Transkript
INTERVIEW
«Unsere Guidelines sind Empfehlungen»
Die Rolle der Hausärztin oder des Hausarztes und der Guidelines in der Hypertoniebehandlung
Interview mit Professor Paul Erne, Luzern, im Vorfeld der Fortbildungsserie «Der kardiovaskuläre Risikopatient im Fokus der hausärztlichen Praxis»
Die in Luzern beginnende Veranstaltungsserie von
Menarini und DoXMedical, die von ARS MEDICI medial
begleitet wird, hat sich zum Ziel gesetzt, dem Bedürf-
nis der Hausärzte und der niedergelassenen Spezia-
listen nach einem praxisorientierten Erfahrungsaus-
tausch gerecht zu werden. In verschiedenen Regionen
finden auf konkreten Fällen basierende Diskussions-
runden zwischen Haus- und Fachärzten statt. Zur
Einführung ins Thema sprachen wir mit Professor Paul
Erne, dem Hauptreferenten in Luzern.
ARS MEDICI: Was für einen Stellenwert haben die schweizerischen Hypertonie-Guidelines für die Hausarztpraxis – oder sollten sie haben? Erne: Diese «Guidelines» verstehen wir als Empfehlungen, die wir unseren Kollegen abgeben, nachdem sich der Vorstand ausgiebig mit diesen Fragen befasst und zu einzelnen Themen auch weitere Experten beigezogen hat. Sie stellen also meistens einen Kompromiss unserer gelegentlich unterschiedlichen Meinungen dar. Meines Erachtens verbirgt sich in den Empfehlungen sehr viel Arbeit und Reflexion, sodass ich sie nur dringend empfehlen kann. Wir leben heute in einem Zeitalter, in dem es schwieriger ist, Informationen zu zerstören und zu werten, als Informationen zu beschaffen. Guidelines und Empfehlungen haben den Vorteil, dass sie auf Informationen basieren, die bereits gewertet und beurteilt wurden. Sie sind keine Schnellschüsse und Kurzbeurteilungen, sondern Resultat eines kontinuierlichen Prozesses der Reflexion über Diagnostik und Therapie. Sie nehmen damit dem Behandelnden viel Arbeit ab.
ARS MEDICI: Worauf basieren diese Guidelines? Erne: Wir sichten natürlich die Studien und versuchen, sie im Kontext zu werten und auf ihre Umsetzung in den Praxisalltag
Prof. Dr. med. Paul Erne, Chefarzt Kardiologie, Kantonsspital Luzern
hin zu beurteilen. Gelegentlich gehen wir den europäischen Empfehlungen etwas voraus, seltener müssen wir unsere Empfehlungen nachkorrigieren.
ARS MEDICI: Wie wichtig ist die Umsetzung dieser Empfehlungen in der Hausarztpraxis? Erne: Es ist klar: Der Hausarzt behandelt einen einzelnen Menschen, ein Individuum; deshalb bezeichnen wir die Guidelines auch als Empfehlungen. Es ist also vernünftig, sich an ihnen zu orientieren und, wenn nötig, bewusst davon abzuweichen, immer im Bewusstsein, dass die Empfehlungen sehr sinnvoll und ein guter Wegweiser sind.
ARS MEDICI: Welches sind aus Sicht des Kardiologen bei der Behandlung der Hypertonie die grössten Herausforderungen für den Hausarzt? Erne: Die grösste Herausforderung für Hausarzt wie Patient ist die Compliance. Ganz selten ist ein erhöhter Blutdruck symptomatisch. Selten fühlt sich deshalb ein Patient zu Beginn der Behandlung besser. Es braucht das Wissen darüber, dass ein anhaltend erhöhter Blutdruck der wichtigste und häufigste kardiovaskuläre Risikofaktor ist, der zu früher Invalidität und Tod führen kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Behandlung. Diesen Zusammenhang zu vermitteln, ist eine wichtige und zentrale Aufgabe der Hausarztmedizin. Ebenso wichtig ist allerdings, dass es nie um einen isolierten Risikofaktor geht, sondern um die gesamte Belastung des kardiovaskulären Systems, dass also der erhöhte Blutdruck nur einer von mehreren Risikofaktoren ist und daneben andere wie etwa das me-
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INTERVIEW
tabolische Syndrom nicht vernachlässigt werden dürfen. Da es bei der Hypertoniebehandlung zudem nicht immer einfach ist, die Zielwerte zu erreichen, wird die Polypharmarzie mit ihrem Potenzial von Interaktionen für den behandelnden Arzt immer ein zentrales Thema sein. Kontinuierliche Fortbildung ist gerade auch aus diesem Grund ungemein wichtig.
ARS MEDICI: Welches sind die häufigsten und wichtigsten Fehler? Erne: Den häufigsten Fehler vermute ich im Ersatz von nüchterner und korrekter Messung durch Wunschvorstellungen, also in der Einigung von Arzt und Patient auf das «Runden von Zahlen» in Abhängigkeit der Vorstellungen. Statt nüchtern festzustellen, dass der diastolische Blutdruck 93 mmHg beträgt, wir also – falls korrekt gemessen – nicht zufrieden sein können, verständigt man sich als Kompromiss auf 90 mmHg oder eben umgekehrt auf 95 mmHg. Dies zeigt – so einfach die Messung ist –, wie zentral es bleibt, die Messung korrekt in Ruhe, im Sitzen, am Oberarm mit erhöhten Blutdruckwerten, mit geeichtem und kontrolliertem Gerät, richtiger Manschette et cetera vorzunehmen.
ARS MEDICI: Welche Abklärungen kann der Hausarzt beim Hypertoniker selber durchführen, und welche sollte er dem Spezialisten überlassen? Erne: Dies kann man fast nicht generalisieren. Es kommt darauf an, wie sich der Hausarzt organisiert und wie viel Zeit er dafür investieren kann. Über 20 Prozent der Bevölkerung, und über 50 Prozent der über 65-Jährigen, haben einen erhöhten Blutdruck – also ist dies die Herausforderung der Grundversorgung. Führung, Begleitung und Motivation sind die Kernaufgaben des Hausarztes, ebenso wie Therapieaufbau und Kontrolle und die Führung des kardiovaskulär polymorbiden Patienten mit metabolischem Syndrom, mit oder ohne Mikroalbuminurie. Jeder Hausarzt wird für sich einen Algorithmus aufbauen, wo und wie er mit Spezialisten zusammenarbeitet. Das kann bedeuten, dass er bereits beim Einsatz der LangzeitBlutdruckmessung eine Zusammenarbeit sucht, oder aber, dass er erst bei Therapieresistenz den Spezialisten beizieht. In der Regel ist zumindest die Funduskontrolle, die in regelmässigen Abständen durchgeführt werden sollte, Sache des Kollegen der Augenmedizin.
ARS MEDICI: Wo liegt die Herausforderung für die Patientin, den Patienten? Erne: Hierzu sei die Bemerkung erlaubt, dass alle eben erwähnten Vorgehensweisen von einer idealisierten Sichtweise des Gesundheitswesens ausgehen, also von Patienten, die rational und vernünftig handeln, viel wissen und verstehen, einen Hausarzt haben, dem sie vertrauen und der sie an einige wenige Spezialisten seiner Wahl überweist. Die Realität sieht aber völlig anders aus. Der Patient lebt heute im Internetzeitalter, führt sich selber Wissen zu, das nicht gewertet ist, hat Freunde, die ihm etwas empfehlen, versucht es mit den Medikamenten der Frau oder des Bruders. Nicht selten konsultiert
er verschiedene Grundversorger, ist Patient in grossen Gruppenpraxen, die vielleicht in einem Informationsaustausch stehen, vielleicht aber auch nicht, konsultiert selbst einzelne Spezialisten und wählt auf jeder Stufe frei das, was ihm gerade sympathisch ist.
ARS MEDICI: In welchen Situationen sollte der Hausarzt welche Spezialisten (Endokrinologe, Diabetologe, Nephrologe, Kardiologe) beiziehen? Erne: Die Antwort fällt auch hier schwer. Ich denke, es ist sinnvoll, den Spezialisten beizuziehen, wenn man eine sekundäre Hypertonieform vermutet, etwa bei einem Patienten, der trotz Mehrfachkombination unter Therapie die Zielwerte nicht erreicht, eine Blutdruckseitendifferenz oder eine hohe Druckdifferenz zwischen Radialis und Bein aufweist, bei dem eine Kaliumverarmung oder Kreatininerhöhung dokumentiert wird, Paroxysmen vorliegen oder die Anamnese gar für eine Schlafapnoe spricht. Der hypertensive diabetische Patient ist natürlich eine gewaltige Herausforderung, seine Komplikationen entwickeln sich schleichend; nicht selten führt eine Therapie zur nicht gewünschten Gewichtszunahme, und es sind sehr rasch sämtliche kardiovaskulären Endorgane wie Nieren, Augen und Herz betroffen.
ARS MEDICI: Wie sehen Sie den optimalen Dialog zwischen Hausarzt und Facharzt, und was müssen beide Seiten vorkehren, um das Optimum zu erreichen? Erne: Meines Erachtens sehen wir als Spezialisten nur einen kleinen, ausgewählten Teil der hypertensiven Patienten, und dies ist gut so, da dies die Domäne der Hausarztmedizin ist. Der Hausarzt weiss, dass ein erhöhter Blutdruck die Lebenserwartung drastisch, also um 10 Jahre, reduziert, zu wesentlich früherer Demenz und leider auch zu Schlaganfällen und Blutungen führt, dass man also über die reine Hausarztmedizin hinaus diese Zeit für die intensive Prävention und Behandlung nutzen und auch dokumentieren soll, wo der Patient steht. Im Mittel erleidet bei uns ein Mann den Erstinfarkt in einem Alter von 55 bis 60 Jahren, eine Frau 5 bis10 Jahre später, also ist es beispielsweise sinnvoll, eine erste konkrete Risikobeurteilung mit 45 Jahren durchzuführen, das heisst erstmals ein Belastungs-EKG zu machen, und nach einer Mikroalbuminurie zu suchen. Das kann der Hausarzt durchaus selbst machen, er sollte aber ab diesem Moment ein Netzwerk der Betreuung aufbauen, das er bei Bedarf und in Absprache mit dem Patienten nutzt.
ARS MEDICI: Professor Erne, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Fragen stellte Richard Altorfer.
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