Transkript
arsenicum
B asel im Zeichen der Wonca war nicht nur ein intellektueller Genuss, sondern auch ein Augenschmaus: Nepalesinnen mit paillettenbestickten Chiffonschals, Mexikaner mit knallbunten Streifenponchos, Afrikaner in Textilien, die eine Kennerin als Adinkra, Kente Bogolan und Yoruba Adire identifizierte, gaben dem Kongress Farbe. Hausarzt-Sein, das ist etwas Internationales. Leiden, Krankheiten, Schmerzen und Tod sind global. Sie unterscheiden sich nicht, sie äussern sich nahezu gleich und das verbindet die Hausärztinnen und Hausärzte weltweit. Geografische oder ideologische Grenzen? Gibt es nicht in der Hausarztmedizin. Nur den wissenschaftlichen Diskurs, der Denken anregt und Neues ermöglicht. In Gafsa, Tunesien, nördlich vom Schott el-Jérid gelegen, 84 677 Einwohner, eine Medresse, 23 Teppichknüpfereien, gibt es die gleichen Hypochonder wie in Gallenkirch, Aargau, westlich vom Bözberg gelegen, 142 Einwohner, 60 Arbeitsplätze (38% in der Landwirtschaft, 59% im Dienstleistungssektor). Die Probleme des Bergdoktors aus Kerns, der im Winter trotz seines hochmodernen vierradangetriebenen Geländewagens nur mit Mühe die Hausbesuche in abgelegenen Weilern schafft, sind die gleichen wie die des Fjelldoktors in Inari, Finnland, der mit dem Motorschlitten seine samischen Patienten besucht. Nur die Nächte sind dort länger und dunkler … Der Grundversorger aus Olten ist genauso verzweifelt wie der aus Osaka, wenn seine onkologischen Patienten nicht mehr zu retten sind. Und Tränen in der Transkei unterscheiden sich nicht von denen in Tramelan. Wir haben die erstaunlichsten Menschen kennengelernt, deren Arbeitslast so gross ist, dass man sich auf einmal als Müssiggänger fühlt. Unglaublich, was die Kollegen in anderen Ländern ohne Hilfsmittel und in heiklen politischen Regimes schaffen! Und es ist ermutigend, zu sehen, wie die Hausarztmedizin Boden gewinnt. In Polen, so haben wir erfahren, ist sie erst 15 Jahre alt, aber sie macht einen ausgezeichneten, vitalen Eindruck. Bei den Kollegen aus Grossbritannien hingegen, die zum Teil, auf Überarbeitung schliessende, verdächtige Tränensäcke unter den Augen hatten, hatte man den Eindruck, dass sie
sich überflüssig machen wollen und alles den Nurses überlassen möchten. Wortgewaltige und personell reich dotierte Delegationen kamen aus den Niederlanden und den englischsprachigen Ländern – Achtung, sie sollten die Konferenz nicht dominieren! – und interessierte Zuhörer, die aufregende Improvisationen in schwierigen Umfeldern beherrschen, aus vielen anderen Ländern. Wir haben nicht alles geglaubt, was uns erzählt wurde, aber vorsichtshalber lernen wir jetzt Didgeridoo, um nicht mehr zu schnarchen. Bemerkenswert war, wie nahe alle Veranstaltungen am Alltag des Hausarztes waren – und dies bei hoher wissenschaftlicher Qualität. Dieser Kongress ist von Praktikern für Praktiker gemacht worden, und das war grossartig. Die Gäste waren begeistert über das «Selbstgemachte». Das Herzblut, die vielen Stunden der Freizeit, die die Organisatoren und ihre Teams in die Vorbereitung und Durchführung investiert hatten, wurde geschätzt. Es waren zwar – wie immer in der Ärzteschaft – immer die gleichen, die gearbeitet hatten, aber es waren sehr viele und sehr engagierte Kolleginnen und Kollegen. Ein Bravo dem Milizsystem! Besonders inspirierend waren die Jungärzte aus dem Vasco-da-GamaProgramm. Lustig, enthusiastisch und kritisch – eine echte Bereicherung. Und nicht zu vergessen – sie sind die Zukunft der Hausarztmedizin. Wackere Altstreiter gegen Krankheit und Leiden waren genauso vertreten, knorrige Knocheneinrenker aus dem Kongo, ukrainische Alleinkämpfer, rumänische Allrounder und somalische Diplomaten in Weiss, die mit Medizinmännern und Heilern klar kommen müssen. Kichernd sagte die türkische Kollegin, dass die gesamte Population von Norwegen und Schweden in Istanbul Platz hätte. Schmunzelnd tauschten die Pädiater von Petersburg, Palermo und Paradiso Visitenkarten aus. Es fehlte nicht an Musik und Kultur (wobei die meisten Teilnehmer gerne etwas mehr Zeit für Sightseeing gehabt hätten), die Schweiz zeigte sich so gastfreundlich, wie sie es sonst nur für harte Tourismusgelder tut. Wann ist hier wieder Wonca? Die Gäste legten Wert darauf, dass sie «Auf Wiedersehen» oder «Au revoir» sagten – und nicht etwa «Good bye».
WONCA!
766 ARS MEDICI 19 ■ 2009