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BERICHT
Übergewicht: die Risiken werden überschätzt
Ernste Gesundheitsrisiken bestehen meist erst bei Adipositas und auch nicht bei allen Fettleibigen
Übergewicht ist weniger gesundheitsschädlich als oftmals propagiert. Die Mortalität von molligen Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 ist für manche Erkankungen erhöht, für andere wiederum vermindert oder unverändert. Insgesamt ist die Gesamtsterblichkeit nicht höher als bei Normalgewichtigen. Eindeutige Gesundheitsrisiken bestehen demgegenüber bei ausgeprägter Adipositas, wenngleich die Morbidität auch hier differenziert betrachtet werden muss.
UWE BEISE
Julie L. Gerberding, Direktorin des Center of Control and Prevention in Atlanta, hat im Jahr 2003 die vielleicht eindringlichste Warnung ausgerufen: Keine Epidemie, Grippe und Pest eingeschlossen, werde so gravierende Konsequenzen haben wie die sich ausbreitende Fettsucht. Manche US-amerikanische Autoren befürchten, die seit Jahrzehnten steigende Lebenserwartung könne bald zum Stillstand kommen, wenn der Adipositas-Epidemie mit ihren gravierenden Gesundheitsrisiken nicht bald Einhalt geboten würde. Längst schlagen auch in der Schweiz Ärzte und Gesundheitspolitiker Alarm. Inzwischen gibt es mehr als 30 Therapieprogramme und -zentren für übergewichtige und adipöse Kinder. Dabei lohnt es sich, einen etwas genaueren Blick auf die «Epidemie» zu werfen. Die bisher vorliegenden epidemiologischen Daten zeigen nämlich, dass Differenzierungen notwendig sind und dass nicht jede ausgemalte Gefahr einer Prüfung standhält. Das betrifft vor allem die
Molligen, Übergewichtige also mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 kg/m2. Bei ihnen lässt sich schlicht kein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko ausmachen, tendenziell könnte sogar eher das Gegenteil der Fall sein, wie beispielsweise umfassende Analysen aus den USA zeigen. Dort verfügt man auch über die grösste Datensammlung aus dem Nationalen Gesundheits- und Ernährungssurvey, in die seit Mitte der Siebzigerjahre repräsentative Daten von mehr als 2 Millionen Amerikanern eingegangen sind. Katherine Flegal hat am Center of Disease Control and Prevention in Atlanta die zwischen 1971 und 2004 erhobenen Daten ausgewertet und kommt zu folgendem überraschendem Fazit: Menschen mit Übergewicht sind insgesamt gesünder und leben etwas länger als Normalgewichtige. Ein gewisses Übergewicht könnte also durchaus Vorteile haben. So scheint es, dass Mollige sich schneller von Operationen erholen, weniger infektanfällig sind, bei manchen (auch konsumierenden) Krankheiten ist ihre Prognose besser. «Wenn sie sich gut fühlen, sich einigermassen regelmässig
bewegen und ihr Doktor mit ihren Labor- und anderen Untersuchungsergebnissen zufrieden ist, sehe ich keinen Grund, warum sie ihr Gewicht ändern sollten», meint deshalb der Epidemiologe Mitchell Gail von den National Health Institutes in Bethesda. Ein deutlich erhöhtes Gesundheitsrisiko besteht erst bei Adipositas – also bei Menschen mit einem BMI über 30, wo Komorbiditäten, in erster Linie HerzKreislauf-Kankheiten, ihren Zoll fordern. Insgesamt scheint die Übersterblichkeit der Fettleibigen allerdings seit einigen Jahren rückläufig. Als Hauptgrund für diese Entwicklung gilt die bessere Therapie kardiovaskulärer Kankheiten, zudem konnten in neueren Studien methodische Schwächen früherer Untersuchungen teilweise korrigiert werden.
Adipositas: Mortalität um 20 Prozent erhöht Kürzlich hat diesen Befund eine deutsche Metaanalyse im Wesentlichen bestätigt. Demnach geht Übergewicht im Vergleich mit Normalgewicht (18,5 bis 24,9 kg/m2) nicht mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko einher. In die Untersuchung wurden auch Störgrössen wie Rauchen und sozioökonomischer Status einbezogen. Die Autoren der Universität Hamburg hatten 27 Metaanalysen und 15 Publikationen mit prospektiven Kohortenstudien ausgewertet, darunter auch deutsche Studien, die nicht in internationalen Analysen Eingang fanden. Ausgeschlossen wurden aber Fallkontrollstudien, Studien bei Kindern und Jugendlichen und Untersuchungen, in denen ausschliesslich Hochrisikogruppen, wie Dialysepatienten oder Herzinsuffiziente, teilnahmen.
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BERICHT
Die Ergebnisse zeigen, dass bis zu einem BMI von 28 kg/m2 kein erhöhtes Mortalitätsrisiko besteht, Männer mit Übergewicht haben eine um etwa 7 Prozent geringere Mortalität. Bei Adipositas ist die Gesamtsterblichkeit hingegen um etwa 20 Prozent erhöht. Für hochgradig Fettleibige mit einem BMI über 36 kg/m2 ergab die Auswertung im Vergleich zur Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen als Referenzpopulation ein 1,3- bis 3-fach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko. Das Mortalitätsrisiko sinkt jedoch mit steigendem Lebensalter. Nach dem 60. Lebensjahr gibt es keine oder allenfalls geringe Abweichung im Vergleich mit Normalgewichtigen, schreiben die Autoren Lenz et al. Die Daten zur Morbidität ergeben folgende Erkenntnisse: Das KHK-Risiko ist bei Übergewichtigen um 20 Prozent erhöht, bei Adipösen um 50 Prozent. Die gesamtkardiovaskuläre Mortalität ist bei übergewichtigen Frauen nicht erhöht, bei übergewichtigen Männern um 10 Prozent erhöht. Bei Adipositas steigt das Risiko bei Männern und Frauen um 50 Prozent, bei hochgradiger Adipositas (BMI > 40 kg/m2) gar um 200 bis 300 Prozent. Das Typ-2-Diabetes-Risiko ist statistisch bis zu einem BMI von 27,2 kg/m2 gegenüber Normalgewichtigen nicht erhöht, steigt darüber hinaus aber deutlich an, um bis zu 300 Prozent. Andererseits haben Dicke auch gesundheitliche Vorteile. Bestätigt wurde, dass Dicke ein geringeres Risiko für Knochen- und Hüftfrakturen haben, ihre
Prognose nach Herzinfarkt ist besser als die der normalgewichtigen Leidensgenossen. Selbst hochgradig adipöse Männer leiden nicht häufiger unter Krebs als Normalgewichtige, bei fettleibigen Frauen ist das Krebsrisiko hingegen 1,5-mal so hoch wie bei Normalgewichtigen. Dabei gibt es Unterschiede je nach Krebsart. Manche Tumoren kommen häufiger vor, andere seltener. Nach Angaben der Autoren bleibt, in Ermangelung von Daten, die Rolle der Fettverteilung, also von Taillenumfang und Waist-hip-ratio, unklar. Ausdrücklich stellen die Hamburger Autoren fest, dass ihre Analyse keine Antwort auf die Frage liefere, ob alle Menschen oberhalb eines definierten BMI abnehmen sollten. Das könne nur in randomisierten und kontrollierten Studien mit gewichtsreduzierenden Interventionen bewertet werden. Bisher, so vermerken sie, seien die Langzeiteffekte der Gewichtsabnahme unklar (siehe dazu auch das Interview auf Seite 50).
BMI allein rechtfertigt keine Gewichtsabnahme In einem begleitenden Kommentar zeigt sich Professor Hans Hauner, Ernährungsmediziner am Else-Kröner-Fresenius-Zentrum der Technischen Universität München, wenig überrascht von den Ergebnissen der Hamburger Arbeitsgruppe. Er verweist auf eine dieses Jahr im «Lancet» erschienene Studie, nach der Normalgewichtige mit einem BMI zwischen 20 und 22,4 kg/m2 eine höhere Mortalität aufwiesen als leicht Über-
gewichtige mit einem BMI zwischen 25
und 27 kg/m2. Nach Meinung von Hau-
ner ist der BMI kein guter Indikator
für gesundheitliche Risiken des Über-
gewichts. Der BMI rechtfertige allein
keine Gewichtsreduktion. In der Praxis
komme es vielmehr darauf an, «nach be-
gleitenden Risikofaktoren zu fahnden
und die Behandlungsindikation vom Ge-
samtrisiko abhängig zu machen». Auch
20 bis 30 Prozent der Adipösen mit
einem BMI über 30 kg/m2 haben übri-
gens laut Hauner ein unauffälliges Risi-
koprofil. Es blieben aber noch viele Adi-
pöse mit hohem Komorbiditätsrisiko,
Patienten, die der Ärzteschaft «nicht
gleichgültig» sein sollten. Therapeuti-
scher Nihilismus sei keine adäquate
Antwort. Diese Patienten könnten nach
Meinung des Ernährungsmediziners
«erheblich von einer Gewichtsreduktion
profitieren».
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Uwe Beise
Interessenkonflikte: keine
Lenz M, Richter T, Mühlhauser I: The morbidity and mortality associated with overweight and obesity in adulthood: systematic review. Dtsch Ärztebl Int 2009; 106(40): 641—648. (auf deutsch unter www-aerzteblatt.de) Hauner H: Overweight — not such a big problem? Dtsches Ärztebl Int 2009; 106(40): 639—640 (auf Deutsch unter www.aerzteblatt.de). Prospective Studies Collaboration: Body-mass index and causespecific mortality in 900000 adults: collaborative analyses of 57 prospective studies. Lancet 2009; 373: 1083—1096. Flegal KM, et al.: Cause-specific excess deaths associated with underweight, overweight, and obesity. JAMA 2007; 298: 2028— 2037.
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