Transkript
PRAXISSTUDIE
Eisenmangelsyndrom IDS (Iron Deficiency Syndrome)
Eine multizentrische deskriptive Arzneimittelanwendungsbeobachtung
Im Rahmen dieses multizentrischen Praxiserfahrungs-
berichts werden die Häufigkeit von Eisenmangelsym-
ptomen mit oder ohne Anämie in der Hausarztpraxis
ermittelt sowie Erfolgsquoten und Verträglichkeit
einer individuell dosierten Therapie mit Eiseninfusio-
nen unter Anwendung des Grenznutzenprinzips bei
Frauen mit einem Ferritinwert < 75 ng/ml dargestellt.
BEAT SCHAUB*
Einleitung Insbesondere Frauen im Menstruationsalter leiden oft unter Symptomen wie Erschöpfung, depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen und Kopfschmerzen. 2006 fassten wir diese Symptome erstmals unter dem Begriff Eisenmangelsyndrom IDS (Iron Deficiency Syndrome) zusammen (1), und 2008 konnten wir sie anhand eines multizentrischen Praxiserfahrungsberichts bestätigen (2). 2003 hat auch die Universität Lausanne darauf hingewiesen (3). Die ersten Symptome treten oft, wie in den oben genannten Publikationen dargelegt, schon bei Ferritinwerten unter 50 ng/ml (75 ng/ml) auf. In der vorliegenden Studie wurde untersucht, wie sich bei Patientinnen mit einem Ferritinwert < 75 ng/ml eine rasche individuell dosierte Aufsättigung mit Eiseninfusionen – mit einem initialen Ferritinzielwert von 200 ng/ml – auf die bei tiefen Ferritinwerten vorliegenden Symptome auswirkt, wenn diese Therapie nach einem neu entwickelten Konzept durchgeführt wird (Nutzen-Kosten-Optimierung: so viel Eisen wie nötig und so wenig wie möglich). Die Symptome wurden mit Alters- und Ferritingruppen korreliert. Gleichzeitig wurde die Problematik der Anämie untersucht. Es handelt sich bei dieser Publikation um eine Fortsetzung der im April 2008 publizierten Arbeit (2) über das Eisenmangel-
*Koautoren: Dr. med. P. Duner, Dr. med. HR. Fischer, Dr. med. A. Gut, Dr. med. R. Hertli, Dr. med. T. Kaufmann, Dr. med. O. Kehl, Dr. med. M. Kessler, Dr. med. J. Koller, Dr. med. W. Meier, Dr. med. H. Möllinger, Dr. med. H. Rauscher, Dr. med. C. Rindisbacher, Dr. med. R. Rordorf, Dr. med. C. Rothen, Dr. med. K.-D. Schuldt, Dr. med. G. Suter, Dr. med. F. von Orelli, Dr. med. E. Staeger, Dr. med. P. Wagner
syndrom. Damals konnte auf Verlaufsdaten von 873 Patienten (92% weibliche und 8% männliche) zurückgegriffen werden. Heute sind es bei unveränderter Fragestellung 1428 Patientinnen (inkl. Mädchen). Erstmals wurde ein Vergleich zwischen zwei Dosierungsarten (0,2 g Venofer® vs. 0,5 g Ferinject®) im Hinblick auf Wirksamkeit, Pharmakokinetik und Verträglichkeit möglich.
Methodik Die Datenerhebung erfolgte in 20 ärztlichen Eisenzentren (19 in der Schweiz und 1 in Deutschland). Die Therapieverläufe wurden im Rahmen einer prospektiven deskriptiven Arzneimittelanwendungsbeobachtung zwischen März 2006 und März 2009 in einer Internetdatenbank1 mit integrierter Dosisberechnungsformel (Basler Eisenformel nach Dr. Schaub) dokumentiert. Die in die Kohorte aufgenommenen Patientinnen waren vor allem Frauen im Menstruationsalter und Mädchen, die über Symptome wie Erschöpfungszustände und Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen und Kopfschmerzen berichteten. Zwecks Indikationsstellung für das IDS wurden die Beschwerden anhand eines Fragebogens erfasst. Die auf diese Weise erarbeitete Verdachtsdiagnose wurde durch einen Ferritinwert unter 75 ng/ml erhärtet. Lag dieser bei den oben genannten Symptomen unter 75 ng/ml und konnten andere potenzielle Ursachen sowie Kontraindikationen ausgeschlossen werden, wurde umgehend eine Behandlung mit Eiseninfusionen durchgeführt. Die Patientinnen erhielten für die Aufsättigung zweimal wöchentlich 200 mg Venofer oder einmal wöchentlich 500 mg Ferinject über einen individuell berechneten Zeitraum bis zum Erreichen der Gesamtmenge nach dem Grenznutzenprinzip. Drei Wochen nach der letzten Aufsättigungsinfusion (T2) sowie nach weiteren drei Monaten (T3) erfolgte ein Follow-up der behandelten Patientinnen. Es wurden die Veränderungen der Symptome und die Laborwerte erfasst. Auf der Basis dieser nach drei Monaten (T3) ermittelten Daten wurde die Folgetherapie (Erhaltungstherapie) festgelegt: Auch im Hinblick auf eine wirksame Rezidivprophylaxe kann die dafür individuell notwendige Menge an Eisen pro Jahr mit dem Computerprogramm des Health-Bankings berechnet werden.
1 Gesundheitsdatenbank Health-Banking (H-Banking) im Internet für Dokumentation, Mengenberechnung, Therapiesteuerung und Qualitätsmanagement
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EISENMANGELSYNDROM IDS (IRON DEFICIENCY SYNDROME)
Tabelle 1: Häufigkeit der Symptome (in %) vor der Therapie, korreliert mit Altersgruppen
Symptome
Häufigkeit bei Eisenmangelpatientinnen
n = 1428
Erschöpfungszustände Konzentrationsstörungen Depressive Verstimmungen Nackenverspannungen Kopfschmerzen Schwindel Schlafstörungen Anämie
89% (n = 1275) 58% (n = 833) 53% (n = 763) 49% (n = 705) 50% (n = 719) 45% (n = 644) 44% (n = 625) 12% (n = 172)
< 15
n = 56
88% 79% 43% 16% 41% 45% 36% 11%
15—20 21—30 31—40 41—50 > 50
n = 146
84% 51% 44% 38% 49% 36% 38% 10%
n = 241
88% 55% 49% 49% 54% 48% 36% 12%
n = 361
91% 60% 60% 54% 54% 48% 41% 12%
n = 429
89% 60% 57% 54% 51% 45% 49% 14%
n = 195
91% 54% 49% 49% 42% 44% 53% 8%
Eine Behandlung wird als erfolgreich definiert, wenn nach der Therapie die Symptome aus Sicht der Patientinnen verschwunden sind oder sich zumindest deutlich gebessert haben und der Ferritinwert gleichzeitig im therapeutischen Zielbereich angekommen ist. Die statistischen Auswertungen wurden mit der Predictive Analytics Software SPSS durchgeführt.
Resultate Insgesamt erfüllten 1428 Patientinnen die Einschlusskriterien. Sie wurden in diese prospektive Anwendungsbeobachtung eingeschlossen und mit Eiseninfusionen behandelt (1080 mit Venofer zu 0,2 g und 348 mit Ferinject zu 0,5 g). Von allen 1428 Patientinnen wurden die relevanten Daten vor und nach einer Aufsättigung dokumentiert. Bei 938 Patientinnen erfolgte ein Follow-up zusätzlich nach weiteren drei Monaten (789 VenoferPatientinnen und 149 Ferinject-Patientinnen). Dieser Praxiserfahrungsbericht (PEB) beruht auf der Behandlung von Frauen mit einem Durchschnittsalter von 38 Jahren. 56 Patientinnen (4%) waren jünger als 15 Jahre mit einem Durchschnittsalter von 12 Jahren. Wie aus der Tabelle ersichtlich, sind die am häufigsten berichteten Symptome vor einer Aufsättigung Erschöpfungszustände (89%), Konzentrationsstörungen (58%), es folgen depressive Verstimmungen, Nackenverspannungen, Kopfschmerzen, Schwindel und Schlafstörungen (44–53%). Nur bei 12 Prozent lag eine Anämie vor. Erschöpfungszustände (88%) und Konzentrationsstörungen (79%) sind die im Kindesalter am häufigsten genannten Beschwerden. Zusammen mit Kopfschmerzen (41%) und Schlafstörungen (36%) können diese Symptome unter anderem ein AD(H)S charakterisieren. Aus Abbildung 1 geht hervor, dass Erschöpfungszustände und Konzentrationsstörungen (resp. Aufmerksamkeitsdefizit) bei Kindern unter 15 Jahren als Frühwarnsymptome eines Eisenmangels interpretiert werden können (> 75%, blau).
Abbildung 1: Häufigkeit der Symptome (in %) vor einer Behandlung, korreliert mit Altersgruppen Die Anzahl gleichzeitig vorhandener Symptome steigt bis zum 20. Lebensjahr an und bleibt danach ziemlich konstant. Patientinnen unter 20 Jahren wiesen im Durchschnitt 4 Symptome auf, solche über 20 Jahre zwischen 4 und 5 Symptome. Abbildung 2 zeigt die Veränderung der via Fragebogen erfassten Symptome (Erfolgsquoten) aus Sicht der Patientinnen nach individuell erfolgter Aufsättigung mit Eiseninfusionen. Bemerkenswert ist, dass je nach Symptom eine Erfolgsquote zwischen 60 und 70 Prozent nachgewiesen werden kann (beschwerdefrei oder deutlich besser). Lediglich bei Nackenver-
Abbildung 2: Erfolgsquoten (in %) pro Symptom nach einer intravenösen Aufsättigung mit Eisen (erfolgreich bei IDS: beschwerdefrei oder deutlich besser, bei IDA: Hb > 12 g/dl)
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spannungen (57%) liegt sie darunter. 18 bis 22 Prozent fühlten sich nach einer Behandlung immerhin noch wenig besser. Nur zwischen 9 (Erschöpfungszustände) und 20 Prozent (Nackenverspannungen) der Patientinnen fühlten sich nach der Behandlung unverändert. Bei 76 Prozent der Anämiepatientinnen lag der Hämoglobinwert nach der Aufsättigung im Normbereich (> 12 g/dl). Die Nachhaltigkeit der Behandlungen geht aus Abbildung 3 hervor. Der Anteil der Patientinnen, die symptomfrei wurden oder eine deutliche Besserung der Symptome erfahren haben, ist während dreier Monate beinahe gleich geblieben.
46%
41%
Abbildung 5: Ferritinwert vor der Therapie, korreliert mit der dazugehörigen Patientenzahl
Abbildung 6: Häufigkeit der Symptome (in %) vor der Therapie, korreliert mit Ferritingruppen (Häufigkeit von Anämie: 18% bei Ferritin < 25 ng/ml) Abbildung 3: Erfolgsquoten (in %) nach der Aufsättigung und 3 Monate später (erfolgreich: beschwerdefrei oder deutlich besser) Abbildung 4 gibt die Verteilung der Erfolgsquoten nach Altersgruppen wieder. Diese liegen auch innerhalb der Altersgruppen ungefähr zwischen 60 und 70 Prozent. Auffallend ist, dass die Symptome Erschöpfungszustände, Konzentrationsstörungen und Schwindel bei unter 15-Jährigen mit einer Eisenaufsättigung besonders erfolgreich behandelt werden konnten (> 70%, rot).
Abbildung 7: Erfolgsquoten (in %) in Bezug auf den Ferritinwert vor der Therapie
Abbildung 4: Erfolgsquoten (in %) der Symptome, korreliert mit Altersgruppen (erfolgreich: beschwerdefrei oder deutlich besser)
Von den 1428 Patientinnen hatten 87 Prozent einen anfänglichen Ferritinwert unter 50 ng/ml und von diesen 53 Prozent einen Ferritinwert unter 25 ng/ml (Abbildung 5). Aus Abbildung 6 ist ersichtlich, dass die Symptomhäufigkeit vom Ferritinwert kaum beeinflusst wird – ausser bei einer Anämie. Letztere kommt bei Ferritinwerten unter 25 ng/ml signifikant häufiger vor (rot) als bei Werten über 25 ng/ml (p < 0,0001).
Abbildung 8: Ferritinwerte vor (T1) und 3 Wochen nach der letzten Infusion (T2) sowie 3 Monate später (T3)
Hingegen zeigt sich in Abbildung 7, dass eine Abhängigkeit zwischen dem Behandlungserfolg und den ursprünglichen Ferritinwerten besteht: Die Erfolgsquoten in den Ferritingruppen < 25 und 25 bis 50 ng/ml sind ähnlich hoch und liegen ungefähr zwischen 60 und 75 Prozent. Bei den Patientinnen mit einem ursprünglichen Ferritingehalt von 51 bis 75 ng/ml hingegen liegt der Behandlungserfolg bis zu 30 Prozent tiefer
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Hb
Abbildung 9: Geschätzte durchschnittliche Ferritinpeaks vor der Ferritinbestimmung bei T2 (3 Wochen nach der letzten Infusion)
Abbildung 11: Korrelation zwischen Ferritin und Durchschnittshämoglobin
Ferritin
del). Bei den Venofer-Patientinnen (200 mg/Infusion) waren es 1,2 Prozent und bei den Ferinject-Patientinnen (500 mg/ Infusion) 5,7 Prozent. Der Unterschied der Häufigkeit von Nebenwirkungen zwischen den zwei Dosierungsarten ist signifikant (p < 0,001). Anaphylaktische Reaktionen traten bei beiden nicht auf.
Abbildung 10: Verlauf des Hämoglobinwerts nach einer Aufsättigung (T2) und 3 Monate später (T3)
(Anämie). Der Unterschied der Erfolgsquoten im Vergleich zu denjenigen von Patientinnen mit Ferritinwerten < 50 ng/ml ist bei Erschöpfungszuständen und Nackenverspannungen mit p < 0,05 signifikant. Abbildung 8 zeigt die Veränderung der Ferritinwerte infolge der Behandlung: Sie lagen vor der intravenösen Aufsättigung im Durchschnitt bei 29 ng/ml, drei Wochen nach der letzten Infusion im Durchschnitt bei 223 ng/ml (Venofer-Patientinnen mit 0,2 g/Infusion: 203 ng/ml; FerinjectPatientinnen mit 0,5 g/Infusion: 285 ng/ml). Drei Monate später lag er im Durchschnitt bei 142 ng/ml (Venofer-Patientinnen: 138 ng/ml, Ferinject-Patientinnen: 165 ng/ml). Abbildung 9 zeigt die geschätzten Ferritinpeaks zwischen der letzten Infusion und dem drei Wochen danach gemessenen Wert. Die Datenlage ist allerdings nicht sehr gut (lediglich eigene Stichproben, Rückmeldungen von Spitälern und Arztpraxen, Aussagen der Herstellerfirma [7]), sodass – sollten weiterhin offene Fragen wie beispielsweise seitens der FDA bestehen – weitere Untersuchungen notwendig sind. Wie Abbildung 10 zeigt, stieg der Hämoglobinwert während der Aufsättigung von 13,1 g/dl auf 13,3 g/dl an (Venofer-Patientinnen: 13,4 g/dl, Ferinject-Patientinnen: 13,3 g/dl). Drei Monate später betrug der durchschnittliche Hämoglobinwert im Durchschnitt immer noch 13,3 g/dl (Venofer-Patientinnen: 13,3 g/dl, Ferinject-Patientinnen 13,2 g/dl).
Nebenwirkungen Von den 1428 behandelten Patientinnen erlitten 34 (2,4%) vorübergehend leichte unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen (am häufigsten Müdigkeit, Magen-Darm-Probleme, Hautausschlag, Gelenkschmerzen, grippeartige Zustände, Schwin-
Eisenmangelsyndrom IDS und Eisenmangelanämie IDA Bei 88 Prozent der Patientinnen lag keine Anämie vor, obwohl der Ferritinwert bei fast der Hälfte aller Patientinnen unter 25 ng/ml lag. Eine Anämie kommt bei Ferritinwerten unter 25 ng/ml signifikant häufiger vor als bei höheren Werten (p < 0,0001). Abbildung 11 zeigt die Korrelation zwischen Hämoglobin- und Ferritinwerten. Auffallend ist die Tatsache, dass bei einem Ferritingehalt von 10 ng/ml das Hämoglobin im Durchschnitt zwar in der unteren Norm, aber immer noch im bis anhin definierten Referenzbereich liegt – ein Hinweis darauf, dass der offizielle untere Normwert für Ferritin in der Regel genügt, um eine Anämie zu verhindern.
Diskussion Die Resultate dieser multizentrischen Anwendungsbeobachtung zeigen, dass bei den meisten Patientinnen mit Symptomen wie Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, depressiven Verstimmungen oder Kopfschmerzen der Ferritinwert unter 50 ng/ml lag – in einem Bereich also, der von den meisten Laboratorien als normal definiert wird, weshalb nach bisheriger lehrmedizinischer Auffassung unter diesen Bedingungen gar keine Eisenbehandlung indiziert wäre. Die Erfolgsquote war insgesamt recht hoch. So fühlten sich, je nach Symptom, 60 bis 70 Prozent deutlich besser oder sogar völlig beschwerdefrei, und zwar sowohl unmittelbar nach einer Eisenaufsättigung als auch noch drei Monate danach. Nur 15 Prozent spürten keine Veränderung durch die Eisengaben. Dies spricht deutlich dafür, dass schlecht gefüllte Eisenspeicher auch ohne Vorliegen einer Anämie zu Symptomen führen können. Angesichts des grossen Behandlungserfolgs mit intravenös appliziertem Eisen bei depressiven Patientinnen mit Ferritinwerten unter 75 ng/ml und unter Berücksichtigung der Anfang 2008 veröffentlichten Metaanalyse der US-amerikanischen Medika-
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mentenzulassungsbehörde FDA (4), welche die Wirksamkeit der meistverkauften antidepressiven Psychopharmaka SSRI in Zweifel zieht, sollten wir Ärzte uns die Frage nach den Ursachen einer endogenen Depression vielleicht doch auf neue Weise stellen. Die Antwort «leere beziehungsweise schlecht gefüllte Eisenspeicher» liegt nahe und sollte intensiv diskutiert werden. Ferner zeigt unsere Anwendungsbeobachtung, dass tiefe Ferritinwerte schon im Kindesalter Beschwerden hervorrufen können, deren Häufigkeit bis zum 20. Lebensjahr zunimmt und danach etwa konstant bleibt. Diese Beobachtung drängt den mit der Eisentherapie vertrauten Arzt geradezu, Symptome, die offenbar auf tiefen Ferritinwerten basieren, frühzeitig zu behandeln, auf jeden Fall aber, bevor sie sich voll auszuprägen beginnen. Die im Kindesalter am häufigsten auftretenden Eisenmangelsymptome wie Erschöpfungszustände, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie Kopfschmerzen weisen auf ein AD(H)S hin. Es liegt somit die Vermutung nahe, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit oft auch die Folge eines Eisenmangelzustands sein könnte. Bei anfänglichen Ferritinwerten zwischen 50 und 75 ng/ml ist der Therapieerfolg zwischen 10 und 30 Prozent geringer als bei solchen unter 50 ng/ml. Diese Beobachtung lässt einerseits vermuten, dass Ferritinwerte über 50 ng/ml sich dem physiologischen «Optimalbereich» nähern und/oder andererseits, dass bei Patientinnen mit höherem Ferritinwert (50–75 ng/ml) ihren für einen Eisenmangel typischen Symptomen auch noch andere Ursachen zugrunde liegen. Nur 12 Prozent der 1428 Eisenmangelpatientinnen wurden als anämisch identifiziert. Dies beweist, dass die Diagnose eines manifesten Eisendefizits auf keinen Fall von einer Anämie abhängt. Aufgrund der Resultate der Untersuchung kann festgestellt werden, dass ein offiziell gelehrter tiefer Normwert für Ferritin (10 ng/ml) in der Regel genügt, um eine Anämie zu verhindern. Allerdings können Befindlichkeitsstörungen schon bei Ferritinwerten unter 75 ng/ml auftreten. Weil sich viele Menschen auch mit einem tiefen Ferritinwert gesund fühlen, kann ein unterer Normwert somit kaum definiert werden. Eine Definition beispielsweise von 50 ng/ml würde die Gefahr bergen, dass sich bei Menschen mit tieferen Werten der Eindruck einschleichen könnte, krank zu sein. Wegen der signifikant erhöhten Nebenwirkungsrate bei Gaben hoher Einzeldosen von 0,5 bis 1,0 g Eisen sollte unserer Ansicht nach die Indikation für hohe Einzeldosen überdacht werden. Eine Behandlung von IDS-Patientinnen mit 0,2 g Venofer Einzelinfusionen (2 × pro Woche) bis zum Erreichen der berechneten Gesamtmenge hat sich als maximal wirksam und gleichzeitig am besten verträglich erwiesen. Wahrscheinlich wäre es deshalb ratsam, höhere Einzeldosen für anämische Eisenmangelpatientinnen zu reservieren, für die Ferinject entwickelt und klinisch geprüft wurde. Diese Zurückhaltung empfiehlt sich zumindest, solange keine wissenschaftlichen Vergleichsstudien vorliegen und die FDA – unter anderem wegen Bedenken in der Dosierung – dem Präparat in den USA die Zulassung verweigert (5).
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Schlussfolgerungen 1. Unsere Studie belegt und bestätigt die früheren Beobach-
tungen, dass es das Eisenmangelsyndrom IDS gibt und dass eine erfolgreiche Behandlung durch gezielte Eisengaben möglich ist. 2. Bei depressiven Patientinnen mit Ferritinwerten unter 75 ng/ml sollte aufgrund der hohen Erfolgsquote durch Eiseninfusionen die Verdachtsdiagnose Eisenmangeldepression in den Vordergrund gestellt werden. Eisengaben als Erstlinientherapie sollten insbesondere auch aufgrund der im Februar 2008 veröffentlichten US-amerikanischen Metaanalyse (4) in Betracht gezogen werden, welche die Wirksamkeit der SSRI infrage stellt. 3. Bei Kindern unter 15 Jahren mit AD(H)S-Symptomen lohnt sich eine Ferritinbestimmung in jedem Fall. Sollten die Eisenspeicher schlecht gefüllt sein, wäre auch hier eine Eisengabe als Erstlinientherapie empfehlenswert. 4. Angesichts der Tatsache, dass mit Eisengaben nicht nur eine Anämie, sondern auch eine ganze Reihe anderer Symptome verhindert beziehungsweise geheilt werden können und diese Heilung durch Eisenaufsättigung mit einer entschiedenen Hebung des Ferritinspiegels im Blut einhergeht, schlagen wir vor, die Indikation für eine Eisensubstitution auch dann zu stellen, wenn ein tiefer Ferritinwert noch innerhalb der bis anhin offiziell gültigen Norm liegt. 5. Ein unterer Normwert für Ferritin kann wegen der Individualität kaum definiert werden. Vielmehr ist es angezeigt, bei Eisenmangelpatienten den individuellen Optimalbereich, in welchem keine Symptome vorliegen, zu bestimmen. 6. Ferinject wurde für Patienten mit einer Eisenmangelanämie mit der Zielsetzung entwickelt, hohe Einzeldosen
verabreichen zu können. Einerseits aufgrund der noch
ausstehenden wissenschaftlichen Prüfung des Präparats
bei IDS-Patienten und andererseits wegen gehäufter
Nebenwirkungen nach hohen Einzeldosen von 0,5 g emp-
fehlen wir für IDS-Patienten vorerst Einzeldosen von 0,2 g
Eisen.
7. Die Eisenmengen-Berechnungsformel nach Ganzoni (6) –
1968 für Patienten mit einer Eisenmangelanämie entwi-
ckelt – kann für IDS-Patienten nicht verwendet werden.
Die für sie entwickelte und seit 2005 multizentrisch ver-
wendete Basler Eisenformel hat sich bewährt und setzt den
ersten Standard.
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Dr. med. Beat Stephan Schaub Facharzt für Innere Medizin Bottmingerstrasse 50 4127 Binningen/Basel E-Mail: bschaub@magnet.ch
Interessenkonflikte: Die Studie wurde selbst finanziert, erfolgte also ohne Unterstützung von einschlägigen Firmen.
Literatur: 1. Das Eisenmangelsyndrom IDS (Iron Deficiency Syndrome), Ars Medici (Jan. 2006) 2. Das Eisenmangelsyndrom IDS (Iron Deficiency Syndrome), Ars Medici und Österreichische Ärzte-
zeitung (April 2008) 3. Primary care: Iron supplementation for unexplained fatigue in non-anaemic women: double blind
randomised placebo controlled trial, F. Verdon, Lausanne, BMJ 2003;326:1124 (24 May) 4. Antidepressiva praktisch unwirksam (Federal Drug Administration FDA), Public Library of Science
(Feb. 2008) 5. Non Approvable Letter FDA (12.3.2008) 6. Ganzoni-Formel von 1968: Hb (Soll) — Hb (Ist) × Gewicht × 0,24 + 500 mg Eisen. 7. Werbeprospekt für Ferinject (November 2008)
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