Transkript
INTERVIEW
«Abspeckprogramme sind Psychoterror!»
Ein Gespräch mit dem Ernährungsmediziner Gunter Frank
Folgt man den zahlreichen Veröffentlichungen in
der Laien- und Fachpresse, haben Übergewicht und
Fettleibigkeit inzwischen epidemische Ausmasse
angenommen, mit gravierenden gesundheitlichen und
ökonomischen Folgen. Der Heidelberger Ernährungs-
mediziner Gunter Frank hält dies für Panikmache, hin-
ter der vor allem wirtschaftliche Interessen stecken.
In einem Gespräch mit ARS MEDICI erläutert er, warum
seiner Meinung nach Übergewicht wenig mit Kalorien
zu tun hat und dass Abspeckprogramme eher Schaden
anrichten als helfen.
ARS MEDICI: Ärzte und Gesundheitspolitiker schlagen Alarm. Immer mehr Menschen leiden unter Übergewicht und immer häufiger beginnt diese Entwicklung schon im Kindesund Jugendalter. Dr. med. Gunter Frank: Ich sehe das nicht so dramatisch. Es gibt im Grunde nur 2 aussagekräftige Studien, die nach den Regeln der Epidemiologie durchgeführt wurden. Da ist zum einen die KIGGS-Studie* des Robert-Koch-Instituts (RKI) von 2006. Demnach sind 9 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig, 6 Prozent sind adipös. Leider gibt es hierzu keine Vergleichsdaten aus früheren Jahren, die man bräuchte, um eine Entwicklung aufzuzeigen. Eine vom RKI herangezogene ältere Studie aus Jena ist dazu nicht geeignet. Aber wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, war die Körpergewichtsverteilung doch ähnlich. Im Kindergarten meiner Tochter sind fast alle Kinder normalgewichtig. Die bei Kindern verwendete Perzentileneinteilung in übergewichtig und adipös wurde übrigens aus rein statistischen Gründen gewählt und hat zunächst überhaupt keine Gesundheitsaussage. Die andere grosse Erhebung, in der seit Jahrzehnten die Daten von Millionen von Menschen eingegangen sind, stammt vom
Atlanta Center of Disease Control and Prevention. Dabei zeigt sich, dass die Zahl der Adipösen zwar zugenommen hat, aber auch nicht derart, dass man von einer Epidemie sprechen kann. Bei dieser Untersuchung zeigte sich, dass der Zusammenhang von Übergewicht und Mortalität weit überschätzt wird.
ARS MEDICI: Aber die Daten der NHANES** aus Atlanta zeigen doch einen deutlichen Anstieg der Adipositas! Im Alter von 2 bis 5 Jahren stieg die Zahl der Fettleibigen von 5 Prozent in den Jahren 1976 bis 1980 auf 12 Prozent in den Jahren 2003 bis 2006. Auch in der Schweiz konnten beispielsweise Untersuchungen im Kanton Basel-Stadt zeigen, dass sich die Zahl der übergewichtigen und adipösen Kinder seit den Achtzigerjahren mindestens verdoppelt hat ... Frank: ... und die Schulkinder in Brandenburg nehmen ab. Essen die Basler Kinder nur noch Fast Food? Die Klassifikation «übergewichtig» begann in den USA früher übrigens bei einem BMI von 27,5, heute ist man ab einem BMI von 25 übergewichtig. Auch so kann man Zahlen erhöhen. Fachleute wie der Entdecker des Leptins, Jeffrey Friedman, raten auch zur Mässigung: «Bevor Leute von einer Epidemie reden, sollten sie wirklich verstehen, was die Zahlen sagen oder nicht sagen.» Die Amerikaner haben über viele Jahre etwa 3 bis 4 kg zugelegt, die Adipösen jedoch 10 bis 15 kg. Und das obwohl sie ständig Diät machen, oder vielleicht gerade weil sie es machen? Allgemein lässt sich sagen, dass seit etwa 250 Jahren eine säkulare Akzeleration stattfindet: Die Menschen werden grösser und schwerer – und leben länger.
«Es geht hier um einen grossen
Diätmarkt mit einer gewaltigen Macht
des Marketings»
ARS MEDICI: Sie bezweifeln also alle alarmierenden Erhebungen? Frank: Absolut. Nehmen wir beispielsweise die IASO***-Studie, nach der deutsche Männer im Jahr 2007 Europameister im Übergewicht waren. In Wirklichkeit sind, wie die Autoren selbst anmerken, die Daten aufgrund unterschiedlicher und
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Zur Person
Dr. Gunter Frank studierte Medizin in Heidelberg und Chicago. Seit 1997 ist er selbstständig in einer allgemeinmedizinischen Praxis tätig. Er ist Referent und Projektleiter an der Business
School St. Gallen und Vorstandsmitglied des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Frank ist Koleiter der grössten deutschen gesundheitlichen
Führungskräftestudie, der SHAPE-Studie, deren Ergebnisse am Institut für Public Health Mannheim der Universität Heidelberg ausgewertet werden.
Buchveröffentlichungen u.a.: Lizenz zum Essen, Piper, 2008.
ARS MEDICI: Gibt es denn Ihrer Meinung nach keine Probleme mit Übergewicht oder Fettleibigkeit? Frank: Selbstverständlich gibt es eine morbide Adipositas. Wenn jemand mit einem Gewicht von 150 kg in die Sprechstunde kommt, dann hat er sehr wahrscheinlich deshalb gesundheitliche Probleme. Das ist eine Blickdiagnose, für die ich keinen BMI brauche. Es ist aber definitiv so, dass die meisten Übergewichtigen und Adipösen gesund sind. Es gibt jedoch Fettleibige, die krank sind, und es gibt Kranke, die fettleibig werden. Dies sind wahrscheinlich viele Tausend Personen, und sie brauchen auch Hilfe. Der Fehler ist, dass wir die Millionen von gesunden Molligen dazu in einen Topf schmeissen und allen empfehlen, abzunehmen. Das Entscheidende ist für mich jedoch, dass es keine verlässliche Therapie zur langfristigen Gewichtsreduktion gibt. Das bestätigen uns alle Fachgesellschaften in ihren offiziellen Veröffentlichungen. Wir fordern also etwas von Millionen von Menschen, denen wir gar nicht sagen können, wie es geht. Das nenne ich Psychoterror! Statt einzuräumen, dass wir keine verlässliche Methode haben, heisst es, die Dicken seien undiszipliniert – und das ist feige und ziemlich gemein. Und jetzt wird es noch schlimmer: Weil die Abspeckprogramme im Erwachsenenalter scheitern, setzt man schon bei den Kindern an.
zum Teil fragwürdiger Erhebungen gar nicht zwischen den einzelnen Ländern vergleichbar. Trotzdem basierten darauf Kampagnen in Deutschland, und es wurde ein Regierungsprogramm lanciert. Laut IASO-Studie von 2007 sollen 75 Prozent der deutschen Männer übergewichtig bis adipös sein – gemäss den willkürlichen Festlegungen des BMI. 50 Prozent der deutschen Männer befinden sich demnach in der BMI-Klasse 25 bis 30 und sind damit übergewichtig. Nun zeigen aber alle Erhebungen, dass dies genau die Gewichtsklasse ist, in der die Menschen am längsten leben. Eigentlich ist die IASOErhebung somit eine gute Nachricht für Deutschland. Wir sollten bei dem ganzen Getöse nicht vergessen, dass es hier um einen grossen Diätmarkt mit einer gewaltigen Macht des Marketings geht, und so verwundert es nicht, dass die Daten nach Bedarf ausgelegt werden.
ARS MEDICI: Das hört sich an wie eine Verschwörungstheorie … Frank: Was heisst denn Verschwörungstheorie! Es geht um die realistische Einschätzung der Welt, in der wir leben, und die heisst bei uns freie Marktwirtschaft. Ich bin sehr froh, in einer freien Marktwirtschaft zu leben, bin aber nicht naiv. Wenn mit Diätartikeln ein ähnlicher Umsatz wie mit Rüstungsgütern erzielt wird, setzt das Kräfte frei, über deren Ergebnis man in Form von angeblichen Übergewichtskatastrophen jeden Tag in der Presse lesen kann. Der Markt muss gepflegt werden. Wenn ich oder ARS MEDICI einen Appetitzügler herstellen würde, würden wir genau das tun. Oder wir würden wie die Firma Knoll als Reductil®-Hersteller die deutschen Adipositasrichtlinien finanzieren.
«Subkutanes Fett ist kein Produkt von
Nahrung und Bewegung»
ARS MEDICI: Welche Erfahrungen machen Sie denn mit den Dickleibigen? Frank: Ich sehe Menschen, die vor allem daran leiden, dass alle, selbst die Freunde und die Familie, auf sie einhacken: «Iss doch mal weniger!» In Wahrheit, das zeigen Studien, essen Dicke tendenziell sogar weniger als Dünne, und das ist physiologisch auch plausibel, wenn man mal in Richtung Wärmeabstrahlung denken würde. Stattdessen unterstellt man den Dicken, sie machten falsche Angaben über ihr Essverhalten. Jetzt werden sie also auch noch zu Lügnern abgestempelt. Es wird einfach nicht zur Kenntnis genommen, dass subkutanes Fett kein Produkt von Nahrung und Bewegung ist, sondern einem genetischen Programm folgt, was stark an den Hormonhaushalt gekoppelt ist. Mit Kalorien hat das ziemlich wenig zu tun.
ARS MEDICI: Sie meinen, die Kalorienbilanz habe nichts mit dem Körpergewicht zu tun, sondern vor allem mit Genetik? Viele Menschen, dickere und dünnere, stellen an sich fest, dass sie etwa in der Weihnachtszeit mit ihrem fröhlichen Schlemmen an Gewicht zulegen. Allein solche Erfahrung spricht doch gegen Ihre Annahme. Frank: Das ist doch genau der Fehler. Nur weil mein Gewicht kurzfristig durch Mast und Diät beeinflussbar ist, wird der Trugschluss gezogen, dass dies auch langfristig funktioniert.
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Langfristig steuert aber unser Stammhirn dagegen, und zwar umso effektiver und schneller, je mehr Diäterfahrung unser Stoffwechsel machen musste. Hierzu gibt es hervorragende Langzeitstudien zu Mast und Diät des amerikanischen Zwillingsforschers Bouchard. Es kommt immer zum Jo-Jo-Effekt.
ARS MEDICI: Was raten Sie den übergewichtigen Patienten, die zu Ihnen in die Praxis kommen? Frank: Ich beginne mit einer genauen Anamnese und einer Ausschlussdiagnostik. Danach sehe ich meine Aufgabe inzwischen vor allem darin, Mollige und Fettleibige psychisch zu stärken. Ich sage ihnen, dass sie als Übergewichtige bei Weitem nicht das erhöhte gesundheitliche Risiko haben, wie es immer heisst. Vor allem aber erkläre ich ihnen, dass sie an ihrem Gewicht keine Schuld tragen. Sie erhalten von mir gewissermassen eine Lizenz zum Essen. Sie sollen lernen, zu ihrem Körper zu stehen, damit sie sagen können: «Ich lasse mir meinen Körper nicht miesmachen!» – auch nicht vom Orthopäden, der ihnen, wenn sie mit Rückenschmerzen kommen, sagt: «Nehmen Sie erst mal 20 Kilo ab ...» Ich kann Ihnen versichern, in solchen Gesprächen fliessen Tränen.
ARS MEDICI: Sie bestreiten, dass es einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und orthopädischen Problemen gibt? Frank: Natürlich setzt das Übergewicht den Gelenken auf Dauer zu. Aber denken Sie mal an die Hobbyfussballer. Als Profis tragen sie ein 47,75-fach grösseres gesundheitliches Risiko als andere Berufsgruppen, und das betrifft vor allem die langfristigen Gelenkschäden. Wenn jemand zehn Jahre Hobbyfussball spielt, wird das nicht viel anders sein. Kommt jemand auf die Idee, dass Fussballer einen Gelenkersatz selber zahlen sollen? Genau das wird ja von besonders seriösen Gesundheitspolitikern, wie etwa dem CSU-Abgeordneten Zöller, bei Dicken gefordert. Soll er das doch mal von Hobbyfussballern fordern! Na da wäre was los, ganz abgesehen davon, dass wir doch nicht wirklich eine Gesundheitspolizei wollen. Mit Molligen darf man aber so umgehen. Neuerdings werden in den Zeitungen Mollige für die Klimakatastrophe verantwortlich gemacht, weil sie angeblich mehr essen und mehr Energie verbrauchen. Ich frage Sie: Wie tief soll das Niveau noch sinken? Wann fangen wir endlich an zu begreifen, dass dies alles Teil einer ziemlich gemeinen Diskriminierungkampagne gegen einen Bevölkerungsteil aufgrund eines Körperbaumerkmals ist.
ARS MEDICI: Wie grenzen Sie denn eine morbide Adipositas von gesundem Übergewicht ab? Frank: Mit Diagnostik. Wieso soll ich einem Fettleibigen sagen, er sei krank, wenn im Labor oder kardiologisch alles in Ordnung ist? Allerdings fallen ein paar Dinge auf: Bei einem Patienten mit auffälligem Übergewicht bestimme ich die Schilddrüsenfunktion. Viele meiner Patienten haben ein erhöhtes TSH und normale Schilddrüsenwerte, was mir noch kein Endokrinologe erklären konnte. Auch das polyzystische Ovar geht mit Gewichtszunahme einher. Zu denken ist auch
«Subkutanes Fett hat mit Kalorien ziemlich wenig zu tun …»
Foto: DAK/Wigger
an den Einfluss von Medikamenten, wie etwa Antihistaminika, Antibabypille und Spirale. Ebenso müssen alle Formen von Cushing, extern die Langzeiteinnahme von Cortison, intern aber auch Langzeitstress und Cortisol beachtet werden. Viele Ursachen kennen wir auch noch nicht. Auffallend auch: Alle Fettleibigen, die bei mir waren, hatten eine sehr lange Diätkarriere hinter sich, meist beginnend in der Jugend.
ARS MEDICI: Mit Präventionsprogrammen etwa in Schulen versucht man zunehmend, auf das Verhalten der einzelnen und auf die Verhältnisse, etwa das Kantinenessen, einzuwirken. Was ist denn dagegen einzuwenden, wenn man von Kindesbeinen an Bewegung und gesunde Ernährung einübt? Frank: Nichts gegen Bewegung und gute Ernährung. Wenn sie aber auf falschen wissenschaftlichen Annahmen beruhen sowie Ängste und Diskriminierung zur Folge haben, dann sind sie kontraproduktiv. Und genau das ist meist der Fall. Fragen Sie einmal bei den Verantwortlichen nach, dann werden Sie mit Konsensuspapieren abgespeist. Publizierte Studien über den Erfolg solcher Initiativen wird man Ihnen nicht nennen. Sie merken, ich vermeide den Begriff «gesunde Ernährung». Dieser wird heute über den Nährwert definiert. Über die Nährwerttabellen, die die Ernährungswissenschaftler als objektiven Massstab nutzen, schütteln diejenigen, die sich in der Analytik auskennen, wie die Lebensmittelchemiker, nur den Kopf. Nein, gute Ernährung hat viel mehr mit Bekömmlichkeit zu tun. Es geht konkret um die Tatsache, dass Nahrungsmittel sich biochemisch gegen dass Gefressenwerden wehren und traditionelle Zubereitungstechniken in einer erstaunlich raffinierten Weise Speisen entgiften. Zucker in der Tomatensosse beispielsweise entgiften die höchst unangenehmen Lektine,
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oder in die Linsensuppe kommt ein Stückchen Speck oder Rahm, weil Fett dort ähnlich wirkt. Hierzu gibt es Tausende von Beispielen, die die Toxikologen kennen, für die sich die Ernährungswissenschaft aber nicht interessiert. Würden solche Programme endlich eine Lobby für gutes Essen, damit meine ich eine richtige Hühnersuppe oder richtigen Kartoffelbrei, bedeuten, wäre ich hellauf begeistert. So aber verteufelt man zum Beispiel Pommes frites. Wahrscheinlich weil sie kleinen Kindern schmecken. Aber warum schmecken sie kleinen Kindern? Kartoffeln sind eigentlich hochgiftig. Die einzige Form, wie sie der noch zarte Verdauungstrakt von kleinen Kindern akzeptiert, ist die nach Erhitzung auf 170° C, und genau das geschieht bei der klassischen Herstellung von Pommes frites. Erst später akzeptieren Kinder auch Pellkartoffeln. Entgegen der Idee einer vollwertigen Ernährung halte ich ein solches Verständnis von guter Ernährung für wesentlich naturwissenschaftlicher.
ARS MEDICI: Aber es ist doch gut bekannt, wie segensreich Bewegung und Bewegungsabnahme sein können. Denken wir an Menschen mit metabolischem Syndrom oder an Typ-2-Diabetes, der angeblich immer mehr zunimmt und schon bei Kindern vorkommt. Durch Bewegung und Gewichtsabnahme kann man den Diabetes sogar loswerden. Frank: Falsch, der Diabetes mellitus nimmt in der Gesellschaft altersbereinigt überhaupt nicht zu. Das sagt auch das RobertKoch-Institut, um dann aber gleichzeitig wieder vor den Folgen zu warnen. Auch die dramatische Entwicklung von Altersdiabetes bei Kindern verpufft bei genauem Hinsehen. Betroffen sind seltene genetische Dispositionen. Meiner Meinung nach hat man diese Kinder früher schlicht nicht gescreent.
«Was in Davoser Abspeckkliniken gemacht
wird, grenzt an Körperverletzung»
ARS MEDICI: Sie sorgen sich besonders um die Kinder ... Frank: Ja, ich denke dabei übrigens auch an die Schweiz. Was dort in Abspeckkliniken in Davos mit den dicken Kindern gemacht wird, grenzt meiner Meinung nach an Körperverletzung. Ich denke an Aktionen wie in diesem Sommer: Da sitzt täglich zum Beispiel ein achtjähriger molliger Junge vor der Kamera und sagt Sätze wie: «Ich weiss, ich ess falsch, aber hier sind alle ganz lieb zu mir, und alle meinen es gut, hier lerne ich, mich richtig zu bewegen und richtig zu essen.» Die Leute machen sich nicht klar, was sie bei den Kindern anrichten. Wir sehen inzwischen, dass solche Abspeckprogramme nichts erreichen, ausser dass die Kinder unglücklich werden. Ich sehe darüber hinaus auch Anzeichen dafür, dass solche Programme sogar erst richtig dick und dann auch krank machen.
ARS MEDICI: Bitte? Wieso das denn? Frank: Man möge sich bitte mal die Arbeiten des amerikanischen Psychologen Myles Faith anschauen. Der hat nämlich
deutliche Hinweise dafür gefunden, dass mollig veranlagte Kinder besonders dann zunehmen, wenn sich ihre Eltern Sorgen machen, dass ihre Kinder zunehmen, und eine Nahrungsrestriktion einführen. Dazu muss man sich den vielfach publizierten Zusammenhang zwischen Dauerstress und Wachstum des viszeralen Bauchfetts klarmachen – des einzigen Fettgewebes, bei dem tatsächlich ein Bezug zu späteren chronischen Erkrankungen zu beobachten ist. Wohlgemerkt, dieses Körperfett entsteht nicht durch Mast, sondern durch Stress. Sagen wir Kampfgewicht dazu. Und nun bringen wir also schon den Vier- bis Fünfjährigen bei, dass sie im falschen Körper stecken, dass der Appetit ihr Feind ist, dass sie bestimmte Dinge machen und den Körper besiegen müssen, weil sie sonst nicht zum Kindergeburtstag eingeladen werden und später keinen Job kriegen. Und das hören sie tagaus, tagein. Und dann lernen sie Zielsetzungen, bei denen sie physiologischerweise scheitern müssen, weil der Körper immer wieder in Form von «binge eating» korrigierend eingreift. Doch daran sind nicht die Entwickler solcher Programme schuld, nein, das kleine Wesen war undiszipliniert und das, obwohl alle doch so nett sind. Das macht dann richtig Gewissensbisse, und so wird das dann jahrzehntelang weitergehen. Ein solches Essverhalten nennt man «restraint eating», und das gilt als enormer Stressauslöser. Deshalb stellen wir heute schon bei vielen Kindern, die an solchen Programmen teilgenommen haben, psychische Schäden fest, und mich würde es nicht wundern, wenn wir dadurch besonders viele fettleibige und kranke Erwachsene bekommen. Eltern rate ich, ihre Kinder davor zu schützen.
ARS MEDICI: Warum sehen Sie alle Massnahmen und Initiativen so negativ? Wenn Kinder zum Beispiel lernen, sich mehr zu bewegen, kann das doch eine Freude sein und einem natürlichen Bedürfnis entsprechen? Frank: Aber dazu brauche ich einen fähigen Sportlehrer und keine Diätassistentin. Natürlich ist Bewegung eine gute Sache. Generell ist in unserer modernen Gesellschaft alles zu begrüssen, was den Parasympathikus stärkt und Stress abzubauen hilft. Dies erreiche ich aber nur durch Freude und nicht durch Angstmotivation. Solche Fähigkeiten braucht man später dringend als Ausgleich für ein forderndes Berufsleben. Wenn man also allen Kindern mehr Sport anbietet, dann ist das prima! Aber bitte auch einen, wo mollige Kinder auch die Chance haben, nicht jedes Mal Letzter zu werden. Und bitte mollige Kinder nicht in eine Extragruppe stecken, in der sie ein T-Shirt, das einen grossen Wal zeigt, tragen müssen.
ARS MEDICI: Dr. Frank, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Uwe Beise.
Lesen Sie zum Thema auch das Editorial auf Seite 41.
* www.kiggs.de ** www.cdc.gov/obesity/childhood/prevalence.html *** www.iotf.org/database/index.asp
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