruht. Eine Perspektive zum besseren Verständnis der polygenen Vererbung komplexer Eigenschaften entsteht durch die Entwicklung von Methoden, die die Entschlüsselung des gesamten Genoms eines Menschen für einige tausend oder sogar nur einige hundert Franken erlauben. Diese Methoden ermöglichen es, auch seltene genetische Varianten zu entdecken, die zur polygenen Vererbung beitragen (17).
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IST ÜBERGEWICHT VERERBT?
Wegen der zurzeit wenig verstandenen Beziehung zwischen SNP-Genotyp und Phänotyp ist kommerziellen Angeboten für die Bestimmung des vererbten Erkrankungsrisikos mit grosser Vorsicht zu begegnen. Humangenetische Fachvereinigungen, darunter die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG/SSGM) und die Expertenkommission des BAG für genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMEK/CEAGH), haben kürzlich auf diese Problematik hingewiesen (18, 19). Die Aufklärung der an der Vererbung der Adipositas beteiligten Gene und Mutationen hat jedoch erheblich zum derzeitigen Verständnis der Adipositas als einer Erkrankungsprädisposition des zentralen Nervensytems beigetragen. Diese Resultate sollten einerseits dazu führen, die überwiegende moralische Beurteilung von Adipositas zu mildern (20) («A war on obesity, not the obese» [21]). Andererseits erhofft man sich durch die Aufklärung der Entstehung von Adipositas verbesserte Strategien einer möglichen pharmazeutischen Intervention. Diese würden im Prinzip in der Anregung der appetithemmenden Mechanismen der Leptin-Melanocortin-Achse sowie in der Hemmung der appetitanregenden Hormone wie Ghrelin, das vom leeren Magen ausgeschüttet wird, bestehen. Allerdings haben sich Hoffnungen auf die therapeutische Verwendung von Leptin als dem Dreh- und Angelpunkt der Gewichtsregulation ausser bei den beschriebenen sehr seltenen Fällen bisher nicht erfüllt (22). ■
Korrespondenzadresse: Dr. rer. nat. Martin Hergersberg Zentrum für Labormedizin, Kantonsspital Aarau, 5001 Aarau Tel. 062-838 53 03, Fax 062-838 53 99 E-Mail: martin.hergersberg@ksa.ch
Interessenkonflikte: keine
Das Literaturverzeichnis ist im Internet einsehbar unter www.arsmedici.ch
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BEKANNTMACHUNG
ProRaris — neuer Dachverband als Allianz gegen seltene Krankheiten
Anlässlich des 3. internationalen Tags der seltenen Krankheit am 28. Februar 2010 (www.rarediseaseday.org) wurde die Gründung von ProRaris bekannt gegeben. ProRaris hat sich einen gemeinsamen Auftritt der rund 100 bestehenden schweizerischen Organisationen zu seltenen Krankheiten zum Ziel gesetzt, um den Betroffenen in der Öffentlichkeit und Politik sowie bei Behörden und im Gesundheitswesen eindrücklicher als bis anhin Gehör zu verschaffen. Als sogenannte seltene Erkrankungen gelten beispielsweise amyotrophe Lateralsklerose, Kaposi-Sarkom, Neurofibromatose oder Morbus Huntington. 80 Prozent der seltenen Erkrankungen haben einen genetischen Ursprung, viele treten bereits im Kindesalter auf. Allein in Europa leiden rund 30 Millionen Menschen an einer der 70 000 international als selten geltende Erkrankungen. In der Schweiz sind zirka 500 000 Menschen betroffen, das
heisst 6,5 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahlen relativierten das Attribut «selten», heisst es in einer Pressemitteilung von ProRaris. In der Schweiz gibt es zwar rund 100 Patientenorganisationen zu verschiedenen seltenen Krankheiten, aber — anders als in anderen Ländern — bis anhin noch keinen Dachverband. «Zahlreiche europäische Länder haben breit abgestützte Massnahmen ergriffen und nationale Programme für den Kampf gegen seltene Krankheiten verabschiedet. In der Schweiz wird das Problem noch immer unterschätzt», so Loredana D'Amato Sizonenko, Koordinatorin von Orphanet Suisse und Mitbegründerin von ProRaris.
☞ LINKTIPP www.orphanet.ch Informationsportal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs in Europa
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