Transkript
arsenicum
D ie Wichtigkeit des anamnestischen Erhebens des Ferienziels wird von der Wissenschaft nicht genügend gewürdigt. Nur amerikanische Infektiologieprofessoren fragen: «Where have you been? When were you there?» Doch meist geht es diesen Koryphäen nur um Tuberkulose, HIV, Malaria und Schistosomiasis. Aber unsere Patienten wählen sich ihre Feriendestinationen nicht aus, um Trematoden, Nematoden und ähnlich gefährliche Souvenirs mitzubringen und die Dienste der Medizin in Anspruch zu nehmen, sondern um etwas zu erleben. Wie der völlig überarbeitete Manager, der neun thrombogene Flugstunden benötigt, um das ferne Land zu erreichen, beziehungsweise zu verlassen, in welchem er in seinem einwöchigen Urlaub rund um die Uhr Sightseeing und Leistungssport betreiben wird. Entsprechend erschöpft kehrt er zurück. Solchen Patienten empfehle ich immer sechswöchige Klausuren in Trappistenklöstern. Aber wenn sie dies ernst nähmen, was sie natürlich nicht tun, würden sie vermutlich dem Abt zeigen, wie er seinen Betrieb auf Vordermann bringt. Sie würden eine Marketingstrategie für die Klosterprodukte entwerfen und in Rekordzeit umsetzen, die Produktion von Weihrauch, Paramenten und Käse ankurbeln und effizienter machen, den Vertrieb erweitern und durchorganisieren – und dies alles unter Einhaltung der Klosterregeln wie Askese und schwere körperliche Arbeit. Es gibt derartig überaktive Patienten, die erst ein Herzinfarkt entschleunigt – eine Dolce-farniente-Ferienumgebung reicht dafür nicht aus. Und die Bewegungsfaulen schaffen es auch im FitnessLager untätig rumzuhängen. Sinnvoll hingegen ist das Ausbrechen meiner Hausfrauenpatientinnen aus ihrer dörflich-kleinstädtischen Langeweile mittels Städteflug. Sie kommen in Champagnerlaune aus Manhattan, Paris oder Mailand zurück, ein Paar neue Schuhe und Grosstadt-Fashion im Gepäck und halten ein weiteres Jahr Kindergequengel, Angehörigenbetreuung und Landwirtschaft durch. Frust entsteht, wenn Bergfans und Meerliebhaber sich nicht auf die Destination einigen. Familienferien, so meinen viele Eltern, müssten gemeinsam am gleichen Ort verbracht werden, und dies bitte schön in Harmonie. Dabei ist ein Zeit-Teil-Kompromiss-Modell – eine Woche im Gebirge, eine Woche am Meer – oder gar ganz getrennte Ferien dem Familienfrieden deut-
lich dienlicher. Wer einmal trotzend-motzende Teenager in griechischen Museen ertragen musste, der weiss, warum ich die Anbieter von Jugendsprachcamps für Wohltäter der Erziehungsberechtigten halte. Etwas, das eigentlich ganz einfach und erfreulich sein sollte wie Ferien, ist augenscheinlich komplexer als man meint und daher das Arbeitsgebiet von Psychologen. Sie analysieren, dass Familienferien und Flitterwochen durchstritten und -litten werden, weil übergrosse Erwartungen bestehen, die nur enttäuscht werden können. Ganz anders, wenn man zu Beginn der Ferienzeit überzeugt ist, dass die Ferien das Letzte werden – wie es zum Beispiel viele meiner Patienten waren, die wegen der Wirtschaftskrise dieses Jahr «Balkonien» besuchten – und dann positiv überrascht wurden. Meine Praxis liegt in einer Region, die sogar Japaner, Koreaner und Amerikaner besuchen, weil sie so schön ist. Warum dann in die Ferne schweifen? Ganz klar: um etwas anderes zu erleben! Mal richtig über den Tisch gezogen oder bestohlen zu werden, im Stau stehen, kein Wort verstehen, sich Diarrhö und Emesis zuziehen, für einen Fünfsternepreis in einem Bett schlafen, welches von Schweizer Notschlafstellen als unzumutbar abgelehnt würde ... Um unbekannte Farben, Aromen und Laute zu erleben, wunderbare Menschen kennenzulernen, Abenteuer zu wagen, fremde Genüsse zu geniessen. In den Ferien ist man ein braungebrannter, locker gekleideter Feinschmecker, der mit offenen Augen durch die Welt geht, Sport treibt, sich bildet. Kaum zurück, mutiert man zum bleichen Uniformträger, dem vieles nicht schmeckt, der die Augen verschliesst, der sich auf dem Laufband schindet und durch Fachliteratur quält. Man fragt sich, warum Herr Bellotto, Muttersprache Bärndytsch, dessen Eltern schon Secondos waren, immer von «heimfahren» redet, wenn er in Italien im Wohnort seiner Grosseltern Ferien macht, wo alle über seinen Schweizer Akzent spotten und wo er fast niemanden kennt. Und man freut sich, wenn es für Frau Gashi «heimkommen» ist, wenn sie aus Kosovo zurückkehrt, das sie vor Jahren verlassen musste, weil ihre Existenzbasis zerstört wurde.
Die Destination von Ferien
726 ARS MEDICI 18 ■ 2009