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Titel
Arsenicum: Null Absch(l)uss
Untertitel
-
Lead
J etzt titelte eine Zeitung: «Die Nullerjahre sind zu Ende!» Doch meine Praxisbilanz wies mehr Nullen als Ziffern auf. Meinen «Jahresabschuss» wolle er machen, schrieb mein Treuhänder. Ich musste ihn entwaffnen, damit er nicht auf das Jahr 2009 losballerte. Zeit kann man allenfalls totschlagen – trotzdem läuft sie weiter. Weder Abschuss noch Abschluss – panta rhei. Unsere Zeitzählung ist hingegen zum Schiessen. Fundamentalisten aus aller Welt sind sich uneinig, ob Herrscherdynastien, die Astronomie, die Hedschra Mohammeds, Jesu Geburt, die Erschaffung der jüdischen Welt oder der Todestag von Buddha der Anfang der Zeit ist. Wären die alten Römer, Chinesen, Seleukiden und Maya nicht tot, könnten sie mitstreiten. Die Universal Time Coordinated gilt – nicht die weltweit gleiche Swatch-Internetzeit, die die Zeitzonen austrickst. Doch wie man auch misst, ein Menschenleben ist für Geologen das Jiffy der Informatiker. Und was war die Stunde null?
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MEDIZIN — Rubriken
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903
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arsenicum
J etzt titelte eine Zeitung: «Die Nullerjahre sind zu Ende!» Doch meine Praxisbilanz wies mehr Nullen als Ziffern auf. Meinen «Jahresabschuss» wolle er machen, schrieb mein Treuhänder. Ich musste ihn entwaffnen, damit er nicht auf das Jahr 2009 losballerte. Zeit kann man allenfalls totschlagen – trotzdem läuft sie weiter. Weder Abschuss noch Abschluss – panta rhei. Unsere Zeitzählung ist hingegen zum Schiessen. Fundamentalisten aus aller Welt sind sich uneinig, ob Herrscherdynastien, die Astronomie, die Hedschra Mohammeds, Jesu Geburt, die Erschaffung der jüdischen Welt oder der Todestag von Buddha der Anfang der Zeit ist. Wären die alten Römer, Chinesen, Seleukiden und Maya nicht tot, könnten sie mitstreiten. Die Universal Time Coordinated gilt – nicht die weltweit gleiche Swatch-Internetzeit, die die Zeitzonen austrickst. Doch wie man auch misst, ein Menschenleben ist für Geologen das Jiffy der Informatiker. Und was war die Stunde null? Abschluss des Zweiten Weltkriegs und Anfang einer friedlichen Ära? Oder nur bei uns hier ein Time-out? (Frage des Layouters: Ist damit Zeitbeschränkung, Zeitüberschreitung oder Kampfpause gemeint?) Was als «Millennium» begann, soll nicht zu «Nullerjahren» reduziert werden, denn mit der Null assoziieren wir Versagen. Die Null mag zwar nichts sein, aber sie ist eine reelle Zahl. Echt neutral: die einzige, die weder positiv noch negativ ist. Sie ist das absorbierende Element der Multiplikation. Die Mächtigkeit der leeren Menge. Erst sie macht die moderne Mathematik möglich. Es war eine Null, die das Mathematikgenie Leonard Euler gegen das PermanenzPrinzip verstossen liess, als er postulierte, dass die Division von 1/0 unendlich ergäbe. Informatiker kennen gar drei Null-Arten: den speziellen Wert NULL, die Ziffer 0 und die Zahl Null. Wann ist es null Uhr? Um Mitternacht? Am Donnerstag, dem 31.12.09, um 24:00 Uhr, endeten der Tag und das Jahr. Also nicht das Gleiche wie Freitag 1.1.2010 um 0:00 Uhr, dann begann das zweite Dezennium. Oder auch nicht. Denn das als «historische Dekade» definierte Jahrzehnt wird erst vom ersten Jahr an gezählt. Das zweite Jahrzehnt beginnt am 1. Januar

2011. Doch bereits an Neujahr 2020 sind wir in den Zwanzigerjahren, wenn wir die «usuelle Dekade» anwenden. Sie ist anders definiert – sie beginnt mit null und endet mit neun, schliesst also 2020 ein und 2030 aus – und ist nicht dasselbe wie das «3. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts». Ich würde mich wohler fühlen, jetzt nicht die Triplenuller «abzuschliessen», sondern «in die Zehnerjahre» zu kommen. Das erinnert an die angenehmen Zeiten, als man ein erfahrenes Kind war, obgleich dazu auch das beunruhigende Teenagerdasein gehörte. Wie jedes Jahr, wie in jeder Dekade, war ich beim Anschauen von TV-Jahresrückblicken erstaunt, was alles so passiert ist, an das ich null Erinnerung habe. Man schliesst ab. Nicht nur einen Zeitabschnitt, sondern auch eine Krankengeschichte, eine Entwicklung, eine Tür. Obwohl das Leiden des Patienten weitergeht, die Entwicklung sich nicht stoppen lässt und Türen, die nicht aufgehen, notfalls eingetreten werden. Aber ein Abschluss ist noch das kleinere Übel als der Abschuss. Reformationen oder genervtes Beiseite-/Aufschieben von ungelösten Problemen sind mir lieber als Revolution, Krieg und Tötung. Wenn in den Teppichetagen von Wirtschaft oder Politik wieder eine(r) «abgeschossen» wird, bedauere ich das. Gewaltsame Enden sind mir zu dramatisch. Nur Shakespeare inszeniert sie gut. Im Theater stehen die Leichen wieder auf und verbeugen sich im Applaus. Im realen Leben zerstören Abschüsse meist mehr, als sie bringen. Ein Tyrannenmord mag grossartig erscheinen, aber besser wäre es, Despoten durch couragiertes Verhalten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mein Sohn beendet meine philosophischen Träumereien. Er hilft mir, den Jahresabschluss für den Treuhänder zu computerisieren. «Unternehmerisch und was den Compi betrifft, bist du eine Null!», grummelt er. Das ist Patriarchats-Prophylaxe! Dabei hat mir gerade eine Patientin gesagt, ich sei eine «starke Nummer». Nun, abschliessend sei gesagt, dass darüber erst die Zeit entscheiden wird …

Null Absch(l)uss

6 ARS MEDICI 1 ■ 2010