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FORTBILDUNG
Epilepsietherapie bei geistiger Behinderung
Eine besondere Herausforderung für Diagnostik und Therapie
Die Behandlung von Epilepsien bei Menschen mit einer geistigen Behinderung erfolgt nach denselben Grundprinzipien wie bei nicht behinderten. Diagnostik und Therapie bieten jedoch einige Besonderheiten.
Im Folgenden werden diese Aspekte genauer dargestellt, wobei auf die Grenzen der bis anhin nur in geringem Masse vorhandenen klinisch-wissenschaftlichen Evidenz der Therapieverfahren bei dieser Patientengruppe hinzuweisen ist. Die Grundzüge der epileptologischen Behandlung von Menschen mit einer Intelligenzminderung wurden von einer internationalen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Kerr publiziert (1). Eine ausführlichere deutschsprachige Publikation zu diesem Thema existiert ebenfalls (2).
THOMAS DORN
Bei Menschen mit Minderintelligenz treten häufiger als bei nicht behinderten Menschen Epilepsien auf. Die epileptischen Anfälle sind dabei in der Regel als eines unter mehreren Symptomen der Hirnaffektion aufzufassen, die auch zur Minderintelligenz und allenfalls anderen neuropsychiatrischen Symptomen führt. Nicht selten handelt es sich bei Patienten mit Minderintelligenz und Epilepsie um Menschen, die an genetisch bedingten, syndromatischen Erkrankungen leiden, zu denen neben neuropsychiatrischen auch von anderen Organsystemen herrührende Symptome gehören können. Wie bei nicht behinderten Patienten ist das Therapieziel Anfallsfreiheit mit keinen beziehungsweise tolerablen Nebenwirkungen. Bei der Therapie der Epilepsie kommt der Pharmakotherapie genau wie bei nicht behinderten Patienten eine herausragende Bedeutung zu, epilepsiechirurgische Verfahren inklusive Vagusnervstimulation sind aber bei pharmakotherapieresistenten Patienten nicht a priori ausgeschlossen. Unterschiede zum Management von Epilepsien bei nicht behinderten Patienten ergeben sich vor allem durch die schwierigere Differenzialdiagnose paroxysmaler epileptischer und nichtepileptischer Phänomene, die aufgrund der eingeschränkten bis nicht vorhandenen Rapportfähigkeit des Betroffenen schwerere Erkennung erwünschter und unerwünschter Effekte der Pharmakotherapie sowie die Polymorbidität oder psychiatrische Komorbidität. Hier sind bisweilen zum einen mehr apparative Untersuchungen (Video-EEG-Monitoring, Labordiagnostik), zum anderen und vor allem aber auch die Beobachtungen Dritter und die intensive Kommunikation und Zusammenarbeit mit Angehörigen, Betreuern, dem Heimarzt, anderen Fachärzten und allenfalls auch weiteren Personen (z.B. Vormund) gefragt oder (heraus-)gefordert.
Identifikation der Ursache(n) von Epilepsie und geistiger Behinderung Bei der grossen Mehrzahl von Patienten mit Epilepsie und Intelligenzminderung ist davon auszugehen, dass die epileptischen Anfälle und die geistige Behinderung sowie allfällige
Merksätze
■ Die Therapie einer Epilepsie erfordert zu Beginn die klare Diagnose und Klassifikation epileptischer Anfälle und deren Abgrenzung von anderen paroxysmalen, nicht epileptischen Ereignissen.
■ Aufgrund der eingeschränkten Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit von Epileptikern mit geistiger Behinderung kommt vor allem bei der Abklärung der Art der Anfälle den Beobachtungen von Drittpersonen eine besondere Bedeutung zu.
■ Die Identifikation der epileptogenen Hirnpathologie beziehungsweise des der Epilepsie und der geistigen Behinderung zugrunde liegenden (genetischen) Syndroms sind anzustreben.
■ Das Therapieziel lautet zunächst Anfallsfreiheit ohne beziehungsweise allenfalls mit tolerablen Nebenwirkungen.
■ Die Pharmakotherapie stellt die wichtigste Säule der Therapie dar, epilepsiechirurgische Verfahren können bei Pharmakotherapieresistenz signifikante Verbesserungen erzielen.
■ Medikamentöse Umstellungen bei fortgeschrittenem Behandlungsstand können unter Anleitung und Koordination eines erfahrenen Epileptologen zu deutlichen Verbesserungen der Anfallssituation und auch zu Anfallsfreiheit führen.
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weitere neuropsychiatrische und von anderen Organsystemen herrührende Symptome Folge ein und derselben, sehr oft genetisch bedingten Grunderkrankung sind. Selbstverständlich gibt es auch Patienten, bei denen die Epilepsie Folge einer anderen, zusätzlichen Hirnaffektion (z.B. eines Schädel-HirnTraumas oder eines Hirntumors) ist, die nicht für die Minderintelligenz verantwortlich ist. In jedem Fall ist die Identifikation der Ursache der Minderintelligenz und der Epilepsie anzustreben (3). Hierbei sind das MRI – gegebenenfalls in Narkose – sowie andere bildgebende Verfahren nicht nur für die Erfassung der zerebralen Situation, sondern auch bei der Diagnose und Erfassung von Begleiterkrankungen besonders wichtig. Oft sind auch andere Fachärzte (z.B. Dermatologen) erforderlich, um ein Syndrom (z.B. eine Phakomatose) zu erkennen. Daneben können Stoffwechseluntersuchungen sowie natürlich (molekular-)genetische Untersuchungstechniken zur Anwendung kommen. Auch wenn für die überwiegende Zahl der hier relevanten Krankheitsbilder keine kausale Therapie existiert, ermöglicht die genaue Kenntnis der Ätiologie eine sicherere Epilepsietherapie, da bei bestimmten Stoffwechselerkrankungen und Epilepsiesyndromen einzelne Antiepileptika kontraindiziert sein können (4). Aus der Erfahrung des Verfassers führt eine unklare Diagnose der Grunderkrankung nicht selten zu ungerechtfertigten Schuldzuweisungen gegenüber Ärzten, Geburtshelfern, Familienangehörigen et cetera, die den Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den an der Patientenbetreuung beteiligten Personen erheblich erschweren oder gar verhindern können.
Besonderheiten der Diagnostik von epileptischen Anfällen und Epilepsien – Bedeutung und Möglichkeiten einer technisch assistierten Anfallsbeobachtung Bei behinderten Patienten mit Epilepsien begegnen uns häufiger schwerer verlaufende Formen als bei nicht behinderten Patienten. Oft treten bei einem Patienten mehrere verschiedene Anfallsformen auf. Nicht selten haben wir es mit Anfällen zu tun, die zu Stürzen führen. Neben epileptischen Anfällen treten oft auch andere paroxysmale motorische Phänomene (Stereotypien, Vokalisationen etc.) auf, die nicht einfach von epileptischen Anfällen zu unterscheiden sind. So ergibt sich also die Notwendigkeit für eine Video-EEG-Langzeit-Diagnostik, wobei sich die bei uns im Hause seit mehreren Jahrzehnten etablierte Radiotelemetrie, die dem Patienten sehr viel Freiräume bietet und eine Beobachtung in einer Art Alltagsumfeld mit vertrauten Bezugspersonen zulässt, bewährt hat (5). Sollte eine derartige Untersuchung aufgrund einer mangelnden Kooperationsfähigkeit des Patienten nicht möglich sein, kann auch eine Videoüberwachung sinnvoll sein. Schliesslich erlaubt die heute fast überall verfügbare digitale Videotechnik – zum Beispiel in Mobiltelefonen – das rasche Erfassen von paroxysmalen Symptomen durch Betreuungspersonal und Angehörige, was präzisere Erkenntnisse liefert
als die Erhebung einer Anamnese. Die technisch assistierte Beobachtung liefert neben Hinweisen zur Differenzialdiagnose paroxysmaler Symptome auch eine bessere Einschätzung der Bedeutung der Anfälle für die Lebensqualität des Betroffenen, welche etwa bei der Planung und Indikation von schwierigen Umstellungen der Pharmakotherapie bei fortgeschrittenem Behandlungsstand von grosser Bedeutung ist und bei nicht kommunikationsfähigen Patienten nicht einfach den Angehörigen oder Betreuungspersonen alleine überlassen werden sollte.
Prinzipien der Epilepsietherapie – Pharmakotherapie und chirurgische Behandlungsverfahren Wie bei nicht behinderten Patienten lautet das Therapieziel Anfallsfreiheit bei fehlenden beziehungsweise tolerablen Nebenwirkungen. Die wichtigste Säule ist die Pharmakotherapie. Wie eine grosse Studie für eine hinsichtlich der Ätiologie nicht näher definierte Gruppe von Epilepsiepatienten zeigte, können mit einer systematisch durchgeführten Pharmakotherapie – Monotherapie, alternative Monotherapie, Zweierkombination oder weitere alternative Monotherapie – zwei Drittel aller Patienten anfallsfrei werden (6). Auch wenn aufgrund der bei einer geistigen Behinderung anzunehmenden ausgeprägteren und ausgedehnteren Hirnpathologie ein schwererer Verlauf und eine geringere therapeutische Zugänglichkeit einer Epilepsie erwartet werden kann (7), ist dies bis anhin nicht durch eine ähnliche Studie wie die oben erwähnte für diese Patientengruppe bewiesen. So ist das Prinzip der antiepileptischen Pharmakotherapie eine systematische Erprobung einer initialen Monotherapie, alternativer Monotherapien und schliesslich von Kombinationstherapien, welche bis zur individuellen Nebenwirkungsgrenze ausdosiert werden sollten (8). Hierbei kann – wie bei nicht
Tabelle: Prinzipien der antiepileptischen PharTabelle: makotherapie bei geistig behinderten Tabelle: Patienten
■ Therapieziel zunächst: Anfallsfreiheit ohne beziehungsweise mit tolerablen Nebenwirkungen
■ Initiale Monotherapie, bei deren Scheitern alternative Monotherapie, bei deren Scheitern weitere alternative Monotherapie oder Kombinationstherapie
■ Ausdosieren jedes Therapieregimes bis zur individuellen Toxizitätsgrenze
■ Serumkonzentrationsbestimmungen an jedem Wendepunkt der Therapie, vor allem zur Beurteilung der Adhärenz und Erfassung pharmakokinetischer Interaktionen
■ (Psychiatrische) Komorbidität im Auge behalten
■ Beurteilung erwünschter wie unerwünschter Effekte erfordert Zusammenarbeit des Neurologen mit Heimarzt, Betreuern, Angehörigen, gesetzlichen Vertretern und allenfalls weiteren Fachärzten und –personen
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behinderten Patienten auch – nach dem Scheitern des dritten Therapieregimes eine Pharmakotherapieresistenz angenommen werden, und das ursprüngliche Therapieziel Anfallsfreiheit sollte nicht mehr als sehr realistisch angesehen werden. Trotzdem ist es im Einzelfall oft schwer zu entscheiden, wann von dem Ziel Anfallsfreiheit endgültig abgerückt werden sollte. Während bei Pharmakotherapieresistenz bei nicht behinderten Patienten und insbesondere bei jenen, die eine epileptogene Läsion in nicht eloquentem Kortex haben, ein resektiver epilepsiechirurgischer Eingriff mit dem Ziel Anfallsfreiheit erwogen werden muss (8), ist die chirurgische Therapieoption bei erwachsenen Menschen mit Intelligenzminderung ein oft nicht ohne Weiteres gangbarer Weg. Da es sich bei einem epilepsiechirurgischen Eingriff ja um eine eingreifende medizinische Massnahme handelt, die nicht der Abwendung einer unmittelbaren vitalen Gefährdung dient, bedarf es einer rechtsgültigen Einwilligung in den Eingriff beziehungsweise in eine dafür notwendige invasive Diagnostik, die bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten von einem gesetzlichen Vertreter gegeben werden muss, wobei versucht werden sollte, den Patienten so gut wie möglich einzubinden. Zudem könnte ein epilepsiechirurgischer Eingriff auch durch eine mangelnde Kooperationsfähigkeit des Patienten bei der dafür notwendigen Video-EEG-Langzeit-Diagnostik verunmöglicht werden. Auch wird bei diffuseren Hirnpathologien, zum Beispiel einer ausgedehnten Polymikrokyrie im Rahmen eines genetischen Syndroms, a priori kein epilepsiechirurgischer Eingriff erwogen werden. Dabei ist aber das Ergebnis der Epilepsiechirurgie bei sorgfältig selektierten behinderten Patienten nicht notwendig schlechter als bei nicht behinderten Patienten (9). Es sollte im Zusammenhang chirurgischer Therapieverfahren bei Menschen mit Intelligenzminderung noch auf die «palliative», nicht resektive, sondern diskonnektive anteriore Kallosotomie hingewiesen werden, mit der es gelingt, Sturzanfälle mit hohem (Hirn-)Verletzungspotenzial zu verhindern oder ihre Häufigkeit zu vermindern, ohne dass relevante zusätzliche kognitive Störungen induziert werden. Laut einer jüngsten indischen Studie mit 17 behinderten Kindern konnte bei zwei Dritteln mit diesem Eingriff die Häufigkeit der Sturzanfälle um mindestens 90 Prozent vermindert werden, während sich das Verhalten besserte (10). Schliesslich liegen auch Erfahrungen mit der Vagusnervstimulation (VNS) vor. Eine retrospektive Studie mit 21 Patienten im Alter von 3 bis 56 Jahren, wovon nur 16 auswertbar waren, zeigte bei 11 eine mehr als 50-prozentige Reduktion der Anfallshäufigkeit nach 6 Monaten, wobei bei den auswertbaren Patienten keine nennenswerten Nebenwirkungen berichtet wurden (11).
Medikamentenauswahl bei der antiepileptischen Pharmakotherapie Für die antiepileptische Pharmakotherapie stehen bei behinderten Patienten dieselben Substanzen zur Verfügung wie bei nicht behinderten Patienten. Für behinderte Patienten liegen aber keine randomisierten, plazebokontrollierten und verblindeten Studien vor.
So bleibt man bei der Medikamentenauswahl auf die in der Epilepsietherapie bei nicht behinderten Patienten gültigen Kriterien angewiesen, das heisst, die Medikamentenauswahl richtet sich nach dem Epilepsiesyndrom und nach dem – überwiegend für nicht behinderte Patienten – bekannten Nebenwirkungsprofil, Lebensalter und Begleiterkrankungen beziehungsweise Begleitmedikationen, da ja hinsichtlich der Wirksamkeit zwischen den einzelnen Antiepileptika vor allem bei fokalen Epilepsien nur marginale Unterschiede bestehen dürften (12). Nach unseren eigenen Erfahrungen erweist sich die Kombination aus Valproat (Depakine® oder Generika) und Lamotrigin (Lamictal® oder Generika) bei behinderten Patienten mit schweren fokalen oder generalisierten Epilepsien oft als sehr wirksam, auch wenn schon viele andere Antiepileptika vorher zum Einsatz gelangt sind. Dies legen auch offene, nichtkontrollierte Studien nahen (13, 14).
Praktische Aspekte einer antiepileptischen Pharmakotherapie Eine der Besonderheiten und Herausforderungen der Therapie mit Antiepileptika ist die schwierige Beurteilbarkeit des erwünschten Effektes auf die Anfallssituation bei den oft nicht selbst ausreichend rapportfähigen Patienten, bei denen ja neben epileptischen Anfällen auch nicht epileptische Paroxysmen auftreten können. Auch die Erfassung unerwünschter Arzneimitteleffekte ist erschwert. Ferner sind Überdosierungserscheinungen im Sinne einer Ataxie bei rollstuhlpflichtigen Betroffenen nicht ohne Weiteres erkennbar. Ferner können bei behinderten Patienten auch Nebenwirkungen auftreten, die bei nicht behinderten Patienten unbekannt sind. Begleiterkrankungen, besonders psychiatrische, können das Spektrum von Nebenwirkungen eines Medikaments beeinflussen. Leber- und Nierenerkrankungen können die Indikation eines Antiepileptikums einschränken oder Dosisanpassungen erfordern. Die Verabreichung eines Medikaments kann beispielsweise aufgrund einer Schluckstörung oder einer eingeschränkten Kooperationsfähigkeit erheblich erschwert sein. Schliesslich findet die antiepileptische Therapie nicht selten in einem schwierigen psychosozialen Umfeld statt. Da sind ängstliche und verunsicherte Angehörige und verschiedene Betreuungspersonen mit sehr unterschiedlichem Ausbildungshintergrund und Blickwinkel, die in die Therapie und die damit assoziierten Entscheidungen mit einbezogen werden müssen. Es gilt also, die von Fall zu Fall sehr unterschiedliche komplexe Beziehung zwischen Grundkrankheit, Epilepsie, Verhaltensstörungen und Therapie zu analysieren und die Therapie entsprechend den Ergebnissen dieser Analyse zu beginnen beziehungsweise weiterzugestalten. Dies setzt in erster Linie eine intensive Kommunikation zwischen allen Beteiligten voraus, wobei versucht werden sollte, den Patienten selbst so gut wie möglich einzubeziehen. Bei mehreren unterschiedlichen epileptischen und nicht epileptischen paroxysmalen Symptomatiken muss den Betreuenden am besten anhand entsprechender Videodokumente verdeutlicht werden, welche anfallsartigen Phänomene durch die Therapie beeinflusst werden sollen.
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Ferner muss kommuniziert werden, mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist. Eine sorgfältige Dokumentation von Anfallssituation, Allgemeinbefinden und Verhalten ist eine unabdingbare Voraussetzung. Laboruntersuchungen, insbesondere Medikamentenspiegelbestimmungen, spielen bei behinderten Patienten eine grössere Rolle als bei nicht behinderten Patienten. Zum oft diskutierten und hinterfragten Sinn von Medikamentenspiegelbestimmungen (15) sei hier angemerkt: Auch wenn bezogen auf eine Population von Epilepsiepatienten, die mit einem bestimmten Medikament behandelt werden, keine Grenzwerte für Serumkonzentrationen genannt werden können, ab denen mit einem Effekt auf die Anfallssituation respektive mit dem Auftreten von Nebenwirkungen gerechnet werden muss, können solche Bereiche für jeden einzelnen Patienten im Verlauf einer Behandlung ermittelt werden (16). Bei Umstellungen von Begleitmedikamenten – seien es andere Antiepileptika, Psychopharmaka oder andere Medikamente – kann es aufgrund veränderter pharmakokinetischer Bedingungen zu Veränderungen der Serumkonzentration eines Antiepileptikums mit klinischen Auswirkungen, das heisst dem Wieder- oder vermehrten Auftreten von Anfällen oder auch zu Nebenwirkungen kommen, denen mit entsprechenden Dosisanpassungen zu begegnen ist. Noch längst sind nicht alle diese Interaktionen bekannt und die bekannten in ihrem Ausmass im einzelnen Patienten nicht vorhersehbar. Auch bei behinderten Patienten kann die Compliance des Betreffenden selbst oder aber auch seiner Angehörigen und Betreuer eingeschränkt sein, was oft nur durch den Vergleich postiktaler Serumkonzentrationen mit den in anfallsfreien Phasen gewonnenen Werten erkennbar wird. Somit sollten Bestimmungen der Serumkonzentrationen von Antiepileptika – und auch der Psychopharmaka – an jedem «Wendepunkt» erfolgen, also immer dann, wenn die (Begleit-)Medikation verändert wird oder klinisch neue Gesichtspunkte (mehr oder weniger Anfälle, Nebenwirkungen, Verhaltensänderung, Änderung des Allgemeinbefindens) auftreten. Die Ergebnisse dieser Bestimmungen sind dann nicht isoliert zu betrachten, sondern ergeben erst durch den Vergleich mit früher oder manchmal auch erst später bestimmten Werten einen Sinn, indem sie dann eine solide Grundlage für eine Dosisanpassung eines Antiepileptikums liefern.
Umstellungen der Pharmakotherapie bei fortgeschrittenem Behandlungsstand Immer wieder begegnen dem Epileptologen behinderte (und nicht behinderte) Patienten mit fortgeschrittenem Behandlungsstand und der Frage nach weiteren Therapiemöglichkeiten. In Ermangelung von Studiendaten seien hierzu im Folgenden die von den persönlichen Erfahrungen des Autors geprägten Empfehlungen gegeben. Nicht selten heisst es in solchen Situationen ja, ein Patient habe schon viele Antiepileptika gehabt, diese hätten sämtlich nichts genutzt und manche sogar nur Nebenwirkungen verursacht. Die Erfassung der Therapieanamnese darf sich hier nicht auf die Auflistung der Namen der Antiepileptika und der
jeweiligen Maximaldosierungen beschränken, vielmehr ist
eine genaue Rekonstruktion der Behandlungsvorgeschichte
mit Berücksichtigung der Begleitmedikationen erforderlich, für
die das Gespräch mit dem Betreffenden – wenn möglich –, den
Angehörigen und Betreuern nur den Einstieg darstellt. Diese
erinnern die oft komplexen Therapievorgeschichten nur sehr
unvollständig. Man ist also auf entsprechende ärztliche Unter-
lagen angewiesen, deren Beschaffung aufwendig und biswei-
len leider gar nicht möglich ist, insbesondere wenn sie mehr
als 10 Jahre zurückdatieren. Bei genauer Durchsicht solcher
Unterlagen in chronologischer Reihenfolge zeigt sich zum
Beispiel, dass eine in der Anamnese geschilderte «Allergie» auf
ein bestimmtes Medikament gar keine war, sondern ein viraler
Infekt mit kutaner Beteiligung vorlag. Oft scheiterte auch eine
Behandlung mit einem bestimmten Medikament, weil es retro-
spektiv nicht richtig angewendet wurde.
Ein weiteres Ziel bei der Rekonstruktion der Vorgeschichte ist,
herauszufinden, ob der Patient und sein Umfeld adhärent sind.
Hierbei ist eine Aufstellung von unter den verschiedenen Me-
dikationen bestimmten Serumkonzentrationen unter Berück-
sichtigung von Dosis und Interaktionspotenzial hilfreich. Wenn
nun nach sorgfältiger Analyse der gegenwärtigen Situation im
Hinblick auf die rekonstruierte Vorgeschichte ein Konzept für
eine medikamentöse Umstellung erstellt wird, gilt es, in einem
ausführlichen Gespräch mit den Verantwortlichen, Angehörigen
und Betreuern darzulegen, was das Ziel der Therapieumstellung
ist – Anfallsfreiheit, Verbesserung der Anfallssituation und/oder
Verminderung von Nebenwirkungen –, welche Outcome-Szena-
rien prinzipiell möglich sind und welche Komplikationen auf-
treten können und wie dann allenfalls vorzugehen ist. Wichtig
ist, darauf hinzuweisen, dass es bei Therapieumstellungen oft so
ist, dass das Ziel nicht sofort, sondern erst nach mehreren
Wochen oder gar Monaten erreicht wird und dass es in der Zeit
bis zum Erreichen des Ziels zu einer Verschlechterung der An-
fallssituation und/oder des Allgemeinbefindens kommen kann
und sogar eine Hospitalisation in einem spezialisierten Spital
von vornherein in einer bestimmten Phase der Umstellung vor-
zusehen ist, insbesondere dann, wenn das Betreuungspersonal
keine grosse epileptologische Erfahrung besitzt.
Eine Untersuchung an 155 erwachsenen, über mindestens
5 Jahre erfolglos behandelten Patienten, bei denen insgesamt
265 neue Therapieversuche unternommen wurden, worunter
16 Prozent der Patienten für mindestens 1 Jahr anfallsfrei wur-
den, sollte Mut zu Therapieumstellungen bei Patienten mit
fortgeschrittenem Behandlungsstand machen (17).
■
Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum
Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich E-Mail: Thomas.Dorn@swissepi.ch
Interessenlage: Der Verfasser erhielt Vortragshonorare der Firmen GlaxoSmithKline, Janssen-Cilag, UCB, Desitin und Eisaiund war an einer von der Fa. GlaxoSmithKline finanzierten Studie im Bereich der epileptologischen Grundlagenforschung beteiligt.
Das Literaturverzeichnis ist im Internet einsehbar unter www.arsmedici.ch
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