Transkript
INTERVIEW
«Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gelenke»
Interview mit Rieke Alten zur Behandlung von Rheumapatienten
Gemäss einer am EULAR-Kongress in Kopenhagen vorgestellten Studie fühlt sich die Hälfte der Patienten mit rheumatoider Arthritis von ihrer Krankheit kontrolliert. Wir sprachen am Kongress mit Rieke Alten über neue Wege in der Betreuung von Rheumapatienten.
ARS MEDICI: Frau Dr. Alten, was sagen Sie zu dem Ergebnis der Umfrage unter Patienten mit rheumatoider Arthritis? Dr. med. Rieke Alten: Es ist für mich schockierend, in welcher Weise diese Krankheit den ganzen Menschen dominiert. Es sind ja nicht nur die geschwollenen Gelenke, es sind verlorene Tage und Wochen, mit denen sich die Patienten auseinanderzusetzen haben. Deshalb ist auch der enorm starke Wunsch vieler Patienten verständlich, nicht nur über ihre Gelenke, sondern auch über ihr Leben zu sprechen. Es vergeht kein Tag in meiner Sprechstunde, an dem ich das nicht erlebe.
«Viele Rheumageschädigte von heute sind Opfer des therapeutischen Nihilismus
der Vergangenheit.»
Aber noch etwas wurde in dieser Studie deutlich: Relativ viele RA-Patienten leiden trotz Behandlung und trotz relativ guter Unterdrückung der Krankheitsaktivität an starken und sehr starken Schmerzen. Das hat uns Rheumatologen doch alle sehr überrascht.
ARS MEDICI: Im Vergleich zu früher stehen heute viel mehr potente Medikamente zu Verfügung, warum dann die Schmerzen? Alten: Viele Rheumageschädigte von heute sind Opfer des therapeutischen Nihilismus der Vergangenheit. Zum Beispiel war Methotrexat (MTX) 1990 noch ein Tabuthema, das kann man
Zur Person Dr. med. Rieke Alten ist Chefärztin der Inneren Medizin II an der Schlosspark-
Klinik, einem Lehrkrankenhaus der Charité in Berlin.
sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber das hat sich Gott sei Dank geändert. Gerade der grosszügige Einsatz der Biologika spielt in der heutigen Therapie eine wichtige Rolle und hilft sehr. Jeder Patient, der Biologika wirklich benötigt, bekommt sie auch. Beispielsweise kam vor Längerem eine junge Frau in einem sehr schlechten Zustand zu uns. Sie hatte 25 schmerzhafte und 22 geschwollene Gelenke und konnte sich kaum mehr bewegen. Sie war kaum mehr in der Lage, ihre Kinder zu versorgen. Die vorherige Behandlung mit MTX erwies sich als nicht ausreichend wirksam und zudem für sie als nicht verträglich. Glücklicherweise konnten wir sie sehr rasch im Rahmen einer Studie mit Biologika behandeln. Ihr Zustand verbesserte sich dadurch extrem, die Zahl der schmerzhaften und geschwollenen Gelenke verminderte sich rapide. Mittlerweile kann sie wieder ein normales Leben führen.
ARS MEDICI: Sie versuchen, an der Schlosspark-Klinik in Berlin mit Rheumapatienten neue Wege zu gehen. Wie sehen diese aus? Alten: Ja, wir bieten RA-Patienten eine Schulung, in der sie lernen, mit ihrer Erkrankung eigenverantwortlich umzugehen und über ihre Krankheit zu sprechen. Schon bei der Anamnese wollen wir auch biografische Elemente mit aufnehmen. Wir schauen, wo der Mensch gerade steht und was die Rheuma-
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INTERVIEW
krankheit in seinem jetzigen Leben bedeutet. Da wird auch die Familiensituation betrachtet, die bei manchen sehr kompliziert ist. So haben wir schon mal eine ganz gute Basis, um mit den Leuten weiterzukommen. Und dann wird ein Therapiekonzept entworfen. Es besteht einerseits aus Schulmedizin, wie zum Beispiel dem Erlernen der richtigen Injektionstechnik, und an-
ARS MEDICI: Haben die Ärzte während der Schulungswoche mehr Zeit? Alten: Die nehmen wir uns in diesen Tagen. Ausserdem haben wir während der Schulung einen besseren Personalschlüssel. Neuerdings steht uns ein sogenannter Case-Manager zur Seite, der uns viele Arbeiten abnimmt. Das hat sich sehr bewährt.
«Gerade der grosszügige Einsatz der Biologika spielt in der heutigen Therapie eine ganz wichtige Rolle und hilft sehr.»
dererseits aus komplementären Angeboten. Das sind körperorientierte Therapien, Physiotherapie, medizinische Trainingstherapien, Wohlfühlelemente wie Massage und Fango, aber auch Feldenkrais oder autogenes Training. Dazu kommt noch eine Kunsttherapie.
ARS MEDICI: Was bevorzugen die Patienten? Alten: Wir haben mit der Bewegungstherapie sehr gute Erfahrung, aber auch diese Mischung aus passiv und aktiv kommt sehr gut an: Die Betroffenen können sich einerseits «fallen lassen» – zum Beispiel bei den Massagen oder Fangobehandlungen –, und andererseits bieten wir die Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen. Viele haben ein aktives Mitmachen ja völlig verlernt und merken, wie gut das ihnen eigentlich tut.
ARS MEDICI: Wie wird das praktisch umgesetzt? Alten: Diese sogenannten teilstationären Patienten bleiben zirka eine Woche in unserem an die Klinik angeschlossenen Hotel und lernen unser Konzept kennen. Zu Hause sollte es dann weiter umgesetzt werden.
ARS MEDICI: Das bezahlen die Krankenkassen? Alten: Das wird hier in Deutschland ohne Probleme von den Kassen übernommen.
ARS MEDICI: Welche Rolle spielen die Ärzte? Alten: Die Einstellung und damit das Menschenbild des Arztes ist entscheidend. Man muss sich als Rheumatologe immer wieder vor Augen halten, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Gelenke. Ich persönlich wurde an den verschiedenen Stationen meiner Ausbildung, darunter Zürich, auch psychosomatisch sehr gut ausgebildet. Das versuche ich an meine Mitarbeiter weiterzugeben. Ein Arzt sollte in der Lage sein, vom Patienten zu lernen und Dinge von ihm anzunehmen. Aber das ist für viele schwer. Was ich mir wünschen würde, wäre noch mehr Zeit für die Gespräche mit den Patienten. In der Hektik der Zahlenwelt geht das manchmal etwas verloren. Das war früher besser.
ARS MEDICI: Wie gehen Sie mit Leuten um, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen? Alten: Solche Patienten drängeln wir erstmal nicht, sondern versuchen, zuerst auf einer anderen Ebene Zugang zu ihnen zu finden. Das ist nicht immer so einfach und dauert manchmal ein Weilchen, aber dann gewinnen wir sie doch alle. Manche Menschen haben ein tiefes Misstrauen, und es braucht Zeit, bis sie erkennen, dass man es wirklich gut mit ihnen meint.
ARS MEDICI: Wie messen Sie die Wirksamkeit Ihrer Massnahmen? Alten: Wir haben früher schon einmal über drei Jahre Outcome-Messungen im Rahmen eines Integrationsmodells gemacht. Da konnten wir anhand von Krankheitsaktivitätsmessungen beziehungsweise verschiedener Scores nachweisen, dass es den Patienten mit solch langen Krankheitsverläufen wirklich besser geht. Wir legen grossen Wert darauf, dass die Patienten einmal im Jahr zu uns kommen. Einerseits um die Krankheitsaktivität zu messen, andererseits um auftretende Fragen zu besprechen. Die Resultate werden dann am Ende jedes Jahres ausgewertet.
«Wir schauen, wo der Mensch gerade steht und was die Rheumakrankheit in
seinem jetzigen Leben bedeutet.»
ARS MEDICI: Welches Feedback haben Sie? Alten: Die Akzeptanz ist sehr gut, wir haben steigenden Zulauf. Erst vergangene Woche haben wir aufgrund der hohen Nachfrage neue Kapazitäten dazubekommen.
ARS MEDICI: Wird Ihr Modell von anderen Kliniken kopiert? Alten: Nicht das ich wüsste. Man darf dabei nicht vergessen, dass dieses ganze Programm ja ein grosses Engagement der einzelnen Mitarbeiter, ein gutes Team und eine gute Stimmung erfordert.
ARS MEDICI: Frau Dr. Alten, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Klaus Duffner.
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