Transkript
FORTBILDUNG
Reizdarmsyndrom
Symptome bestimmen die Therapie
Definiert wird das Reizdarmsyndrom zurzeit nach wie
vor rein über die Symptome, da bislang kein allge-
meingültiges pathophysiologisches Konzept existiert.
THOMAS FRIELING
Beim Reizdarmsyndrom finden sich mit den gängigen Routineverfahren keine ausreichenden strukturellen oder biochemischen Veränderungen. Dies bedeutet aber nicht, dass bei Untersuchungen, die über die Routinediagnostik hinausgehen, nicht doch organische Veränderungen festgestellt werden können. So wird beim Reizdarmsyndrom die Möglichkeit einer unterschwelligen Entzündung nach initialer Infektion (postinfektiöses Reizdarmsyndrom) diskutiert. Hinzu kommt, dass die gastrointestinalen Funktionen durch Störungen der viszeralen Sensibilität, der Psychosomatik beziehungsweise des zentralen/enterischen Nervensystems beeinflusst werden können. Das Reizdarmsyndrom ist häufig. So wird die Prävalenz in Deutschland auf über 12,5 Prozent geschätzt.
Allgemeine Therapiekonzepte Die Behandlung muss symptomorientiert erfolgen. In der Regel ist ein multimodaler und individueller Therapieansatz zu wählen, da sich häufig psychische Auffälligkeiten, mehrere Symptome und funktionelle Beschwerden in anderen Organsystemen finden. Die Therapie stützt sich auf die drei Säulen: Allgemeinmassnahmen/Diätetik, psychotherapeutische Behandlung/Entspannungsübungen und medikamentöse Therapie. Therapieziel ist häufig nicht die Beschwerdefreiheit, sondern das Lernen, mit den Beschwerden umzugehen. Charakteristisch für funktionelle Darmbeschwerden sind ihre Symptomenüberlappung und eine hohe Ansprechrate auf Plazebo von über 60 Prozent, die klinisch genutzt werden sollte.
Medikamentöse Therapie funktioneller Darmbeschwerden In Deutschland und Europa ist bis auf das Phytotherapeutikum Iberogast® zurzeit kein Medikament speziell für die Therapie des Reizdarmsyndroms zugelassen (Tabelle).
Die neuen 5-HT3-Rezeptorantagonisten (Alosetron) und partiellen 5-HT4-Rezeptoragonisten (Tegaserod) wurden vom Markt genommen beziehungsweise sind nur unter strengen Auflagen einsatzfähig.
Schmerzen/viszerale Hypersensitivität Es fehlen weiterhin, mit Ausnahme der trizyklischen Antidepressiva, klinisch einsetzbare Medikamente zur direkten Beeinflussung der Schmerzschwelle. Diese ist bis zu 80 Prozent durch periphere und/oder zentral bedingte Störungen der Reizwahrnehmung erniedrigt (primäre viszerale Hypersensitivität). Es sind zurzeit fünf Medikamentengruppen mit potenzieller Beeinflussung der viszeralen Hypersensitivität verfügbar: ■ Opioide ■ serotoninerge Medikamente ■ Antidepressiva ■ Somatostatinanaloga ■ Alpha-2-Agonisten, die in der Klinik bei der Behandlung
funktioneller Darmerkrankungen aber praktisch keine Rolle spielen.
Meteorismus Man muss grundsätzlich zwischen Blähungen (Passageverlangsamung/Hypersensitivität) und vermehrter Flatulenz (gesteigerter Gastransport) unterscheiden. Bei der Therapie sollten neben der Aufklärung (Luftschlucken) zunächst Verhaltensänderungen (langsames Essen, autogenes Training), Diätetik (fettarme Mahlzeiten, kleinere Mahlzeiten) sowie das
Merksätze
■ Beim Reizdarmsyndrom ist in der Regel ein multimodaler und individueller Therapieansatz zu wählen, da sich häufig psychische Auffälligkeiten, mehrere Symptome und funktionelle Beschwerden in anderen Organsystemen finden.
■ Eine Stuhlnormalisierung kann hilfreich sein, da ein stuhlgefülltes Kolon über retrograde Nervenreflexe die Magenentleerung und den Dünndarmtransit verzögert.
586 ARS MEDICI 14 ■ 2009
REIZDARMSYNDROM
So mach ich das …
Dr. med. Hansjörg Lang FMH Allg. Medizin 8264 Eschenz E-Mail: h.lang@bluewin.ch
«Das in der Schweiz von Novartis Consumer Health (ursprünglich von Wander) hergestellte Spasmo-Canulase®, eine Kombination von Metixen, Glutaminsäure und Pepsin, hat sich praktisch sehr bewährt. Ich habe selten ein Reizdarmsyndrom, das nicht darauf anspricht, und es kann problemlos über längere Zeit genommen werden. Die Tablette ist bitter und sollte zu den Mahlzeiten ungekaut geschluckt werden .»
Die Vertreter der Hausarztmedizin in unserem Beirat erzählen bei passender Gelegenheit kurz, wie sie ein Problem in der Praxis angehen. Solche praxisbezogenen Reaktionen sind auch aus der Leserschaft jederzeit willkommen: info@rosenfluh.ch ■
Meiden blähender Ballaststoffe (Weizenkleie, Leinsamen) versucht werden. Eine Stuhlnormalisierung kann hilfreich sein, da ein stuhlgefülltes Kolon über retrograde Nervenreflexe die Magenentleerung und den Dünndarmtransit verzögert.
Obstipation Mit der chronischen Obstipation sind häufig weitere Symptome wie die Stuhlinkontinenz verbunden, nach der gezielt gefragt werden muss. Neben einer gesteigerten Flüssigkeitsbeziehungsweise Ballaststoffzufuhr, vermehrter körperlicher Aktivität oder Gewichtsreduktion sollte gezielt nach obstipationsauslösenden Medikamenten gefahndet werden. Bei der medikamentösen Therapie ist zu berücksichtigen, dass Makrogole erst nach mehreren Tagen wirken. Bei regelhaftem Gebrauch sind aktive Laxanzien gute Therapieoptionen für schwere Formen der Obstipation. Eine Laxanzienabhängigkeit des Darms oder Schädigungen der Darmnerven müssen nicht befürchtet werden. Bei Stuhlentleerungsstörungen sollte das Pressen während der Defäkation vermieden und der Enddarm kontrolliert (Klysmen) entleert werden. Sinnvoll kann bei Stuhlimpaktierung ein Hebe-Senk-Einlauf sein.
FORTBILDUNG
Tabelle: Medikamentöse Therapie des Reizdarmsyndroms
Symptom/Pathophysiologie Medikamentengruppen Substanzen/Massnahmen
Viszerale Hyperalgesie Bauchschmerzen «Discomfort» Meteorismus
Obstipation/ Stuhlentleerungsstörungen
Diarrhö
Antidepressiva
Spasmolytika Anticholinergika, Nitrate Antazida/Schutzfilm Säurehemmer
Prokinetika Phytotherapeutika Prokinetika
Probiotika
Mikroklysmen CO2-bildende Zäpfchen Ballaststoffe
Osmotische Laxanzien Makrogole Aktive Laxanzien Ballaststoffe Mikroklysmen CO2-bildende Zäpfchen Gallensäurebinder Opioide Antidepressiva
Amitriptylin, Imipramin, Desipramin, Trimipramin, Doxepin, Paroxetin, Fluoxetin, Johanniskraut
Butylscopolamin, Drofenin, Trospiumchlorid, Trihexyphenidyl/ Mebeverin (Duspatalin® retard)/Pfefferminzöl/Nitrate
Antazida, Sucralfat Cimetidin, Ranitidin, Famotidin, Omeprazol, Pantoprazol, Lansoprazol, Esomeprazol Domperidon (Motilium®), Metoclopramid (z.B. Paspertin®), Erythromycin
Iberis amara (Iberogast®), Kamille, Kümmel, Fenchel, Anis, Minze, Melisse, Angelika Asa foetida Domperidon, Metoclopramid, Erythromycin Laktobazillen (z.B. Lactoferment®), Bifidobakterien, Enterococcus faecalis und faecium (Pro-Symbioflor®), Saccharomyces boulardii (Perenterol®), E. coli Nissle (Mutaflor®)
Toilettentraining, Beckenbodentraining, Biofeedback z.B. Lecicarbon supp.® Flüssigkeitszufuhr, lösliche Ballaststoffe (z.B. Benefiber®, Colosan® mite) Flohsamen (Agiolax®, Mucilar®) Magnesiumsulfat, Natriumsulfat, Zuckerderivate Polyethylenglykole (Transipeg®) Anthranoide, Bisacodyl (z.B. Dulcolax® Bisacodyl), Natrium-Picosulfat
(vgl. Obstipation) (vgl. Obstipation) (vgl. Obstipation) Colestyramin (Ipocol®, Quantalan®) Loperamid (z.B. Imodium®) Trizyklische Antidepressiva (Schmerz und imperativer Stuhldrang)
Diarrhö
Bei der funktionellen Diarrhö klagen die Patienten über häufi-
gere kleinere Stuhlportionen verminderter Konsistenz mit dem
Gefühl der unvollständigen Stuhlentleerung. Hier können diä-
tetische Massnahmen (Milchzuckerunverträglichkeit, Ballast-
stoffe) und ein Toilettentraining hilfreich sein. Codeinsulfat
und Tinctura opii sollten bei Ausschluss von organischen
Ursachen keine Rolle spielen.
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Prof. Dr. med. Thomas Frieling Medizinische Klinik II, Helios Klinikum Krefeld
D-47805 Krefeld Internet: www.stiftung-neurogastroenterologie.de
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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