Transkript
FORTBILDUNG
Diagnostik und Therapie des Lymphödems
Tipps und häufige Fallstricke
Bei der Therapie des Lymphödems spielt die Komplexe
Physikalische Entstauungstherapie (KPE) eine wich-
tige Rolle. Es genügt jedoch nicht, ein Rezept aus-
zustellen und alles andere dem Physiotherapeuten zu
überlassen. Der Hausarzt sollte schon das Zepter
in der Hand behalten. Was es in puncto Diagnostik
und Therapie zu beachten gilt und wo die Fallstricke
lauern, soll der nachfolgende Beitrag beleuchten.
MICHAEL OBERLIN
Das Lymphdrainagesystem übt zur Erhaltung der Homöostase im Interstitium eine Sicherheitsventilfunktion aus. Die Flüssigkeitsmenge, welche im arteriellen Schenkel der Blutkapillare den Blutkreislauf verlässt, wird normalerweise zu 90 Prozent im venösen Schenkel wieder rückresorbiert. Die restlichen 10 Prozent erreichen über Lymphgefässe wieder die Blutbahn. Normalerweise beträgt die Lymphmenge zwei Liter pro Tag. Bei vielen Krankheitsprozessen kann die Flüssigkeitsmenge, welche die Blutkapillaren verlässt, um ein Vielfaches höher sein. Ist die Transportkapazität der Lymphgefässe überschritten, entsteht ein Ödem.
ansammlung verändert sich das Interstitium mit all seinen Komponenten: der Grundsubstanz, der Zellelemente und der bindegewebigen Fasern, das heisst, es entsteht dadurch ein eigenständiges Krankheitsbild – das Lymphödem.
Stadieneinteilung des Lymphödems Ohne eine frühzeitige adäquate Therapie schreitet das Lymphödem voran. Es beginnt mit Stadium I, in dem lediglich der eiweissreiche Flüssigkeitsgehalt des Interstitiums erhöht ist. Das Gewebe ist noch weich, über Nacht bildet sich ein Teil der Schwellung zurück, und es lässt sich auf Druck mit dem Finger leicht eine Delle erzeugen. Im Stadium II wird die zelluläre Population pathologisch, und durch Vermehrung der bindegewebigen Fasern verändert sich das Interstitium. Das Ödem zeigt über Nacht keine Schwankungen mehr, und auf Fingerdruck lässt sich nur noch schwer eine Delle eindrücken. In Gelenksnähe kommt es zu Hautfalteneinziehungen, die Haut und das Subkutangewebe zeigen fibrosklerotische Verhärtungen. Im Stadium III kommt es oft infolge rezidivierender Erysipelinfektionen, bedingt durch die lokale Immunschwäche im Lymphstaugebiet, zu einer exzessiven Wucherung der bindegewebigen Fasern, welche zu einer massiven Volumenzunahme führt, sodass wir das Stadium III auch als «Elephantiasis» bezeichnen.
Basisdiagnostik beim Hausarzt Die erste Aufgabe des Hausarztes ist es, die Diagnose zu stellen und das Stadium des Lymphödems zu bestimmen (Tabelle 1).
Das Lymphödem: Ein eigenständiges Krankheitsbild Zahlreiche Krankheitsprozesse verursachen einen vermehrten Austritt des Blutwassers ins Interstitium. Ohne lymphatische Kompensation führt dies zu einem eiweissarmen Ödem (z.B. kardiales oder renales Ödem). Nachdem die entsprechende Grundkrankheit erfolgreich behandelt wurde, wird die Gewebsflüssigkeit voll resorbiert, und die so entstandenen Ödeme bilden sich vollständig zurück. Krankheitsprozesse, die zum einen die Blutkapillarwände schädigen und dadurch die Eiweisspermeabilität erhöhen, sowie Krankheiten, welche die Transportkapazität der Lymphgefässe einschränken, führen zu eiweissreichen Ödemen. Durch die eiweissreiche Flüssigkeits-
Merksätze
■ Das Lymphödem ist ein eigenständiges Krankheitsbild mit spezifischen Veränderungen des Interstitiums.
■ Ein benignes Lymphödem verursacht nie anhaltende Schmerzen oder neurologische Symptome.
■ Kompressionsstrümpfe sind bei permanentem Tragen nach sechs bis acht Monaten verschlissen und müssen neu rezeptiert werden.
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logische Symptome wie Lähmungen oder Parästhesien oder führt zu Hautverfärbungen. Abhängig vom Alter des Lymphödempatienten kommen zusätzliche Laboruntersuchungen (Nieren-, Leber-, Schilddrüsenfunktion, Diabetes mellitus etc.) sowie Schnittbilduntersuchungen wie Sonografie oder MRT zum Einsatz, um gegebenenfalls ödemaggravierende Begleiterkrankungen auszuschliessen oder aber eine Abflussstörung im Bereich der Extremitätenwurzel (Axilla, Leiste) beziehungsweise im Kleinbecken und Retroperitonealraum auszuschliessen. Wichtigstes klinisches Zeichen des manifesten Lymphödems ist das Stemmer'sche Zeichen (Abbildung 2). Die Verbreiterung beziehungsweise die schwere oder fehlende Abhebbarkeit der Zehenhautfalte beim Lymphödem wurde bereits vor über 30 Jahren von Robert Stemmer beschrieben. Ein positives Stemmer'sches Zeichen, also eine verbreiterte Hautfalte an den Zehen, ist mit der Diagnose Lymphödem gleichzusetzen.
Abbildung 1: Lymphödem, links vor, rechts nach sechs Monaten Komplexer Physikalischer Entstauungstherapie (KPE).
Durch Anamnese, Inspektion und Palpation, Auskultation und Perkussion gelingt oft auch schon eine ätiologische Zuordnung des Lymphödems (Tabelle 2). Zudem muss er entscheiden, ob es sich gegebenenfalls um eine maligne Lymphödemform handelt, die durch einen bösartigen Prozess verursacht wird, der die Lymphabflussgebiete blockiert. Ein reines, benignes Lymphödem verursacht nie anhaltende Schmerzen oder neuro-
Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) Die KPE ist eine Zwei-Phasen-Therapie und besteht aus einer Phase 1 der Entstauung (mit Bandagen) und einer Phase II der Konservierung und Optimierung (mit Kompressionsstrümpfen nach Mass). Eine ambulante KPE in Phase I macht nur dann Sinn, wenn die Anwendungen täglich durchgeführt werden können und auch die Kenntnisse und Materialien für eine lymphologische Bandage zur Verfügung stehen. Die Industrie bietet diesbezüglich diverse Bandagesets für Armlymphödeme und Beinlymphödeme an.
Tabelle 1: Lymphödemstadien und Intensität der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE)
Stadien Merkmale
Phase I Entstauung
Phase II a Konservierung und Optimierung
Phase II b Konservierung
Stadium 1
Ödem von weicher Konsistenz Hochlagern reduziert die Schwellung
Manuelle Lymphdrainage: 1 × täglich, Kompr.-Bandagen, Bewegung, Dauer 14 bis 21 Tage
Manuelle Lymphdrainage in Serien, Kompr.-Strümpfe bei Bedarf oder konsequent auf Dauer
Stadium II
Ödem mit sekundären Gewebeveränderungen Hochlagern ohne Wirkung
Manuelle Lymphdrainage: 2 × täglich, Kompr.Bandagen, Bewegung Dauer 24 bis 28 Tage
Manuelle Lymphdrainage: 1—2 ×/Woche, für 2 bis 5 Jahre Kompr.-Strümpfe und Bandagen, Bewegung, Wiederholung der Phase I: 2—3 ×
Manuelle Lymphdrainage in Serien oder 1 ×/Woche Kompr.-Strümpfe konsequent auf Dauer, Bewegung
Stadium III
Elephantiastische harte Schwellung, häufig lobuläre Form mit typischen Hautveränderungen
Manuelle Lymphdrainage:2—3 × täglich, Kompr.-Bandagen, Bewegung Dauer 28 bis 35 Tage
Manuelle Lymphdrainage:
Manuelle Lymphdrainage:
2—3 ×/Woche für 5 bis 10 Jahre in Serien oder 1–2 ×/Woche
Kompr.-Strümpfe und Banda- Kompr.-Strümpfe konsequent
gen, Bewegung, Wiederholung auf Dauer, Bewegung
der Phase 1: 3–8 × evtl. chir-
urgische Massnahmen (Resek-
tion von leeren Hautsäcken u.ä.)
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D I A G N O S T I K U N D T H E R A P I E D E S LY M P H Ö D E M S
Tabelle 2: Basisdiagnostik des Lymphödems
1. Basisdiagnostik
2. Spezialtechnologie
Kennzeichen des benignen
Aktuelle Methoden
Lymphödems
■ Indirekte Lymphografie
■ einseitig oder asymmetrisch
■ (Lymphknoten)
■ schmerzfrei
■ Lymphszintigrafie, funktionelle
■ Hautfarbe erhalten
■ Isotopenlymphografie
■ Fuss- und Handrücken geschwollen ■ Weichteilsonografie
■ natürliche Hautfalten vertieft
Im Entwicklungsstadium
■ Stemmer'sches Zeichen positiv ■ Stadienaufteilung
■ hochaufgelöste MR-Lymphangio■ grafie
Obsolete Methoden
■ Farbstofftest ■ direkte ölige Lymphografie ■ Histologie (Lymphgefässe)
Kompressionstherapie Hauptfehler und dadurch Grund für ein Versagen der Therapie ist die Tatsache, dass leider weiterhin zwar manuelle Lymphdrainage, aber oft keine Kompressionsbandage verordnet wird. Gegen Ende der Phase 1 der Entstauung, die mit Bandagen durchgeführt werden kann, muss entschieden werden, welche Art von medizinischen Kompressionsstrümpfen und in welcher Kompressionsklasse verordnet werden muss. Bestehen
Abbildung 2: Stemmer'sches Zeichen bei Lymphödem — verbreiterte Hautfalte an der Zehe.
Abbildung 4: Diese Kompressionsstrümpfe sollten dringend erneuert werden.
grosse anatomische Defor-
mierungen der Gliedmassen,
ist dies ein möglicher Grund
für eine fachklinische Be-
handlung, damit dort am
Ende des stationären Aufent-
halts der Patient mit einem
ärztlich kontrollierten Kom-
pressionsstrumpf in die wei-
tere ambulante Therapie ent-
Abbildung 3: Schwierige anatomische Verhältnisse für die Kompressionsstrumpfversorgung.
lassen wird (Abbildung 3). Während eines stationären Aufenthaltes werden dem Pa-
tienten in Vorträgen Kenntnisse über sein Krankheitsbild sowie
über mögliche Komplikationen vermittelt (z.B. Erysipele), und
ihm wird auch die Technik der Kompressionsbandage beige-
bracht, damit er zu Hause durch zum Beispiel nächtliche Selbst-
bandagen den Entstauungserfolg weiter optimieren kann.
Tabelle 3: Absolute und relative Kontraindikationen der manuellen Lymphdrainage
Absolut
Relativ
Generell
■ akute Entzündung durch pathogene Keime ■ kardiales Ödem ■ akute Beinvenenkrankheiten
■ malignes Lymphödem
Hals ■ Hyperthyreose ■ Überempfindlichkeit des Sinus caroticus ■ Herzrhythmusstörungen
■ Alter
Bauch-/Beckenbereich ■ Schwangerschaft
■ Alter
■ während der Periode
■ bei Anfallsleiden (Epilepsie → cave Tachypnoe)
■ bei Zustand nach Darmverschluss (Ileus)
■ Divertikulose des Darmes
■ Bauchaortenaneurysma oder nach dessen operativer Behandlung
■ massivste arteriosklerotische Veränderung (meist im Rahmen von Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus, Hyperlipidämien)
■ entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn)
■ starke Verwachsungen als Folge operativer Eingriffe
■ Veränderungen nach strahlentherapeutischer Behandlung von Bauch- und/oder Unterbauchregion
■ Strahlenzystitis, Strahlenkolitis
■ Zustand nach tiefer Beckenvenenthrombose
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Abbildung 5: Multimorbidität erfordert grosse Erfahrung bei der Kompressionstherapie.
Tabelle 4: Kontraindikationen Kompressionsbandage
Absolut ■ kardiales Ödem ■ arterielle Verschlusskrankheit ■ M.Sudeck ■ Sklerodermie
*nur unter ärztlicher Aufsicht
Relativ* ■ arterieller Hochdruck ■ Angina pectoris ■ Koronarsklerose ■ Herzrhythmusstörungen ■ Alter > 70
Abbildung 6: Geriatrisches Lymphödem.
Bei geriatrischen Patienten kann die erforderliche Kompression
nur mit stark reduziertem Druck angewandt werden (Abbil-
dung 6). Darüber hinaus muss bei diesen Patienten darauf
geachtet werden, dass die Mobilität nicht eingeschränkt und
dadurch die Sturzgefahr erhöht wird. Unter Berücksichtigung
des Lymphödemstadiums und bei entsprechender Mitarbeit
des Patienten erzielt die KPE eindrucksvolle Ergebnisse
(Abbildung 1).
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Eine im Mai aktualisierte Leitlinie zur «Diagnostik und Therapie der Lymphödeme» ist unter www.leitlinien.net abrufbar.
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads
Beim täglichen Tragen der Kompressionsstrümpfe sind diese nach sechs bis acht Monaten in ihrer Wirkung verschlissen und müssen daher erneuert werden, um einen Ödemrückfall zu vermeiden (Abbildung 4). Es gehört zu den Aufgaben des Hausarztes, den Lymphödempatienten während der Phase II der KPE – das heisst in der Regel lebenslang – regelmässig zu kontrollieren, um zu entscheiden, wann neue Kompressionsstrümpfe rezeptiert werden müssen. Wird ein neues Rezept ausgestellt, ist vom Hausarzt zu entscheiden, ob die alten Masse der Gliedmasse noch gelten oder ob gegebenenfalls im qualifizierten Sanitätshaus neue Masse genommen werden müssen.
Dr. med. Michael Oberlin Facharzt für Innere Medizin Földiklinik – Fachklinik für Lymphologie
D-79856 Hinterzarten
Interessenkonflikte: Der Verfasser ist Generalsekretär der GDL — Gesellschaft Deutschsprachiger Lymphologen. Der Verfasser hält honorierte Vorträge für URGO und BSN-Jobst.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 12/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Mögliche Kontraindikationen Bevor der Hausarzt entscheidet, den Patienten zur Therapie des Lymphödems zum Physiotherapeuten zu schicken, muss er mögliche Kontraindikationen der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE) berücksichtigen (Tabelle 3 und 4).
KPE bei Multimorbidität Im Falle umfangreicher Multimorbidität müssen individuell eine bestehende KHK sowie grenzkompensierte Herz-/Nieren-/ Leberinsuffizienzen berücksichtigt werden, um den Patienten zum Beispiel durch Kompressionstherapie nicht vital zu gefährden. Eine bestehende diabetische Polyneuropathie sowie eine fortgeschrittene CVI mit Dermatoliposklerose und gegebenenfalls floridem Ulcus cruris stellen besondere Anforderungen an die Dosierung der Kompression, um keine Hautschäden zu verursachen (Abbildung 5).
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