Transkript
FORTBILDUNG
ASS zur Primärprävention kardiovaskulärer Krankheiten
Die aktuellen Empfehlungen der U.S. Preventive Services Task Force
Die U.S. Preventive Services Task Force erarbeitet in
den USA regelmässig Empfehlungen zur Primärpräven-
tion verschiedener Krankheiten. Kürzlich hat sie ihre
Empfehlungen zur Einname von Acetylsalicylsäure
(ASS) zur Prävention kardiovaskulärer Krankheiten
aktualisiert.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
ASS (Aspirin Cardio® 100/300 und Generika) hat seit Langem einen festen Platz in der sekundären Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen. Inwieweit der Thrombozytenaggregationshemmer auch zur Primärprävention geeignet ist, darüber gingen die Meinungen lange Zeit teilweise auseinander. Die Resultate von grossen randomisierten Studien hatten zwar gezeigt, dass die regelmässige Einnahme von ASS das Herzinfarktrisiko senkt, ob sich aber Schlaganfälle verhindern lassen, blieb ebenso umstritten wie die Frage, ob ASS die kardiovaskulär bedingte Mortalität senkt. Vor allem fehlten lange Zeit verlässliche Daten von Frauen, deren Anteil in früheren Studien ziemlich gering war. Das änderte sich im Jahr 2004 mit dem Erscheinen der Women’s Health Study (WHS). An ihr nahmen fast 40 000 gesunde Frauen im Alter ab 45 Jahren teil (Durchschnittsalter: 55 Jahre). Die Ergebnisse (siehe Kasten) fielen etwas unerwartet aus: Die Einnahme von 100 mg ASS jeden zweiten Tag konnte die Zahl kardiovaskulärer Ereignisse insgesamt nicht signifikant reduzieren. Positiv fiel jedoch auf, dass die Zahl der Schlaganfälle unter ASS signifikant verringert wurde, was vor allem auf die Verhinderung ischämischer Insulte zurückzuführen war, während hämorrhagische Schlaganfälle geringfügig, aber statistisch nicht signifikant häufiger auftraten. Die U.S. Preventive Services Task Force hat ihre Empfehlungen nun der neuen Erkenntnislage angepasst – mit dem Resultat, dass ASS bei Männern und Frauen empfohlen wird, aber zur Prävention verschiedener Krankheiten und in einem je verschiedenen Lebensalter. Und so lauten die Empfehlungen:
1. Gesunde Männer zwischen 45 und 79 Jahren können durch regelmässige Einnahme von ASS ihr Infarktrisiko senken. Der Nutzen überwiegt das potenzielle gastrointestinale Blutungsrisiko insgesamt deutlich. Allerdings muss stets eine individuelle Bewertung erfolgen. Dabei gilt es, das jeweilige koronare Risiko zu bestimmen. Dieses bemisst sich an verschiedenen Risikofaktoren, wie Alter, Diabetes, Gesamtcholesterin, HDL-Cholesterin, Bluthochdruck und Rauchen. Für die Berechnung existieren Kalkulatoren, die beispielsweise unter http://healthlink.mcw. edu/article/923521437.html einsehbar sind. Das ermittelte Risiko sollte nach Meinung der Task-Force dann gegen das individuelle Blutungsrisiko abgewogen werden. Dabei, so betonen die Autoren, könne die subjektive Sicht des Patienten eine andere sein als die des Arztes. So sei es denkbar, dass selbst ein Mann mit eher geringem Infarktrisiko ASS einnehmen möchte, da er sich vor einem Infarkt mehr fürchtet als vor einer allfälligen Blutung. Der umgekehrte Fall sei genauso denkbar. Vonseiten des Arztes sollte die Therapie aber nur aktiv propagiert werden, wenn das Nutzen-Risiko-Verhältnis eindeutig für die Behandlung spricht (Tabelle). Für die Behandlung von Männern unter 45 Jahren gibt es laut Task-Force keine Evidenz.
2. Bei Frauen im Alter zwischen 55 und 79 Jahren ist die Einnahme von ASS zur Schlaganfallprävention geeignet – ebenfalls auf der Basis einer Nutzen-Risiko-Abwägung. Risikofaktoren für einen Schlaganfall sind das Lebensalter,
Merksätze
■ Die primärpräventive Einnahme von ASS reduziert das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, wobei Geschlechterunterschiede zu beachten sind: Männer verringern ihr Herzinfarktrisiko, Frauen ihr Schlaganfallrisiko.
■ ASS erhöht aber das Blutungsrisiko. Ob die primärpräventive Einnahme von ASS im Einzelfall sinnvoll ist, hängt vom jeweiligen Krankheits- und Blutungsrisiko ab und muss individuell abgewogen werden, meint die US-amerikanische Task-Force.
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FORTBILDUNG
Tabelle: Verhinderte Herzinfarkte und zu befürchtende Blutungen nach 10 Jahren Aspirineinnahme (bei einer hypothetischen Kohorte von 1000 Männern)
Variable
10-Jahres-KHK-Risiko 1% 2% 3%
Verhinderte Herzinfarkte (pro 1000 Männer), n 45—59 Jahre 60—69 Jahre 70—79 Jahre
3,2 3,2 3,2 6,4 6,4 6,4 9,6 9,6 9,6
Das Blutungsrsiko steigt – auch unabhängig von der Aspirineinnahme – mit dem Alter an. Andere Faktoren sind Ulkuskrankheit und die Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR). Die gleichzeitige Einnahme von NSAR und ASS vervierfacht das Risiko schwerer Blutungskomplikationen im Vergleich zu ausschliesslicher ASSEinnahme. Bei Frauen ist das Blutungsrisiko bis zu dreimal erhöht, wenn sie bereits früher einmal eine Magen-Darm-Blutung erlitten haben.
4%
12,8 12,8 12,8
In welcher Dosis soll ASS eingenom-
5%
16 16 16
men werden?
6%
19,2 19,2 19,2
Die optimale ASS-Dosis zur Primärpräven-
7%
22,4 22,4 22,4
tion kardiovaskulärer Krankheiten konnte
bislang nicht ermittelt werden. In den ein-
8%
25,6 25,6 25,6
schlägigen Studien konnte die Wirksamkeit
9%
28,8 28,8 28,8
in unterschiedlichen Dosierungen nach-
10%
32 32 32
gewiesen werden, so zum Beispiel mit 75
11%
35,2 35,2 35,2
oder 100 mg pro Tag sowie mit 100 oder
12%
38,4 38,4 38,4
325 mg jeden zweiten Tag. Wahrscheinlich
sind 75 mg/Tag so wirksam wie höhere
13%
41,6 41,6 41,6
Dosierungen, während das Blutungsrisiko
14%
41,8 41,8 41,8
wohl bei höheren Dosierungen steigt, meint
15%
48 48 48
die Task-Force.
16% 51,2 51,2 51,2
Wie hoch ist der therapeutische
17%
54,4 54,4 54,4
Nutzen?
18%
57,6 57,6 57,6
Die Task-Force beziffert den Nutzen auf der
19%
60,8 60,8 60,8
Basis der verfügbaren randomisierten und
20%
Art des Vorfalls gastrointestinale Blutung
64 64 64 Komplikationen (geschätzt), n
8 24 36
kontrollierten Studien wie folgt: 118 Männer müssen über 5 Jahre ASS einnehmen, damit ein Myokardinfarkt verhindert wird. 350 Männer müssen ASS über 5 Jahre einnehmen, damit eine Blutung hervorgerufen
hämorrhagischer Schlaganfall
1
1
1
wird. Allerdings variieren diese Zahlen je
nach individuellen Risiken deutlich. Ein Bei-
Die angenommene Zahl der verhinderten Herzinfarkte ist abhängig vom bestehenden kardiovaskulären
spiel: Bei 1000 Männern unter 60 Jahren mit
Risiko. Das Blutungsrisiko steigt mit dem Lebensalter (spezielle Blutungsrisiken nicht berücksichtigt). In dem rosa hinterlegten Bereich sind die Risiken der Aspirineinnahme (annähernd) so hoch wie der mutmassliche Nutzen. Eine Therapie ist hier also nicht zu empfehlen. Die Berechnungen basieren auf folgenden Annahmen: 32-prozentige Risikoreduktion eines Herzinfarkts durch ASS, steigendes Blutungsrisiko mit dem Alter, darüber hinaus kein erhöhtes Blutungsrisiko (z.B. durch NSAR-Einnahme)
einem 6-prozentigen 10-Jahres-Infarktrisiko kann die Aspirineinnahme 10 Infarkte verhindern, während 8 schwere Blutungen zu befürchten sind. Die Number Needed to Treat (NNT) bei Frauen stellt sich allgemein
wie folgt dar: 417 Frauen müssen 5 Jahre
ASS einnehmen, um einen ischämischen
Schlaganfall zu verhindern, 392 Frauen
ein erhöhter Blutdruck, Diabetes, Rauchen und eine beste- müssten ASS einnehmen, um eine Blutung zu erleiden. Auch
hende Herz-Kreislauf-Krankheit. Zur Einschätzung des hier ist die individuelle Situation entscheidend. Dazu ebenfalls
Schlaganfallrisikos gibt es verschiedene Kalkulatoren, die ein Rechenbeispiel: Bei 1000 Frauen jünger als 60 Jahre und
beispielsweise (in deutscher Sprache) unter www.bnk.de/ mit einem 10-Jahres-Schlaganfallrisiko von 6 Prozent können
transfer/stroke.htm einzusehen sind. Die Einnahme von durch ASS 10 Schlaganfälle verhindert werden, zugleich wer-
ASS sollte vom Arzt nur empfohlen werden, wenn der Nut- den 4 Blutungen hervorgerufen (sofern kein erhöhtes Blu-
zen die Risiken klar überwiegt.
tungsrisiko besteht).
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ASS Z U R P R I M Ä R P R Ä V E N T I O N K A R D I OVAS KU L Ä R E R K RA N K H E I T E N
Women’s Health Study in Stichworten
Studiendesign: randomisierte kontrollierte Multizenterstudie, Verlaufsbeobachtung 10 Jahre
Teilnehmerinnen: 40 000 gesunde Frauen im Alter über 45 Jahre ohne Anamnese von koronaren und zerebrovaskulären Erkrankungen, Tumoren oder anderen chronischen Krankheiten
Ausschlusskriterien: ■ Medikation mit Kortikosteroiden, NSAID oder Antikoagulanzien ■ regelmässige Nahrungsergänzung mit Vitamin A, E oder Beta■ Karotin
Intervention: täglich abwechselnd 100 mg ASS oder Vitamin E; Kontrollgruppe: Plazebo
Endpunkte: ■ primärer Endpunkt: Gesamtzahl schwerer kardiovaskulärer ■ Ereignisse (nicht fataler Myokardinfarkt, nicht fataler Hirn■ schlag oder kardiovaskulär bedingter Todesfall) ■ sekundärer Endpunkt: tödlicher und nicht tödlicher Myokard■ infarkt oder Hirnschlag, ischämischer oder hämorrhagischer ■ Hirnschlag oder kardiovaskulär bedingte Mortalität
Resultate: ■ Bei 999 Frauen trat ein kardiovaskuläres Ereignis auf, bei 477 ■ in der Interventionsgruppe, bei 522 in der Plazebogruppe. ■ Der primäre Endpunkt wurde in der Interventionsgruppe um ■ 9% seltener erreicht (nicht signifikant). ■ Das Risiko für einen nicht tödlichen Schlaganfall und die ■ Gesamtzahl der Schlaganfälle konnten unter ASS signifikant ■ reduziert werden. ■ Diese Risikoreduktion war vom ersten Jahr an sichtbar und ■ über die Studiendauer konsistent. ■ Zwischen beiden Gruppen traten keine Unterschiede in Bezug ■ auf das Herzinfarktrisisko auf. ■ Weder Vitamin E noch Beta-Karotin beeinflussten das Ergebnis. ■ In einer Subgruppenanalyse bei Frauen über 65 Jahre konnte ■ unter ASS eine signifikante Reduktion des primären End■ punkts dokumentiert werden. ■ Die Nebenwirkungen, insbesondere gastrointestinale Blutungen ■ und Ulkus, waren in der Interventionsgruppe (127) signifikant ■ häufiger als in der Plazebogruppe (91).
65 Jahre gewesen, 76 Prozent hätten keinen oder nur einen
kardialen Risikofaktor aufgewiesen. Das kardiovaskuläre
10-Jahres-Risiko habe nur 2,6 Prozent betragen. Betrachte
man die über 65-Jährigen, so sei auch in der WHS das Herz-
infarktrisiko in dieser Gruppe deutlich um 26 Prozent gesenkt
worden. Insgesamt, so die Auffassung von Mehta, würde ASS
primärpräventiv noch zu selten eingesetzt. Daran dürften die
neuen Empfehlungen seiner Meinung nach einiges ändern:
«Die Umsetzung der USPSTF-Empfehlungen in die tägliche
ärztliche Praxis wird die Anwendung von ASS zweifellos er-
höhen und jedes Jahr viele tausend kardiovaskuläre Ereig-
nisse verhindern.»
■
U.S. Preventive Services Task Force: Aspirin for the prevention of cardiovascuar disease: U.S. preventive services task force recommendation statement. Ann Intern Med 2009; 150: 396—404. Shamir R Mehta: Aspirin for prevention and treatment of cardiovascular disease. Ann Intern Med 2009; 150: 414—416.
Interessenkonflikte: Die Autoren geben keine Interessenkonflikte an.
Uwe Beise
In einem begleitenden Editorial setz Shamir R. Mehta von der McMaster-Universität in Ontario (Kanada) ein Fragezeichen hinter die Interpretation der Women’s Health Study. In die Studie seien Frauen mit relativ geringem Krankheitsrisiko eingeschlossen worden, sodass ein günstiger kardioprotektiver Effekt von ASS womöglich verschleiert worden sein könnte. So seien beispielsweise nur 10 Prozent der Frauen älter als
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