Transkript
FORTBILDUNG
Wie oft soll der Blutzucker gemessen werden?
Deutsche Diabetologen machen Vorschläge für eine individualisierte Messfrequenz
Die Selbstmessung der Blutglukose (SMBG) gilt als
wichtige Grundlage für eine optimale Stoffwechsel-
einstellung beim Diabetiker. Die Messungen sollten
sich an der individuellen Situation des Diabetikers
ausrichten, fordern deutsche Diabetologen und
machen in «Der Diabetologe» Vorschläge für eine
individualisierte Messfrequenz.
DER DIABETOLOGE
Bis heute lässt sich nicht sagen, welchen Beitrag genau die Selbstmessung der Blutglukose (SMBG) für die Stoffwechselkontrolle bei Diabetikern leistet. Das mag überraschen, liegen doch zu dieser Frage inzwischen mehr als 20 randomisierte, kontrollierte Untersuchungen vor. Die meisten Studien zeigen zwar einen Effekt, der aber fällt, analysiert man die nackten Zahlen, recht bescheiden aus. In diesem Jahr kam beispielsweise das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in seinen Analysen zu dem Ergebnis, dass durch die SMBG gerade einmal eine Reduktion des HbA1c um 0,23 Prozent erreicht wird (verglichen mit einer Behandlung ohne Selbstmessung). Deutsche Diabetologen haben daraufhin umgehend Bedenken an dem Bericht des IQWiG (www.iqwig.de) angemeldet. In einer Stellungnahme bemängelt die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG), dass es schlechterdings nicht möglich sei, die «Intervention Blutzucker-Selbstmessung» isoliert zu bewerten, ohne die strukturierten Schulungs- und Behandlungsprogramme als Ganzes zu betrachten, in denen die Blutzuckermessung eben nur eine von mehreren Komponenten in einem komplexen Management sei. Die Diabetologen vertreten die bekannte Auffassung, dass eine gute Betreuung und Behandlung erst durch eine hinreichende Kontrolle des Blutglukosespiegels ermöglicht wird, was schliesslich einen positiven Mittel- und Langfristeffekt auf den Krankheitsverlauf zeitige. Die Blutzuckermessung, so heisst es, sei keine Intervention, sondern eine diagnostische Prozedur. «Als solche hat sie keinen Einfluss auf die Stoffwechselkontrolle, genauso wenig wie die Blutdruckmessung den Blutdruck senkt oder die Messung des Körpergewichts das Gewicht senkt.»
Wertlos ohne adäquate Behandlungsstrategie Die SMBG sei also nur dann sinnvoll, wenn aus ihr tatsächlich therapeutische Konsequenzen folgten. In vielen Studien ist dieser Aspekt vernachlässigt worden; Patienten waren nicht aufgefordert, ihre Therapie entsprechend anzupassen. Darauf weist eine Autorengruppe deutscher Diabetologen in einem Beitrag in «Der Diabetologe» hin. Darin vermerken sie, die Empfehlungen zur Selbstmessung bei Typ-1-Diabetikern beruhten vornehmlich auf Erfahrungen, die während der Ausarbeitung und Evaluation von Behandlungsmethoden mit Insulin gesammelt wurden. Die SMBG ermögliche als integraler Bestandteil des Selbstmanagements die Dosierung von Insulin in Abhängigkeit von der Kohlenhydratmenge, der Zusammensetzung der Nahrung, von Aktivität, Stress und Tageszeit. Ziel sei es, durch die Selbstmessung des Blutzuckers Hypoglykämien und längere Phasen von hohem Zucker zu vermeiden. «Trotz der unbefriedigenden Studienlage würde es heute jede Studienkommission als unethisch betrachten, eine randomisierte Studie mit Typ-1-Diabetikern durchzuführen, bei der die SMBG gegen die Nicht-SMBG verglichen wird», erklären sie. Aber auch für Typ-2-Diabetiker halten sie eine SMBG für angezeigt, wenn «die Ergebnisse in dem Beratungsgespräch zwischen Arzt beziehungsweise Diabetesberaterin und Patient diskutiert und Handlungsempfehlungen gemeinsam erarbeitet werden». In validierten Schulungsprogrammen (z.B. MEDIAS) spiele die SMBG beim «Empowerment» des Patienten eine grosse Rolle. Kürzlich, so fügen sie hinzu, sei die Wirksamkeit eines strukturierten SMBG-Programms auf Lebensstil und kardiovaskuläre Risikofaktoren bei Typ-2-Diabetikern nachgewiesen worden. Andererseits gelte: «Sind Patienten trotz Schulung, Training und Motivation nicht bereit oder in der Lage, therapeutische Konsequenzen akut und langfristig aus der Selbstmessung zu ziehen, so ist der Nutzen der SMBG gering.»
Merksätze
■ Blutzucker-Selbstmessungen sind integraler Bestandteil des Selbstmanagements des Diabetikers.
■ Sie versprechen aber nur dann einen Nutzen, wenn die Messergebnisse auch therapeutische Konsequenzen nach sich ziehen.
■ Je nach individueller Situation sind mehr oder weniger Messungen erforderlich.
ARS MEDICI 23 ■ 2009 981
FORTBILDUNG
Tabelle: Empfohlene Frequenz der Blutzucker-Selbstmessung
Instabile Glykämiephase
Typ-1-Diabetes ■ intensivierte Insulintherapie ■ Insulinpumpe
Hohe SMBG-Frequenz 7 bis 8 Teststreifen pro Tag (vor und nach den Hauptmahlzeiten, vor dem Schlafengehen, gelegentlich nachts)
Typ-2-Diabetes ■ intensivierte Insulintherapie
Moderate SMBG-Frequenz 4 Teststreifen pro Tag und 2 7-PunkteTagesprofile pro Woche (vor und nach den Hauptmahlzeiten oder vor dem Schlafengehen)
Typ-2-Diabetes ■ konventionelle Insulintherapie ■ OAD-Behandlung mit eingeschränkter ■ Nierenfunktion und/oder Gefahr von ■ Hypoglykämien
Moderate SMBG-Frequenz 3 bis 4 Teststreifen pro Tag und 2 6- bis 7-Punkte-Tagesprofile pro Woche (vor und nach den Hauptmahlzeiten plus evtl. vor dem Schlafengehen)
Typ-2-Diabetes ■ kein Insulin ■ OAD-Therapie ohne Gefahr von ■ Hypoglykämie ■ diätetisch behandelt
Moderate SMBG-Frequenz 2 bis 3 6-Punkte-Tagesprofile pro Woche, Werktag und Wochenende (vor und nach den Hauptmahlzeiten und evtl. vor dem Schlafengehen)
OAD: orale Antidiabetika, mod. nach Martin et al., 2009
Stabile (gute) Glykämiephase Niedrige SMBG-Frequenz
3 bis 5 Teststreifen pro Tag (vor den Hauptmahlzeiten, vor dem Schlafengehen, gelegentlich weitere Messungen) Niedrige SMBG-Frequenz 3 Teststreifen pro Tag (vor den Hauptmahlzeiten)
Niedrige SMBG-Frequenz 1 6-Punkte-Tagesprofil pro Woche (alternierend Werktag und Wochenende) (vor und nach den Hauptmahlzeiten)
Konfirmatorische SMBG-Frequenz In grösseren Abständen repräsentative 6-PunkteTagesprofile (max. 3–4 pro Quartal)
Nach den Empfehlungen der Autoren sollte der Blutzucker normalerweise, ausser bei Verdacht auf eine Hypoglykämie, nur zu definierten Zeitpunkten gemessen werden. Ein entsprechendes Tagesprofil ergibt sich aus den Messungen «nüchtern, vor und 11⁄2 bis 2 Stunden nach den Hauptmahlzeiten». Einzelne Messungen am Tag seien wenig aussagekräftig. In besonderen Situationen könne der Blutzucker ausserdem vor dem Schlafengehen und/oder in der Nacht gemessen und protokolliert werden. Idealerweise sollten die Werte grafisch dargestellt werden, was Patienten und Diabetesteam die Interpretation erleichtere. Die Autoren fordern von den Herstellerfirmen entsprechende Vordrucke oder Softwarelösungen. Die SMBG ist zudem integraler Bestandteil in Schulungsprogrammen. Durch «ereignisgesteuerte» Blutzuckermessungen könnten die Auswirkung unterschiedlicher Nahrungsmittel (ballaststoffreiche Kost mit niedrigem glykämischem Index) und ungünstigen Nahrungsmitteln (schnell resorbierbare KH und Alkohol) erläutert werden. Um den Einfluss sportlicher Aktivität auf den Stoffwechsel zu ermitteln, empfehlen die
Aktuell: Kostenübernahme in der Schweiz
In der Schweiz gilt die bis anhin befristete Übernahme der Kosten für die Blutzucker-Selbstmessung bei nicht insulinpflichtigem Diabetes nun definitiv. Die Kostenübernahme für diese Patientengruppe war — im Gegensatz zum insulinpflichtigen Diabetes — erst provisorisch gültig, da vor zwei Jahren der Nutzen noch nicht ausreichend belegt war. Hingegen wird der Höchstvergütungspreis für die Teststreifen um 10 Prozent gesenkt, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Bern Ende Oktober mitteilte.
Autoren jeweils eine Messung vor dem Frühstück, vor und nach dem Sport sowie vor dem Frühstück am folgenden Tag.
Bei stabiler Stoffwechsellage
reichen wenige Messungen
Besondere Umstände erfordern eine Anpassung der SMBG-Fre-
quenz. Ein Beispiel: Patienten mit stabiler Stoffwechsellage, die
sich einer Kortikosteroidtherapie unterziehen müssen, sollten die
SMBG-Frequenz erhöhen. Das gilt nach Auffassung der Autoren aus-
drücklich auch für Typ-2-Diabetiker unter oralen Antidiabetika.
Bei Patienten, die eine stabile Stoffwechsellage erreicht haben,
sollte die Messfrequenz auf ein Minimum reduziert werden.
Häufige Messungen seien in diesen Fällen nicht ökonomisch
und medizinisch nicht notwendig, heisst es in dem Artikel. De-
taillierte Empfehlungen zur Messung beim Typ-1- und Typ-2-
Diabetes sind in der Tabelle zusammengefasst. Die Autoren un-
terscheiden je nach Diabetestyp und Therapieform eine stabile
und eine instabile Phase. Zu Letzterer zählen beispielsweise
ein neu diagnostizierter Diabetes oder akute Erkrankungen
wie Infektionen, Stoffwechselentgleisungen (z.B. Trauma, Op)
oder das Auftreten häufiger Hypoglykämien und Hypoglykä-
mie-Wahrnehmungsstörungen.
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Interessenlage: Die Diskussionsplattform für die Autoren zur Erarbeitung dieser Stellungnahme wurde durch eine nicht an Bedingungen geknüpfte Projektunterstützung von Roche Diagnostics unterstützt. Zwei Autoren erhielten Vortragshonorare von Roche Diagnostics und Terumo. Die anderen Autoren geben keinen Interessenkonflikt in Verbindung mit diesem Artikel an.
S. Martin, et al.: Rolle der Selbstmessung der Blutglukose (SMBG) bei Diabetes mellitus. Empfehlungen für eine individualisierte Messfrequenz. Diabetologe 2009: 5: 460—470.
Uwe Beise
982 ARS MEDICI 23 ■ 2009