Transkript
HIV-Infizierte in der Schweiz
Annähernd normale Lebenserwartung, aber kein Grund zur Entwarnung
BERICHT
Dank neuer Medikamente und guter Versorgung haben HIV-Infizierte in
auf dem Gebiet der antiretroviralen Therapie nichts von ihrer zentralen Bedeu-
der Schweiz heutzutage eine annähernd normale Lebenserwartung. Die Langzeitbeobachtungsstudie «Schweizer HIV-Kohorte» habe einen we-
tung verloren», betonte Manuel Battegay. Eine immer grössere Rolle für stabil alternde HIV-Patienten spielen vielmehr
sentlichen Anteil an dieser erfreulichen Entwicklung, berichtete Profes-
Komplikationen durch Komorbiditäten, wie Tumore oder Hepatitisinfektionen,
sor Manuel Battegay an der SGIM-Tagung in Basel.
sowie durch Interaktionen zwischen den hierfür erforderlichen Medikamen-
ten und der Anti-HIV-Therapie: «Hinzu
kommt, dass HIV ein wichtiger Risiko-
RENATE BONIFER
teil heterosexuell Infizierter, während faktor für Herz-Kreislauf-Krankheiten
der Prozentsatz der HIV-Infizierten mit ist, genau wie hohe Cholesterinwerte,
«Ein 20-Jähriger mit einer HIV-Infektion intravenösem Drogenkonsum abnahm. Rauchen oder Diabetes», sagte Battegay.
profitiert heute dank modernster anti- Eindrücklich spiegelt sich in den Daten Zurzeit erhalten mehr als 80 Prozent der
retroviraler Therapien im Idealfall von der Schweizer HIV-Kohorte wider, wie HIV-Infizierten in der Schweiz eine
einer Lebensverlängerung von über nach der Einführung neuer HIV-Medika- Kombinationstherapie mit mindestens
40 Jahren», sagte Professor Manuel Bat- mente das Todesrisiko der HIV-Infizier- drei Medikamenten, um das HIV in
tegay, Leiter der Klinik für Infektiologie ten sank. In der Folge hat sich die Al- Schach zu halten. Der Anteil der HIV-In-
und Spitalhygiene am Universitätsspital terszusammensetzung der HIV-Infizier- fizierten ohne medikamentöse Behand-
Basel und Vizepräsident der Euro- ten erheblich verändert. Die grösste lung liegt in der Schweizer HIV-Kohorte
päischen klinischen Aids-Gesellschaft Gruppe sind heute die 40- bis 50-Jähri- bei zirka 15 Prozent.
(EACS). Er präsentierte an der Jahres- gen (Abbildung). «Es ist jedoch ein-
versammlung der Schweizerischen Ge- dringlich davor zu warnen, HIV und Vorteile für Patienten und
sellschaft für Innere Medizin (SGIM) in Aids als ein mittlerweile einfach zu kon- Forschung
Basel den aktuellen Stand der Schweizer trollierendes medizinisches Problem an- Die Schweizer HIV-Kohorte (Swiss HIV
HIV-Kohorte, einer 1998 vom Bundes- zusehen. Die Aids-Prävention hat trotz Cohort Study, SHCS) ist ein vom
amt für Gesundheit ins Leben gerufenen der beispiellosen medizinischen Erfolge Schweizerischen Nationalfonds mit
Langzeitbeobachtungsstudie. Zurzeit
werden darin 7300 HIV-Infizierte im Alter von 16 bis 82 Jahren betreut.
100%
Anteil HIV-Infizierte in SHCS
Insgesamt leben in der Schweiz derzeit rund 20 000 Personen mit HIV. «Die grösste Zunahme bei den Teilnehmern der HIV-Kohorte verzeichnete in den
80% 60%
71–80 Jahre 61–70 Jahre 51–60 Jahre
letzten Jahren die Gruppe der 41- bis 50-
40%
41–50 Jahre
Jährigen», sagte Battegay. Letztes Jahr haben sich in der Schweiz 766 Personen neu mit dem Immunschwächevirus infiziert. Das Durchschnittsalter der neu erfassten Personen betrug etwa 35 Jahre und ist damit etwas höher als noch vor
20%
0% 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08
Jahr
31–40 Jahre 21–30 Jahre 16–20 Jahre
zehn Jahren. Zugenommen hat der An- Abbildung: Altersverteilung der HIV-Infizierten in der Schweizer HIV-Kohorte (SHCS) von 1986 bis 2008; Quelle: www.shcs.ch
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BERICHT
jährlich 3,5 Millionen Franken finanziertes Netzwerk für Patientenbetreuung und Forschungszusammenarbeit, das sieben Zentren (5 Universitäts- und 2 Kantonsspitäler), diverse Regionalspitäler sowie auf HIV spezialisierte niedergelassene Ärzte umfasst. Dazu gehö-
spiegele die grosse Akzeptanz der Studie wider, so Battegay. Die durchschnittliche Teilnahmedauer beträgt mehr als vier Jahre, und viele Patienten werden schon 10 bis 15 Jahre lang betreut: «Die Patienten realisieren, dass die Teilnahme an der Kohortenstudie die Quali-
«Es ist eindringlich davor zu warnen, HIV und Aids als ein mittlerweile einfach zu kontrollierendes
medizinisches Problem anzusehen.»
ren auch Gynäkologen, Geburtshelfer und Kinderärzte, die HIV-infizierte Schwangere und Kinder betreuen. Infektiologen, Internisten, Epidemiologen, Molekularbiologen, Biomathematiker, Immunologen, Virologen und Sozialwissenschaftler arbeiten interdisziplinär zusammen. Die SHCS ist eine der weltweit grössten Langzeitstudien, um den Krankheitsverlauf von HIV und Aids sowie den Einfluss der verschiedenen antiretroviralen Therapien im Rahmen zahlreicher nationaler und internationaler Forschungsvorhaben zu untersuchen. In den vergangenen 21 Jahren wurden im Rahmen der HIV-Kohorte 15 678 HIVinfizierte Personen erfasst, jedes Jahr werden rund 500 bis 600 HIV-Infizierte neu in die Kohorte aufgenommen. Dies
tät ihrer medizinischen Behandlung verbessert. Prospektive Kohortenstudien sind wichtig, weil wir dabei die Möglichkeit haben, den Patienten von dem, was wir beobachten, direkt profitieren zu lassen. Wenn wir anhand der alle sechs Monate erfolgenden Aktualisierung des 16-seitigen Fragebogens den Verdacht haben, dass Patienten nicht mehr optimal behandelt werden, können wir sofort reagieren», erläuterte Battegay. Das relativ kurze Kontrollintervall sei einer der Gründe dafür, dass in der Schweiz nur sehr wenige HIV-Infizierte mit einer tiefen CD4-Zellzahl einer angemessenen Therapie entgehen. Eine so grosse Kohortenstudie wie die SHCS ermöglicht es darüber hinaus, Langzeiteffekte und «Real life»-Situationen besser beurteilen zu können, als
dies mit randomisierten, klinischen Stu-
dien alleine möglich wäre. So fand man
heraus, dass die virologische Ansprech-
rate bei Therapie-naiven Patienten ent-
gegen der Erwartung über 90 Prozent
betrug. Der Grund: In randomisierten,
klinischen Studien ergeben sich gerin-
gere Ansprechraten, da der Wechsel auf
andere Therapien beziehungsweise
Substanzen als Therapieversagen ge-
zählt werden muss. Die Frage, ob der
Substanzwechsel zu einem Erfolg ge-
führt hat, spielt dabei keine Rolle; hier
können nur übergreifende Studien wie
die SHCS Antworten geben. Ein weiterer
wichtiger Aspekt ist das Erkennen allfäl-
liger seltener Langzeitnebenwirkungen,
die in den üblichen Registrierungsstu-
dien nicht aufgedeckt werden können.
Darüber hinaus bietet die Schweizer
HIV-Kohorte die optimale Plattform,
um randomisierte kontrollierte Studien
durchzuführen oder an grossen interna-
tionalen Studien teilzunehmen, wie die
mittlerweile mehr als 290 Originalarbei-
ten der Mitglieder des Netzwerks und
die zusätzlich rund 160 Publikationen
im Rahmen internationaler Studien ein-
drucksvoll belegen.
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Renate Bonifer
Linktipp: Schweizer HIV-Kohorte: www.shcs.ch
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