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Titel
Fahr(un)tüchtigkeit bei Demenz
Untertitel
Ärztliche Abklärung und Konsequenzen für den Patienten
Lead
Demenzerkrankungen führen auf längere Sicht regelmässig zum Verlust der Fahrtüchtigkeit. Für Ärzte und Angehörige ist es nicht ganz einfach zu beurteilen, ab wann ein Demenzkranker nicht mehr sicher fährt. Eine im «British Medical Journal» publizierte Arbeit skizziert das Vorgehen in Grossbritannien, der begleitende Kommentar von Christian Meyer beleuchtet die Schweizer Verhältnisse.
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-
Rubrik
MEDIZIN — Fortbildung
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229
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FORTBILDUNG
Fahr(un)tüchtigkeit bei Demenz
Ärztliche Abklärung und Konsequenzen für den Patienten

Demenzerkrankungen führen auf längere Sicht regel-
mässig zum Verlust der Fahrtüchtigkeit. Für Ärzte und
Angehörige ist es nicht ganz einfach zu beurteilen,
ab wann ein Demenzkranker nicht mehr sicher fährt.
Eine im «British Medical Journal» publizierte Arbeit
skizziert das Vorgehen in Grossbritannien, der be-
gleitende Kommentar von Christian Meyer beleuchtet
die Schweizer Verhältnisse.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Praktisch jeder Demenzkranke verliert im Laufe seiner Erkrankung die Fähigkeit, ein Fahrzeug sicher im Strassenverkehr zu führen. Dennoch sollte man Demenzkranken nicht verfrüht und leichtfertig die Fahrerlaubnis entziehen, meinen David A. Breen und Kollegen in ihrem BMJ-Artikel. Sich nicht mehr ans Steuer setzen zu können, sei für manchen alten Menschen gleichbedeutend damit, soziale Kontakte zu Familie und Freunden zu verlieren. Auch könne es für manch einen schwierig sein, die Arztpraxis oder andere wichtige Einrichtungen aufzusuchen. Aufhören zu fahren ist sogar ein unabhängiger Risikofaktor, ins Heim eingeliefert zu werden, schreiben die Autoren. In unserer Gesellschaft würden alte Menschen oft pauschal und leichtfertig zu Risikoteilnehmern im Strassenverkehr erklärt. Tatsächlich hätten Studien aber gezeigt, dass selbst bei Fahrern über 80 Jahre die Unfallrate nur geringfügig erhöht ist. Doch wie steht es um Demenzkranke? Zahlreiche Untersuchungen zeigen nach Angaben der Autoren, dass das Unfallrisiko für diese Patienten insgesamt deutlich erhöht ist. Allerdings bleibe die Gefährdung in den ersten drei Jahren nach der Diagnosestellung oft noch auf akzeptablem Niveau.
Frühe Aufklärung des Patienten ist wichtig Im Zuge der umfassenden Aufklärung und Beratung eines neu diagnostizierten Demenzpatienten sollte immer auch die Frage der Fahrtüchtigkeit angesprochen werden. Dazu gehört, dass man dem Patienten bedeuten muss, dass seine/ihre Fahrtüch-

tigkeit mit der Zeit nachlassen wird. Dieser Hinweis sei wichtig, so die Autoren, damit sich die Betroffenen und ihre Angehörigen rechtzeitig mit der auf sie zukommenden Situation vertraut machen und nach alternativen Transportformen suchen können. Allein dieser Aspekt sei schon ein gewichtiger Grund, nicht mit der Eröffnung der Diagnose zu warten, sondern dies umgehend zu tun, meinen die Autoren. Üblicherweise halten die Alzheimer-Gesellschaften auch entsprechende Informationsblätter zum Thema Autofahren und Demenz bereit. Ärzte allerdings müssen eine sofortige Entscheidung treffen, ob der Patient noch fahrtauglich ist. Zur entsprechenden Abklärung gehört auch die Befragung der Angehörigen über das Fahrverhalten des Erkrankten: Verfährt sich der Betroffene öfter, kann er die Geschwindigkeit und Entfernungen nicht mehr richtig einschätzen? Familienmitglieder können auch einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Demenzkranken helfen zu akzeptieren, dass es nicht länger sinnvoll ist, sich ans Steuer zu setzen. Allerdings sollten Ärzte sich darüber im Klaren sein, dass Angehörige durchaus Motive haben können, die tatsächliche Situation zu bagatellisieren oder auch zu dramatisieren.
Die üblichen Tests helfen nicht weiter In Grossbritannien muss die zuständige Behörde, die Driver and Vehicle Licensing Agency, darüber informiert werden, wenn eine Demenz (oder eine andere die Fahrtüchtigkeit potenziell beeinträchtigende Krankheit) diagnostiziert wird. Die Behörde verlangt dann vom behandelnden Arzt ein ärztliches
Merksätze
■ Viele Demenzkranke sind im Frühstadium der Erkrankung noch in der Lage ein Fahrzeug zu führen. Ganz grob kann davon ausgegangen werden, dass nach der Diagnosestellung noch bis zu drei Jahre die Fahrtüchtigkeit besteht. Regelmässige Evaluationen sind aber notwendig.
■ Die zuständigen Behörden müssen zwingend über eine Demenzerkrankung in Kenntnis gesetzt werden.
■ Tests, welche die Kognition prüfen, sind nicht geeignet zuverlässige Aussagen über die Fahrtüchtigkeit zu treffen.

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FA H RT Ü C H T I G K E I T B E I D E M E N Z

KOMMENTAR
Dr. med. Christian Meyer
Fahrtüchtigkeit bei Demenz
Seit vielen Jahren ist es in der Schweiz das obligatorisch, dass alle über 70-Jährigen der Gruppe 3 eine periodische ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen müssen. Diese erfolgt primär durch den Hausarzt; kann er den Fall nicht abschliessend beurteilen, zieht er einen Spezialisten bei.
Grundsätzlich ist bei der Untersuchung folgende Unterscheidung zu treffen: ■ gesunde Senioren (ab 70 Jahre), keine Einschränkung der Fahrtaug-
lichkeit (betrifft ca. 80% der Probanden) . ■ gesunde Hochbetagte (80 bis 85 Jahre) ohne Demenz, aber alters-
bedingt reduzierte Aufmerksamkeit, kognitive Verlangsamung, Einschränkung im Bewegungsbereich. Diese Probanden haben heute oft Mühe im Strassenverkehr, setzen sich nicht mehr so oft ans Steuer und verzichten häufig selbstständig auf den Führerausweis. ■ kranke Probanden mit kognitiven Defiziten.
Die Gruppe mit kognitiven Defiziten bereitet erfahrungsgemäss die grössten Probleme in der Praxis. Der Übergang zur Demenz ist fliessend. Der Originalartikel im «British Medical Journal» macht leider keine saubere Abgrenzung zur Demenz — was neuropsychologisch durchaus möglich ist —, nur so kann ich es mir erklären, dass die Autoren davon sprechen, dass die Unfallgefährdung in den ersten 3 Jahren nach der Diagnosestellung einer Demenz sich noch auf einem akzeptablen Niveau befinde.
Wird bei uns eine Demenz festgestellt (dies muss nicht unbedingt nur die Senioren betreffen, bekanntlich kann der M. Alzheimer schon mit 40 Jahren beginnen), dann ist die Fahrtauglichkeit nicht mehr gegeben. Jahrzehntelanges unfallfreies Fahren oder Mobilitätswünsche wie in England sind keine stichhaltigen Gründe davon abzurücken.
Dass die üblichen Testuntersuchungen in der Praxis (vor allem der Mini Mental State), mit denen die Kognition überprüft wird, für sich allein keine zuverlässigen Rückschlüsse über das Verhalten im Strassenverkehr zulassen, ist sicher richtig. Nach unserer Erfahrung bringt immerhin der Uhrentest noch die brauchbarsten Informationen, auch wenn er allein nicht genügt.
Eine obligatorische Meldung einer kognitiven Störung oder eben einer manifesten Demenzerkrankung an die zuständige Behörde wie es die Engländer tun, ist in der Schweiz nicht vorgesehen und widerspricht in gewisser Weise auch unserem Rechtsempfinden. Der Hausarzt redet zuerst mit dem Patienten und seinen Angehörigen, genügt dies nicht, wird er eine spezialärztliche Untersuchung anordnen. Bei Uneinsichtigkeit besteht immer noch die Möglichkeit einer Meldung an die Behörde ohne Verletzung des Arztgeheimnisses. Dies kommt selten vor, in 30 Jahren Praxis musste ich erst einmal davon Gebrauch machen. ■

Tabelle: Richtlinien der Driver and Vehicle Licensing Agency für Menschen mit Erkrankungen, die die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen können (Auswahl)
Alter ■ Der Führerschein ist in Grossbritannien normalerweise bis zum
70. Lebensjahr gültig, sofern keine medizinischen Gründe dagegen sprechen.
■ Im 70. Lebensjahr muss eine Bestätigung der Fahrtüchtigkeit vorgelegt werden.
■ Die Fahrerlaubnis wird dann jeweils für maximal weitere 3 Jahre erteilt.
Demenz ■ Die Agency muss über eine Demenzdiagnose in Kenntnis gesetzt
werden.
■ Im frühen Krankheitsstadium, wenn die Fähigkeiten zum Führen eines Autos ausreichend erhalten sind und die Erkrankung langsam fortschreitet, kann die Fahrerlaubnis für jeweils ein weiteres Jahr erteilt werden.
■ Patienten mit schlechtem Kurzzeitgedächtnis, Desorientiertheit und mangelhafter Urteilsfähigkeit sind nicht mehr fahrtauglich.
■ Die Entscheidung über die Fahrtüchtigkeit fällt meist anhand medizinischer Gutachten.

Gutachten. Oft überweisen die Hausärzte ihre an Demenz er-

krankten Patienten zu diesem Zweck an einen Spezialisten,

also an einen Psychiater, Geriater oder Neurologen. Je nach-

dem wie die ärztliche Expertise ausfällt, spricht die Behörde

dann die Fahrerlaubnis zunächst für ein Jahr aus, oder sie ent-

zieht die Fahrerlaubnis. Sie kann auch eine Fahrprüfung ver-

langen, die auf einer speziellen Teststrecke durchgeführt wird.

Dieses Verfahren gilt in Grossbritannien als der beste Beurtei-

lungsmassstab. Die Erfahrungen zeigen, dass Demenzkranke

normalerweise Defizite im Fahrverhalten aufweisen, aller-

dings, so betonen die Autoren, gebe es eine bedeutende Min-

derheit, die noch auf einem akzeptablen Niveau ihren PKW

führen kann. Die üblichen Tests, mit denen die Kognition über-

prüft wird, lassen keine zuverlässigen Rückschlüsse über das

Verhalten im Strassenverkehr zu. Das gilt auch für den Mini-

Mental-State-Examination-(MMSE-)Test. Auch aufgrund feh-

lender Tests sei es eine grosse Herausforderung für den Arzt,

trefflich zwischen dem Mobilitätswunsch des Patienten und

den Sicherheitsbedürfnissen abzuwägen.

Patienten mit Demenz sind in Grossbritannien auch verpflich-

tet ihre Kfz-Versicherungsgesellschaft von der Diagnose zu

informieren. Wenn die Fahrerlaubnis weiterhin (befristet) er-

teilt wird, sollten die Demenzkranken nicht anders eingestuft

werden als gesunde Versicherungsnehmer.

David A. Breen, et al.: Driving and dementia. BMJ 2007; 334: 1365—1369.

Interessenkonflikte: keine deklariert

Uwe Beise

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