Transkript
FORTBILDUNG
Wenn das prämenstruelle Syndrom zur Last wird
Depressive Verstimmung, Angst, Reizbarkeit und somatische Beschwerden kennzeichnen die prämenstruelle dysphorische Störung
Die meisten Frauen im gebärfähigen Alter leiden in
den Tagen vor der Menstruation an körperlichen Be-
schwerden wie Berührungsempfindlichkeit der Brüste
und Blähungen oder an psychischen Symptomen.
Meist sind die Beschwerden mild. Frauen mit starker
Beeinträchtigung durch ein prämenstruelles Syndrom
benötigen eine medikamentöse Therapie.
THE LANCET
In der prämenstruellen Phase des Menstruationszyklus nehmen fast alle Frauen ein oder mehrere emotionale oder körperliche Symptome bei sich wahr. Bei ungefähr 5 bis 8 Prozent sind die Symptome des prämenstruellen Syndroms (PMS) so ausgeprägt, dass sie die Alltagsaktivitäten einschränken und zu psychosozialen Auswirkungen führen. Bei klinisch signifikanten PMS-Formen spricht man auch von «prämenstrueller dysphorischer Störung» (premenstrual dysphoric disorder, PMDD). Bei PMDD werden folgende Veränderungen beobachtet: 1. Depressive Stimmung oder Dysphorie 2. Angst oder Anspannung 3. Affektlabilität 4. Reizbarkeit 5. geringeres Interesse an üblichen Aktivitäten 6. Konzentrationsschwierigkeiten 7. ausgeprägter Mangel an Energie 8. deutliche Veränderungen des Appetits, übermässiges
Essen, Heisshunger auf bestimmte Lebensmittel 9. Hypersomnie oder Insomnie 10. Gefühl der Überforderung 11. andere körperliche Symptome wie Spannungsgefühl in
der Brust und Blähungen
Von den Symptomen 1 bis 4 muss mindestens eines vorliegen. Typischerweise führen die PMDD-Symptome zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, in der Schule, bei sozialen Aktivitäten oder in der Beziehung.
Die Symptome können nur wenige Tage oder bis zu zwei Wochen anhalten, schreiben Kimberley Ann Yonkers und Kollegen in «The Lancet». Ungefähr zwei Tage vor dem Einsetzen der Regelblutung sind die Beschwerden am stärksten ausgeprägt. Per definitionem muss vor der nächsten Ovulation ein symptomfreies Intervall vorliegen. Im Allgemeinen klagen die betroffenen Frauen in jedem Zyklus über die gleichen Symptome.
Ätiologie und Pathophysiologie Dass zwischen dem Auftreten der Symptome und dem Menstruationszyklus ein eindeutiger Zusammenhang besteht, deutet darauf hin, dass Sexualhormone in der Pathophysiologie des PMS eine Rolle spielen. Dafür spricht auch, dass in anovulatorischen Zyklen, nach Ovarektomie oder unter der Behandlung mit Ovulationshemmern keine PMS-Symptome auftreten. Doch scheint das PMS nicht durch abnorme Konzentrationen an Sexualhormonen hervorgerufen zu werden, vielmehr werden die Beschwerden durch fluktuierende Hormonspiegel getriggert. Der Unterschied zwischen Patientinnen und Kontrollpersonen besteht lediglich darin, dass Patientinnen auf diese Hormonfluktuationen empfindlicher reagieren. Da psychische Symptome zu den typischen PMS-Beschwerden zählen, ist anzunehmen, dass sich beim PMS Veränderungen im Gehirn abspielen. Tatsächlich passieren Sexualhormone die Blut-Hirn-Schranke, und viele Hirnregionen, die für die Regulation von Emotionen und Verhalten zuständig sind, weisen zahlreiche Rezeptoren für Sexualhormone auf. Eine wichtige Rolle für die Regulation von Emotionen und Verhalten spielt
Merksätze
■ Etwa 5 bis 8 Prozent der Frauen im reproduktiven Alter leiden an einem schweren prämenstruellen Syndrom (PMS).
■ Zur Behandlung eignen sich Medikamente, welche die Ovulation unterdrücken (GnRH-Analoga, Östrogene und einige neue orale Kontrazeptiva).
■ Da beim PMS eine Störung des Serotoninstoffwechsels vorliegt, sind auch Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SRI) wirksam und werden von manchen Autoren als Mittel erster Wahl eingesetzt.
448 ARS MEDICI 11 ■ 2009
WENN DAS PRÄMENSTRUELLE PROBLEM ZUR LAST WIRD
auch der Neurotransmitter Serotonin. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass ein Serotoninentzug Verhaltensaspekte fördert, die von Sexualsteroiden abhängen, beispielsweise Aggressivität und sexuelle Aktivität. Dies weist darauf hin, dass es zu den physiologischen Aufgaben von Serotonin gehört, Verhaltensweisen zu modulieren beziehungsweise zu dämpfen, die durch Sexualsteroide gefördert werden. Dadurch scheint es plausibel, dass Serotonin in der Pathophysiologie des PMS eine Rolle spielt. Ob somatische prämenstruelle Beschwerden wie Berührungsempfindlichkeit der Brüste, Blähungen sowie Muskel- und Gelenkschmerzen auf Veränderungen in hormonempfindlichen peripheren Geweben oder auf eine verminderte Toleranz gegenüber körperlichen Beschwerden bei PMS-bedingter Dysphorie zurückzuführen sind, ist nicht geklärt.
Diagnostik Es ist wichtig, das PMS/PMDD von anderen Diagnosen abzugrenzen, insbesondere von depressiven und Angststörungen sowie von prämenstruellen Exazerbationen anderer Erkrankungen. Ob tatsächlich ein (ausgeprägtes) PMS vorliegt, findet man am besten heraus, indem man die Patientin täglich ihre Beschwerden einstufen lässt – und zwar über mindestens einen Zyklus. Sinnvoll ist es, wenn der Hausarzt die Patientin bittet, ihre am stärksten ausgeprägten Symptome auszuwählen und täglich Buch darüber zu führen, wie ausgeprägt diese Symptome sind. Alternativ kann auch eine validierte Skala verwendet werden. Das Verschwinden der Symptome nach der Menstruation bestätigt die Diagnose PMS.
Behandlung Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SRI): Die Wirksamkeit von SRI bei PMS/PMDD ist durch zahlreiche klinische Studien belegt. Die Ansprechraten lagen unter aktiver Behandlung bei 60 bis 90 Prozent, unter Plazebo dagegen bei 30 bis 40 Prozent. Folgende SRI haben sich als effektiv erwiesen: ■ das serotonerge trizyklische Antidepressivum Clomipra-
min (Anafranil®), ■ die selektiven SRI (SSRI) Citalopram (Seropram® oder Ge-
nerika), Escitalopram (Cipralex®), Fluoxetin (Fluctine® oder Generika), Paroxetin (Deroxat® oder Generika) und Sertralin (Zoloft® oder Generika) ■ sowie der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin (Efexor®).
SRI bessern sowohl psychische als auch somatische Beschwerden, sie bessern Lebensqualität und soziale Funktionen. Viele Autoren sind der Ansicht, dass SRI bei PMS-Patientinnen mit schweren psychischen Symptomen als Mittel erster Wahl eingesetzt werden sollten. Die Wirkung von SRI beim PMS scheint nicht nur auf antidepressiven Effekten zu beruhen. Dafür spricht auch, dass die Wirkung von SRI bei PMS rasch eintritt, während der antidepressive Effekt verzögert einsetzt. Aufgrund des raschen Wirkungseintritts ist es möglich, SRI bei PMS intermittierend
einzusetzen, also von der Mitte des Zyklus bis zum Einsetzen
der Menstruation. Selbstverständlich können PMS-Patientin-
nen auch kontinuierlich mit SRI behandelt werden. SRI sind in
den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien zur Behand-
lung der PMDD zugelassen, nicht jedoch in Europa.
Hormonelle Interventionen: Da Sexualhormone prämenstru-
elle Symptome triggern, liegt es nahe, das PMS hormonell zu
behandeln. Doch geht es nicht darum, eine hormonelle Ano-
malie zu korrigieren, vielmehr müssen die normalen zykli-
schen Vorgänge der Hypothalamus-Hyphophysen-Ovar-Achse
unterbrochen werden, welche die Symptome triggern. Das
kann durch einen lang wirksamen GnRH-Agonisten erreicht
werden. Diese Substanzen sind zwar sehr effektiv, doch führen
sie zu einer «medikamentösen Menopause», die mit Wechsel-
jahrsbeschwerden einhergeht und bei Dauertherapie zu Osteo-
porose führen kann. Schuld an diesen Symptomen ist der
Östrogenmangel, der durch einen Östrogenersatz verhindert
werden kann. Allerdings muss gleichzeitig ein Gestagen ge-
geben werden, um eine östrogeninduzierte Endometrium-
hyperplasie zu verhindern. Eine vielversprechende Alternative
besteht darin, einen GnRH-Agonisten mit Tibolon (Livial®) zu
kombinieren, einem synthetischen Östrogen-, Gestagen- und
Androgenrezeptoragonisten.
Die Gabe von Östrogen in Dosen, welche die Ovulation unter-
drücken, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, PMS-Sym-
ptome wirksam zu beseitigen. Meist wird nicht die orale App-
likation empfohlen, sondern ein Östrogenpflaster oder ein sub-
kutanes Implantat. Die erforderliche Dosierung ist meist höher
als bei der Hormonersatztherapie, aber niedriger als bei oralen
Kontrazeptiva. Bei Hormonpflastern können 100, 150 oder
200 µg erforderlich sein. Um eine Endometriumhyperplasie zu
vermeiden, benötigen Patientinnen, die keine Hysterektomie
hinter sich haben, ein Gestagen.
Viele Ärzte setzen zur Behandlung des PMS orale Kontrazep-
tiva ein, aber hierzu gibt es nur wenige plazebokontrollierte
Studien, und die meisten fielen negativ aus. Frauen, die orale
Kontrazeptiva einnehmen, können während der siebentägigen
hormonfreien Phase mehr Symptome aufweisen. Deshalb
kann es günstig sein, orale Kontrazeptiva zu verordnen, die
nur wenige hormonfreie Tage erforderlich machen. So belegen
Studien, dass ein neues orales Kontrazeptivum, bei dem nur
vier (statt sieben) hormonfreie Tage vorgesehen sind, wirksam
ist. Die therapeutische Wirkung dieses Medikaments beruht
möglicherweise zum Teil auf seiner Gestagenkomponente,
dem Drospirenon (Yaz®), das Antialdosteron- und Antiandro-
geneffekte entfaltet.
■
K.A. Yonkers (Departments of Psychiatry, Epidemiology and Public Health and Obstetrics and Gynecology and Reproductive Science, Yale School of Medicine) et al.: Premenstrual syndrome. Lancet 2008; 371: 1200–1210.
Interessenkonflikte: Die Autoren geben Verbindungen zu verschiedenen Pharmafirmen an, für die sie beratend tätig sind bzw. von denen sie Forschungsstipendien oder Referentenhonorare erhalten.
Andrea Wülker
ARS MEDICI 11 ■ 2009 449