Transkript
STUDIE REFERIERT
Silibinin bei KnollenblätterpilzVergiftung
Vergleich zwischen Silibinin-Monotherapie und der Kombination mit Penicillin
In einer retrospektiven Auswertung konnten Letalität und Lebertransplantationsbedarf bei Patienten mit der Verdachtsdiagnose Knollenblätterpilz-Vergiftung unter Monotherapie mit Silibinin (Legalon® SIL) und in der Kombination mit Penicillin beurteilt werden.
Methodik Diese retrospektive Studie umfasste 604 Patienten, die zwischen 1957 und 2005 in 92 unterschiedlichen Spitälern in 11 Ländern wegen der Verdachtsdiagnose Knollenblätterpilz-Vergiftung stationär behandelt worden waren. Für die Diagnose wurden entweder gastroenterale Symptome mit typischer Latenz oder ein positiver Amatoxinnnachweis vorausgesetzt. Die Autoren versuchten bei ihrer retrospektiven Auswertung, der langen Beobachtungsperiode sowie möglichst vielen patienten- und behandlungsspezifischen Parametern auch statistisch Rechnung zu tragen.
DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
Als «Gegengift» bei der gefürchteten Vergiftung mit Amatoxinen aus Knollenblätterpilzen sind historisch schon sehr viele verschiedene Therapieprinzipien zum Einsatz gekommen, geblieben sind lediglich N-Acetylcystein (Fluimucil® 10%/20%, Solmucol® 10%), Penicillin sowie das aus Mariensilberdisteln stammende Silibinin. Nach ersten vielversprechenden Ergebnissen wurde Silibinin als Antidot während einiger Zeit konsequent in Kombination mit Penicillin verabreicht, bis klar wurde, dass beide Komponenten einen gleichen Wirkmechanismus – nämlich die Hemmung der (Wieder-)Aufnahme von Amatoxinen in die Leberzellen – besitzen und dass Silibinin weitaus verträglicher war als die damals empfohlene Dosierung von 1 Mio. E/kg KG Penicillin pro Tag.
Resultate In der Kombinationstherapiegruppe betrug der Anteil verstorbener oder transplantierter Patienten 8,8 Prozent, unter Silibinin allein nur 5,1 Prozent. Das Risiko für das Auftreten von Todesfällen oder Lebertransplantationen war entsprechend in der Monotherapiegruppe um etwa 40 Prozent vermindert (adjustierte Odds Ratio [OR] 0,58; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,21–1,57; p = 0,28). Für die Untergruppe der Patienten mit längeren Latenzzeiten bis zum Auftreten schwerer Symptome (d.h. > 12 h) konnte sogar eine signifikante Risikoreduktion errechnet werden. Ein späterer Beginn der Silibininbehandlung war tendenziell mit häufigeren Todesfällen und Transplantationen assoziiert (adjustierte OR 3,0; 95%-KI 0,96–9,20; p = 0,059).
Diskussion Bei den insgesamt 118 Patienten, die eine Silibinin-Monotherapie erhielten,
war ein beachtlich besseres Ergebnis zu beobachten, schreiben die Autoren. Um den hier verzeichneten Therapieeffekt statistisch abzusichern, wäre allerdings eine Fallzahl von mindestens 630 notwendig gewesen, wie eine Poweranalyse ergab. «Bei der multivariablen Analyse von Faktoren, die unabhängig von der Therapieform den Verlauf einer Knollenblätterpilz-Vergiftung möglicherweise beeinflussen, konnten für das Geschlecht und Alter der Patienten, den Beginn der Silibinin- und Penicillintherapie sowie das Jahr der Vergiftung letztlich keine statistisch signifikanten Assoziationen bezüglich des Sterbe- und Transplantationsrisikos nachgewiesen werden», schreiben die Autoren und wagen folgenden Schluss: «Die Grösse des Risikounterschiedes zwischen Patienten mit einem Behandlungsbeginn der Silibinintherapie innerhalb und nach 24 Stunden erscheint als ein Hinweis auf die Wirksamkeit des Silibinins in der Therapie der Amatoxinvergiftung.» Die Latenzzeit der Symptome (≤ 12 h bzw. > 12 h) erschien als unabhängiges Kriterium für einen klinisch ungünstigen Verlauf (Exitus oder Lebertransplantation). Ist sie kurz (12 h oder weniger), ist das Letalitäts- beziehungsweise Transplantationsrisiko signifikant um mindestens den Faktor 1,8 erhöht. Diese Daten bestätigen früher erhobene an deutlich kleineren Patientenkollektiven. Die Autoren suchen nach Erklä-
Merksätze
■ Bei hospitalisierten Patienten mit der Verdachtsdiagnose Knollenblätterpilz-Vergiftung war retrospektiv unter Monotherapie mit Silibinin im Vergleich zur SilibininPenicillin-Kombinationstherapie eine geringere Sterbe- und Transplantationsrate zu beobachten; eine Überlegenheit liess sich aber statistisch nicht belegen.
■ Die Latenzzeit war bei Amatoxinvergiftung ein unabhängiger Prognosefaktor.
468 ARS MEDICI 11 ■ 2009
STUDIE REFERIERT
Aktuelle Therapieempfehlungen bei Knollenblätterpilz-Vergiftung
■ Supportive Massnahmen: grosszügige Flüssigkeitszufuhr, Ziel: Urinvolumen von 2—6 ml/kg/h; Verlegung auf Intensivstation, Kontakt mit Hepatologen und Toxikologen
■ Primäre Darmdekontamination: Magenspülung, Gabe von Aktivkohle, 50—100 g, evtl. Darmspülung oder hoher Einlauf
■ Antidottherapie: Silibinin, 5 mg/kg KG, 4 × tgl. i.v. über 2 h, für 3 bis 5 Tage und N-Acetylcystein 140 mg/kg KG i.v., dann 70 mg/kg KG alle 4 h i.v.
■ Sekundäre Darmdekontamination: bei spontanem Erbrechen: Duodenalsonde, Absaugen der Galle; bei fehlendem Erbrechen: Duodenalsonde oder wiederholte Gabe von Aktivkohle; bei schwerem Verlauf ohne Erholung: Lebertransplantation
(nach Benjamin Misselwitz et al.: Amanita-phalloides-Vergiftung: Indikation zur Lebertransplantation? Schweiz Med Forum 2007; 7: 49—54)
rungen für die von ihnen beobachtete Überlegenheit der Silibinin-Monotherapie. Sie erwähnen drei bekannte Wirkmechanismen von Silibinin: Blockierung
eines Transportsystems, das auch die Aufnahme von Amatoxinen in die Zelle gewährleistet, Stabilisierung der Hepatozytenmembran mit Stärkung antioxi-
dativer Schutzmechanismen sowie Be-
günstigung der Synthese gewisser Struk-
tur- und Funktionsproteine, die durch
die Vergiftung beeinträchtigt sein kön-
nen, und damit Regeneration von Trans-
portersystemen und Enzymen. Sie spe-
kulieren, dass Penicillin, wenn es vor
Silibinin eingesetzt wird, dessen Auf-
nahme in die Hepatozyten hemmt und
damit seine positiven intrazellulären
Effekte behindert.
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M. Ganzert et al.: Knollenblätterpilzvergiftung — Silibinin und Kombination von Silibinin und Penicillin im Vergleich. Dtsch med Wochenschr 2008; 133: 2261—2267. Doi 10.1055/s-00281091268.
Interessenlage: Eine Koautorin ist Mitarbeiterin der Firma Madaus, die ein Silibininpräparat (Legalon®/Legalon® SIL) anbietet. Die übrigen Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
Halid Bas
ARS MEDICI 11 ■ 2009 469