Transkript
Insektengiftallergie
Wie gross ist die Gefahr?
FORTBILDUNG
Die Insektengiftallergie wird bei uns überwiegend
durch die Gifte von Honigbienen (Apis mellifera) oder
Wespenarten (Vespula germanica oder vulgaris)
hervorgerufen. Eine allergische Reaktion nach einem
Stich kann fatale Folgen haben und mitunter sogar
tödlich enden.
TORSTEN SCHÄFER
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung erfährt mindestens einmal im Leben einen Hymenopterenstich. Die Schätzungen schwanken zwischen 57 Prozent für Italien und 95 Prozent für die Türkei. Entsprechende Angaben für Frankreich liegen zwischen 61 und 75 Prozent.
Sensibilisierung Es gibt wenige bevölkerungsbezogene Studien zur Sensibilisierungshäufigkeit, die man über den Nachweis von allergenspezifischem IgE erheben könnte. Nach internationalen Studien sind 9 bis 18 Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung sensibilisiert. In einer Untersuchung bei 258 Personen einer ländlichen Region in Bayern waren 27 Prozent sensibilisiert, und bei 821 Personen in Hamburg lag die Sensibilisierungshäufigkeit bei 25 Prozent. Offensichtlich ist demnach der Anteil der Sensibilisierten deutlich höher als der derjenigen mit anamnestischen Hinweisen auf systemische Reaktionen.
Patienten mit erhöhten Tryptasewerten zeigen häufiger als Kontrollpersonen schwere Reaktionen nach Insektenstichen (75 vs. 28%).
Todesfälle Die klinischen Reaktionen von Insektengiftallergikern sind zum Teil akut lebensbedrohlich. Es fehlen allerdings aussagekräftige Daten zur Mortalität, und vorhandene Angaben unterschätzen die wahre Frequenz wahrscheinlich deutlich. International wird die Mortalität zwischen 0,03 (Italien) und 0,48 (Frankreich) pro 1 000 000 Einwohner und Jahr eingeschätzt. Das Statistische Bundesamt verzeichnet für die Jahre 1990 bis 2006 insgesamt 335 Sterbefälle nach Kontakt mit Bienen, Wespen oder Hornissen (Abbildung 2). Die durchschnittliche Mortalitätsrate liegt dementsprechend bei 0,24/1 000 000/Jahr, wobei Männer deutlich häufiger betroffen sind (68,4%).
Risikofaktoren In der Literatur werden als Risikofaktoren für eine systemische Reaktion oder einen letalen Ausgang Alter (> 40 Jahre), Geschlecht (Männer), Vorerkrankungen (insbesondere an Schockorganen), das auslösende Insekt (Biene) und die Stichlokalisation (Kopf/Hals) angegeben. Zudem hat sich wie oben bereits erwähnt ein erhöhter Serumtryptasespiegel als Marker für schwere Reaktionen erwiesen. Patienten mit erhöhten Tryptasewerten zeigten gegenüber Kontrollpersonen deutlich häufiger schwere Reaktionen nach Insektenstichen (75 vs. 28%).
Merksätze
Systemische Reaktionen Die Angaben zu systemischen Reaktionen nach Insektenstichen (Abbildung 1) schwanken zwischen 0,3 und 3,3 Prozent. Das zweite Ergebnis stammt aus der bayerischen Untersuchung, in Hamburg liegen die Angaben bei 1,8 Prozent. Im internationalen Vergleich lässt sich ein Nord-Süd-Gradient ausmachen. Zudem sind Männer und ältere Personen häufiger betroffen. In den letzten Jahren wurden Mastozytosen (auch okkulte Formen) beziehungsweise erhöhte Serumtryptasespiegel als relevante Risikofaktoren für schwere Reaktionen identifiziert.
■ Die Angaben zu systemischen Reaktionen nach Insektenstichen schwanken zwischen 0,3 und 3,3 Prozent.
■ In den letzten Jahren wurden Mastozytosen oder auch erhöhte Serumtryptasespiegel als relevante Risikofaktoren für schwere Reaktionen identifiziert.
■ In der Bevölkerung muss das Bewusstsein gestärkt werden, dass systemische Reaktionen auf Insektenstiche keine Lappalie sind, sondern behandelt werden können und sollen.
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FORTBILDUNG
Geeignete retrospektive und prospektive Studien müssen unternommen werden, um verlässliche bevölkerungsbezogene Daten zu gewinnen. Legt man die vorhandenen Daten zugrunde, ist davon auszugehen, dass in Deutschland schätzungsweise 2,5 Mio. Personen eine potenziell lebensbedrohliche Insektengiftallergie haben. Die Angaben zur diagnostischen Abklärung und Therapie zeigen, dass nur ein Bruchteil dieser Personen von einer adäquaten Versorgung erreicht wird.
Abbildung 1: Urtikaria als Beispiel einer systemischen Hautreaktion bei Insektengiftallergie.
In diesem Zusammenhang sind kutane Mastozytoseformen mit diskreter Klinik (okkulte Mastozytose), die häufig übersehen werden, als besondere Risikofaktoren zu nennen. Es
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Frauen Männer
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Aufklärung und Therapie Hier ist zunächst Aufklärung dringend geboten. Zum einen muss in der Bevölkerung das Bewusstsein gestärkt werden, dass systemische Reaktionen auf Insektenstiche keine Lappalie sind, sondern behandelt werden können und sollen. Zum anderen muss auch in der medizinischen Versorgungswelt die Aufmerksamkeit gegenüber derartigen Reaktionen geschärft und das Wissen über die Behandlungsmöglichkeiten einschliesslich kompetenter Anlaufstellen erhöht werden. Bei sys-
temischen anaphylaktischen Soforttyp-Reaktionen und dem Nachweis einer IgE-vermittelten Sensibilisierung stellt die spezifische Immuntherapie (Hyposensibilisierung) eine Therapieform dar, die in 80 bis 90 Prozent zum Erfolg führt.
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Notfallset
Unabhängig davon sollten Patienten mit sys10 temischen Reaktionen Notfallmedikamente
zur Eigenapplikation (sogenanntes Notfall-
5 set) mitführen. Diese sollten ein Antihistaminikum (H1-Blocker) mit schnellem Wirkungs-
0 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
eintritt, ein Glukokortikoid (100 mg Prednisolon-Äquivalent) zur oralen Einnahme und
Abbildung 2: Todesfälle durch Insektenstiche in Deutschland 1990 bis 2006. Statistisches Bundesamt (ICD 9: E 905.3; ICD 10: X 23
Adrenalin (vorzugsweise zur Inhalation, bei schweren Reaktionen zur Selbstinjektion) beinhalten. Der interessierte Leser sei in diesem
Zusammenhang auf die Leitlinie «Insekten-
konnte nachgewiesen werden, dass anaphylaktische Reaktio- giftallergie» der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und
nen bei Mastozytosepatienten besonders häufig durch klinische Immunologie hingewiesen.
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Insektenstiche ausgelöst werden.
Literatur unter www.allgemeinarzt-online.de/downloads
Fazit und Ausblick Rund ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands ist gegenüber Bienen- oder Wespengift sensibilisiert. Etwa 3 Prozent geben systemische Reaktionen nach Insektenstichen an, und die Mortalitätsrate wird mit 0,24/1 000 000/Jahr eingeschätzt. Die tatsächliche bevölkerungsbezogene Prävalenz der Insektengiftallergie und die damit verbundene Mortalität sind allerdings nicht genau bekannt, vermutlich ist die Dunkelziffer relativ hoch.
Prof. Dr. med. Torsten Schäfer MPH Facharzt für Dermatologie und Allergologie
D-23626 Ratekau
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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