Transkript
INTERVIEW
«Wir wollen verhindern, dass es zu einem Anstieg der Grippefälle kommt»
Ein Gespräch mit dem Basler Impfexperten Ulrich Heininger über Nutzen und Risiken der Schweinegrippeimpfung
Die erste Welle der Schweinegrippe scheint in der Schweiz gerade abzuebben. Manchen Befürchtungen zum Trotz hat sich das neue Grippevirus als vergleichsweise harmlos erwiesen, Todesfälle sind in der Schweiz nicht zu beklagen. In einem Gespräch mit ARS MEDICI erklärt Professor Ulrich Heininger, warum er eine Impfung dennoch für notwendig hält.
Heininger: Immer dann, wenn es sich um Personen handelt, die ein hohes Komplikationsrisiko haben, wozu neu auch Schwangere gezählt werden. Bei diesen Patienten sollte man einen Abstrich nehmen und sofort mit einem Neuraminidasehemmer beginnen. Da diese Medikamente nur wirken, wenn die Behandlung in den ersten 48 Stunden nach Auftreten der Symptome begonnen wird, sollte man das Abstrichergebnis nicht abwarten. Bestätigt sich der Grippeverdacht nicht, sollte die Therapie abgebrochen werden. Eine Behandlung ist übrigens auch zu empfehlen, wenn eine enge Kontaktperson, etwa ein Familienangehöriger, ein erhöhtes Komplikationsrisiko aufweist.
ARS MEDICI: Professor Heininger, das BAG warnt mit Blick auf die Schweinegrippe vor Panikmache. Das H1N1-Influenzavirus erweist sich ja tatsächlich als eher harmlos. Wie ist der aktuelle Stand der Epidemie in der Schweiz? Prof. Dr. Heininger: Nicht in Panik zu verfallen ist immer eine gute Empfehlung. Bislang sind in der Schweiz etwas mehr als 1000 Erkrankungsfälle registriert worden. Meldepflichtig sind mittlerweile allerdings nur noch Patienten, die hospitalisiert werden müssen sowie die Beobachtung von Krankheitshäufungen. Damit wird natürlich nur die Spitze des Eisbergs erfasst. Im Moment lässt sich aber feststellen, dass die Aktivität des Virus bei uns rückläufig ist. Allerdings stellen wir uns auf eine zweite Grippewelle in einigen Wochen oder Monaten ein. Ob es sich dabei überwiegend um H1N1Influenzaviren handeln wird, lässt sich nicht vorhersagen.
ARS MEDICI: Da die Schweinegrippe überwiegend harmlos verläuft, stellt sich die Frage, bei welchen Symptomen niedergelassene Ärzte überhaupt eine Diagnostik einleiten sollen. Heininger: Ärzte sollten sich wie bei der saisonalen Grippe verhalten. Besonderes Augenmerk sollten sie auf besorgniserregende Verläufe richten, auf Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand und auf Menschen mit vorbestehenden Erkrankungen wie Herz- oder Lungenkrankheiten. Bei ihnen sollte nach Auftreten grippaler Symptome sofort eine Diagnostik auf Influenzaviren eingeleitet und eine Therapie mit einem Neuraminidasehemmer erwogen werden.
ARS MEDICI: Wann genau sind Tamiflu® oder Relenza® angezeigt?
ARS MEDICI: Steht nicht zu befürchten, dass bei einer allzu grosszügigen Anwendung von Neuraminidasehemmern der Entwicklung beziehungsweise Ausbreitung von resistenten Virusmutanten Vorschub geleistet wird? Heininger: Das ist eine Hypothese. Letzten Winter gab es eine rapide Zunahme von Resistenzen. Es begann in Norwegen, wo allerdings Neuraminidasehemmer sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Aber grundsätzlich existiert das Risiko sicher, weshalb unsere Empfehlungen auch eher restriktiv sind.
ARS MEDICI: Gilt das für beide Neuraminidasehemmer? Heininger: Ja. Tamiflu ist bislang ungleich häufiger eingesetzt worden als Relenza. Gegen letzteres sind meines Wissens im Hinblick auf das neue H1N1-Influenzavirus noch keine Resistenzen beobachtet.
ARS MEDICI: Neuraminidasehemmer können nachweislich eine Grippeerkrankung verkürzen. Aber wie gut schützen sie vor schweren Komplikationen und Todesfällen? Heininger: Dazu gibt es bislang noch keine tragfähigen Daten.
ARS MEDICI: Die EKIF hat inzwischen Empfehlungen zur Impfung gegen das H1N1-Influenzavirus abgegeben. Welche Menschen sollen demnach geimpft werden? Heininger: In einem ersten Schritt sollen, wie bei der saisonalen Grippe auch, Risikopatienten geimpft werden, wobei Schwangere neu in den Kreis der Impfkandidaten aufgenommen wurden. Da Impfstoffe erst nach und nach bereitstehen
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INTERVIEW
Zur Person
Krankheitsfälle zunehmen, und sind dann entsprechende Bil-
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger ist leitender Arzt für Infektiologie und Vakzinologie am UniversitätsKinderspital beider Basel. Er ist Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO) am RobertKoch-Institut, Berlin, und der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF). Ulrich Heininger gehört dem wissenschaftlichen Beirat von ARS MEDICI an.
der im Fernsehen zu sehen, kann sich die Lage rasch drehen. Unsere Strategie ist, durch die Impfungen zu verhindern, dass es überhaupt zu einem Anstieg der Fallzahlen kommt. Das wäre ein toller Erfolg. Diese Botschaft zu vermitteln, ist momentan – zugegeben – etwas schwierig.
ARS MEDICI: Es gibt auch vereinzelt Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Impfstoffe, vor allem was die eingesetzten Adjuvanzien angeht, die die Wirksamkeit erhöhen, aber auch
das Nebenwirkungsrisiko. Die FDA empfiehlt deshalb offen-
bar einen konventionellen Impfstoff ohne Adjuvanz.
Heininger: Bei keinem Medizinprodukt können wir zum Zeit-
punkt der Zulassung die Sicherheit abschliessend bewerten.
Um sehr seltene Nebenwirkungen zu erfassen, müssten sehr
viele Patienten teilnehmen, was im Rahmen von Zulassungs-
studien nicht möglich ist. Bei Zulassung kennen wir üblicher-
weise also nur häufige unerwünschte Ereignisse. Man wird
dabei immer ein nicht exakt zu bezifferndes Restrisiko einge-
hen. Ich bin allerdings sehr zuversichtlich, dass die Impfstoffe
werden, müssen wir schrittweise vorgehen. Erste Priorität von Novartis und GSK genauso sicher sein werden wie die bis-
haben das Gesundheitspersonal sowie alle Menschen, die be- herigen Influenzaimpfstoffe. Beide Firmen nutzen bewährte
ruflich mit Kindern unter 6 Monaten zu tun haben, anschlies- Herstellungsverfahren und die Adjuvanzien sind bereits in an-
send dann Patienten im Alter zwischen 6 Monaten und 64 Jah- deren Impfstoffen verwendet worden, nur die Antigene wer-
ren mit chronischen Erkrankungen. Im Gegensatz zur saiso- den für den neuen Impfstoff ausgetauscht. Schwerer zu be-
nalen Grippe folgt erst dann die Gruppe der älteren Menschen, werten ist lediglich die Situation bei Schwangeren, bei denen
nachdem sich herausgestellt hat, dass
viele Betagte offenbar eine partielle
Immunität erworben haben, vermut- «Ich bin sehr zuversichtlich, dass die neuen Impfstoffe genauso
lich aufgrund eines vor Jahrzehnten
sicher sein werden wie die bisherigen Influenzaimpfstoffe.»
zirkulierenden Virus, das dem aktuel-
len ähnelte.
Sobald genügend Impfstoff zur Verfügung steht, sollte dann die wir uns noch nicht auf umfangreiche Erfahrungen stützen
Impfung jedermann angeboten werden – im Rahmen der Zulas- können. Wir empfehlen, erst im 2. oder 3. Trimester zu imp-
sung, die wahrscheinlich ab dem 6. Lebensmonat gelten wird. fen und nicht bereits im 1. Trimester. In der frühen Schwan-
gerschaft kommen bekanntlich öfter Spontanaborte vor und
ARS MEDICI: Wie ist der aktuelle Stand des Zulassungsver- es bestünde die Schwierigkeit, eine zufällige Koinzidenz mit
fahrens?
der Impfung zuverlässig zu bewerten. Das möchten wir ver-
Heininger: Die beiden Herstellerfirmen Novartis und Glaxo- meiden.
SmithKline, mit denen die Schweiz Verträge abgeschlossen
hat, haben die Unterlagen bei der Swissmedic eingereicht. Wir ARS MEDICI: Zu den sehr seltenen, aber schweren potenziel-
hoffen, dass eine Zulassung im Oktober erfolgen wird.
len Nebenwirkungen gehört das Guillain-Barrè-Syndrom. Mo-
mentan lässt sich wohl noch nichts über das diesbezügliche
ARS MEDICI: Im Moment spricht aber einiges dafür, dass die Risiko der neuen Impfstoffe sagen?
Impfung bei der Bevölkerung nicht auf grosse Resonanz stos- Heininger: Die European Centers for Disease Control in
sen wird ...
Stockholm planen eine begleitende Surveillance durchzufüh-
Heininger: Umfragen zeigen, dass viele Menschen tatsäch- ren, an der auch meine Arbeitsgruppe beteiligt ist. Wir wollen
lich nicht sehr aufgeschlossen gegenüber der Impfung sind, ein Instrument entwickeln, mit denen die Fälle erfasst wer-
und man kann das ja durchaus nachvollziehen: Es ist viel Wir- den, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung auf-
bel gemacht worden um die Schweinegrippe, man hat Hygiene- treten, um ein allfällig erhöhtes Risiko erkennen zu können.
regeln ausgegeben, hat Schutzmasken verkauft, es ist in gros-
sen Mengen Tamiflu bevorratet worden, und dann hat sich die ARS MEDICI: Prof. Heininger, wir danken Ihnen für das Ge-
Grippe bis jetzt weniger schlimm als befürchtet erwiesen. spräch.
Aber bedenken wir: Das ist die Situation jetzt. Sollte sich die
Epidemie plötzlich verschlimmern und die Zahl schwerer
Das Interview führte Uwe Beise.
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