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Titel
Arsenicum: Sozialprestige
Untertitel
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Lead
Als wir Hausärzte wieder einmal einen Ökonomen angriffen, der auf einem Kongress vorrechnete, wie teuer wir arbeiten und wie wenig wir leisten, gingen ihm bald die Argumente aus. In seiner Not sagte er: «Aber Ihr Sozialprestige ist das höchste aller Berufe! Die Patienten lieben Sie!» Als ob dies alles andere aufwiegen würde … Und ob es überhaupt zutrifft, ist zweifelhaft. Falls ja, hat es vermutlich einen Grund. Wir Grundversorger setzen uns schliesslich voll für unsere Patienten ein, oft auf Kosten unseres eigenen Komforts. Wir arbeiten weit mehr als andere Arbeitnehmer und verdienen verhältnismässig schlecht. Kurz – wir leisten etwas. Sind sozusagen echte Leistungserbringer.
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arsenicum
A ls wir Hausärzte wieder einmal einen Ökonomen angriffen, der auf einem Kongress vorrechnete, wie teuer wir arbeiten und wie wenig wir leisten, gingen ihm bald die Argumente aus. In seiner Not sagte er: «Aber Ihr Sozialprestige ist das höchste aller Berufe! Die Patienten lieben Sie!» Als ob dies alles andere aufwiegen würde … Und ob es überhaupt zutrifft, ist zweifelhaft. Falls ja, hat es vermutlich einen Grund. Wir Grundversorger setzen uns schliesslich voll für unsere Patienten ein, oft auf Kosten unseres eigenen Komforts. Wir arbeiten weit mehr als andere Arbeitnehmer und verdienen verhältnismässig schlecht. Kurz – wir leisten etwas. Sind sozusagen echte Leistungserbringer. Und das wird ausgenutzt. Immer mehr Aufgaben werden uns aufgebürdet. Zum Beispiel präventive. Im Gespräch mit unseren Patienten sollen wir locker mal auf das selbstgefährdende Trinkverhalten hinweisen, das Rauchen und das Übergewicht ansprechen. Die Kurzintervention des Hausarztes, so predigen die Präventivmediziner, sei enorm erfolgreich. Ich habe eher das Gefühl, dass der Patient dies hasst. Aus roten Augen schauen einen die Trinker und Cannabiskonsumenten an und werden sofort misstrauisch bis zornig. Empört reagieren die Dicken, die «gar nichts essen», wenn man nur fragt, ob das Gewicht mal thematisiert werden soll. Am lockersten nehmen es noch die Raucher. Die sind es inzwischen gewöhnt, dass ihr Verhalten fast nirgends mehr geduldet wird. Wir Hausärzte schulen uns in Kommunikation, lernen von Psychologen, wie man bei Patienten liebe Gewohnheiten infrage stellt und heisse Eisen anpackt. Die Minuten verfliessen, ohne dass Tarmed sie genügend vergütet, während wir verstockten Konsumenten ins Gewissen reden. Unser Sozialprestige sinkt bei ihnen, weil wir ihnen die Laster nehmen wollen. Ab und zu hört zwar wirklich einer auf zu rauchen, trinken oder kiffen, nimmt ab, bewegt sich mehr. Dann freuen sich Arzt und Patient. Doch war es wirklich unsere Intervention? Eine andere Aufgabe, die uns zunehmend aufgebürdet wird, ist die des Kontrolleurs des Arbeitgebers. Wir schreiben krank – oder lieber noch «gesund». Die Hausarztkollegen in Holland weisen dies von

sich. Sie möchten nicht eine Doppelrolle erfüllen und daher muss jeder Patient, der mehr als eine Woche fehlt, zum Versicherungsarzt. Sehr vernünftig – so wird die Rolle des Therapeuten nicht gestört. Die englischen Kollegen des NHS werden bald keine «sickness note» mehr schreiben, sondern eine «fit for work note». Wie sich die Behörden das vorstellen, ist noch nicht ganz klar. Um jemanden «gesundschreiben» zu können, muss man seinen Arbeitsplatz kennen und minimale arbeitsmedizinische Kenntnisse haben. Es bedeutet eine sorgfältige Untersuchung des Patienten, im Hinblick auf spezifische Fragen hin. Und wer haftet, wenn der Patient doch noch nicht fit genug für die Arbeit war und sich sein Leiden verschlimmert? Zunehmend werden dem Hausarzt Aufgaben aufgebürdet, für die er nicht ausgebildet ist und die nicht seine Kernaufgabe sind. Letztere ist nämlich die Grundversorgung von Kranken. Zudem sind es Aufgaben, die das Sozialprestige beeinträchtigen. Oder haben Sie einmal erlebt, dass einem Faulenzer die Augen leuchteten, wenn Sie ihm klargemacht haben, dass sie ihn keinen einzelnen weiteren Tag mehr krankschreiben werden? Eben. Eine gute Idee wird zur Zeit bei der SUVA entwickelt: Dort will man Arbeitsfähigkeitsexperten ausbilden, notabene aus den Reihen der Hausärzte. Zu denen kann der niedergelassene Praktiker seine Allzulangkranken schicken. Dieser Kollege bekommt vom Arbeitgeber das Arbeitsplatzprofil und dessen Erfordernisse geliefert und führt dann eine arbeitsmedizinische Untersuchung durch, für die er auch bezahlt wird. Eine unterstützenswerte Idee. Eine Untersuchung in den USA hat ergeben, dass 9 von 10 Angestellten im Gesundheitswesen keinen Patienten mehr sieht. Ob das gut ist? Die Rolle des Arztes muss sorgfältig neu definiert werden. Es geht nicht an, dass wir die Aufgaben aller anderen aufgebürdet bekommen. Doch allzu viel zu delegieren, kann auch gefährlich sein. «Ihr Hausärzte» sagte mein Metzger – und ich neige dazu, ihm zuzustimmen, «seid doch ganz arme Schweine.» Sozialprestige?

Sozialprestige

958 ARS MEDICI 23 ■ 2009